Quantcast
Channel: Interviews – SPREEZEITUNG.de
Viewing all 89 articles
Browse latest View live

Revolutionäre Verbindungstechnik – Interview mit Jürgen Leuze

$
0
0

Herr Leuze, seit nunmehr 10 Jahren behauptet sich die NovoNox KG mit dem Angebot hochwertiger Schraub- und Bedienteile inklusive einer innovativen Hygienic-Design-Linie erfolgreich am Markt.

Es stimmt, NovoNox konnte im vergangenen November bereits das zehnjährige Jubiläum feiern. Wir sind allerdings Teil einer größeren Unternehmensgruppe, die seit nahezu 100 Jahren sehr erfolgreich am Markt agiert. 2006 fiel die Entscheidung, NovoNox als Spezialist für hochwertige Komponenten und spezielle Kundenapplikationen zu separieren. Somit wurde ein weiterer Anbieter von hochwertigen Edelstahlteilen und anderen nicht korrodierenden Teilen am Markt platziert.

Welche Branchen sprechen Sie mit dem speziellen Angebot im Hygienebereich an?

Wir fokussieren uns auf Anlagenbetreiber und Anlagenhersteller in der Lebensmittelindustrie, der Pharmazie und der Medizin. Der Anlagenbauer kann mit dem Einsatz unserer Produkte geltende Hygienevorschriften und CE-Kennzeichnungen einhalten. Der Anlagenbetreiber gewinnt Produktsicherheit und Anlagenverfügbarkeit. Als willkommener Nebeneffekt gestaltet sich die tägliche Reinigung der Anlagen, die mit dem Einsatz unserer Komponenten wesentlich einfacher und sicherer wird.

Die Komponenten zeichnen sich durch höchste Qualität aus, doch was macht NovoNox darüber hinaus zu einem besonderen Anbieter?

Wir punkten durch faire und kooperative Vorgehensweisen im Umgang mit Kunden. Diese Eigenschaften wurden NovoNox praktisch mit in die Wiege gelegt. Daneben zählen Liefertreue, hohe Beratungskompetenzen und erstklassige Serviceleistungen zu unseren Stärken.

Was bedeutet dies insbesondere in Hinblick auf die von Ihnen angesprochenen Beratungskompetenzen?

Geboten wird eine sehr kompetente technische Beratung. Wir hören Kunden und Interessenten genau zu und gehen explizit auf die jeweiligen Problematiken, Anforderungen und Belange im Unternehmen unserer Kunden ein. Aufgrund unserer langjährigen Erfahrungen aus dem Maschinen- und Anlagenbau können wir uns bestens in die Aufgabenstellungen der Kunden hineindenken. Daraus resultieren praktikable Lösungen, durch deren Umsetzung alle Beteiligten den gesteckten Zielen näher kommen.

Speziell für NovoNox möchte ich zudem die außerordentliche Innovationsfreudigkeit hervorheben. Sie führte zu unseren Neuentwicklungen im Bereich Hygienic Design und schließlich auch zu der sehr erfolgreichen Kooperation mit Freudenberg Sealing Technologies. Hieraus resultieren spezielle Produkte nach Hygienic USIT®. Dabei handelt es sich um neuartige Dicht- und Unterlegscheiben von Freudenberg mit speziell abgestimmten Schraubsystemen von NovoNox, die zu einer revolutionären und einzigartigen Dichtungs- und Verbindungstechnik aus einem Guss führen.

Im Kampf gegen Keime und Partikel spielen Komponenten nach Hygienic USIT® inzwischen eine herausragende Rolle. Worum geht es bei den Sonderapplikationen?

NovoNox war schon immer ein Spezialist für Sonderteile. Auch heute noch trägt dieser Sektor nicht unerheblich zum Gesamtumsatz bei. Die Kooperation mit Freudenberg entstand vor etwa fünf Jahren, als Freudenberg eine neuartige, hygienische Dichtung auf den Weg brachte, während am Markt damals jedoch keine hierfür optimierte Schraube bzw. Mutter zur Verfügung stand. Speziell zur Dicht- und Unterlegscheibe Hygienic USIT® von Freudenberg entwickelte NovoNox dann ein optimal darauf abgestimmtes Schraubsystem. Werden beide Produkte miteinander kombiniert, steht für den hygienesensiblen Bereich erstmals ein Schraub- und Dichtsystem zur Verfügung, dass allen in diesem Bereich gestellten Anforderungen absolut gerecht wird.

Welche Eigenschaften führen beim maschinellen Einsatz zur bestmöglichen Erfüllung der gewünschten, hohen Hygieneanforderungen?

Dazu führen eine Reihe an Kriterien: So muss der Bund der Schraube eine bestimmte geometrische Form und Abmessungen aufweisen, welche die 100%ige Funktionsweise der Dichtung sicherstellt. Die Oberfläche des Schraubsystems garantiert zudem, dass die Dichtung mit dem Anziehen der Schraube ungehindert nach außen fließen kann. Last but not least ist es erforderlich, dass die komplette Geometrie den geltenden Richtlinien der EHEDG sowie Gesetzgebung zur Einhaltung der Hygiene entspricht.

Zu den wichtigsten Anforderungen im maschinellen Bereich hygienesensibler Produktionen zählt also, absolute Dichtigkeit herzustellen?

Genau das ist die Herausforderung. Stellen Sie sich eine normale Schraubverbindung vor. Selbst bei maximal möglichem Anzugsmoment lässt sich ein Spalt an der Schraubenkopfauflage nicht verhindern. Genau an dieser Stelle sorgt die Kapillarwirkung dafür, dass Produktreste oder Reinigungsflüssigkeit regelrecht unter den Schraubenkopf gesogen werden. Sind diese Fremdstoffe erst einmal unter dem Schraubenkopf, wird das Gewinde binnen kürzester Zeit ebenso kontaminiert. Fließt im Laufe der Zeit aus einer Schraubstelle eine undefinierbare Flüssigkeit heraus und dann in den produktführenden Bereich, so kann es zu größtmöglichen Schäden bis hin zu Rückrufaktionen kontaminierter Produkte kommen.

Mit der Hygieneverschraubung von NovoNox gehören solche unerwünschten Szenarien der Vergangenheit an?

Mit dem Einsatz von Komponenten nach Hygienic USIT® lassen sich – korrekte Anwendung vorausgesetzt – solche Risiken verhindern. Die Dichtung schließt umlaufend und ist bis 150 bar druckstabil. Dies wird hauptsächlich dadurch erreicht, dass in der Dichtung gleich die Unterlegscheibe integriert ist. Mit dem Anziehen der Schraube ist somit sichergestellt, dass diese auf Block angeschraubt werden kann. Es kann das maximale Anzugsmoment aufgebaut werden, ohne dass die Dichtung hierbei überstrapaziert wird. Somit bleibt es nicht dem Zufall überlassen, wie stark eine separate Dichtung mit dem Anziehen gequetscht wird.

Hinter den Komponenten steht ein entsprechend langer und aufwändiger Entwicklungsprozess. War das ein Risiko für die NovoNox KG?

Das war es, denn keiner wusste damals, ob und wie das Produkt vom Markt angenommen wird. Wir konnten auch nicht einschätzen, ob Unternehmen mit hygienesensiblen Produktionsbereichen bereit sind für eine solche Innovation oder eventuell doch weiter auf altbewährte Systeme setzen. Wirtschaftliche Gesichtspunkte wie etwa Jahresverbräuche und Überlegungen, welche Größen und Längen der Komponenten auf Lager gelegt werden, blendeten wir zunächst einmal aus, da sie nicht einschätzbar waren. Aufgrund der enormen Vorteile für Anwender war NovoNox von dem neuen System allerdings zu 100 Prozent überzeugt und damit auch von der erfolgreichen Einführung.

Innovative Produkte werden nur sehr selten zum Selbstläufer. Wie schwierig war es, die neuartigen Edelstahlkomponenten dominant am Markt zu platzieren?

Die Marktbearbeitung war mit sehr viel Einsatz und Engagement verbunden. So wurden Musterteile zum Test angeboten, Vorführungen bei Anwendern vor Ort durchgeführt und Verantwortliche und Mitarbeiter in den Bereichen Instandhaltung und Einkauf ausführlich informiert. Bis es zu ersten beachtlichen Umsatzgrößen kam, verging fast ein ganzes Jahr. Dann aber nahm die Nachfrage umso mehr an Fahrt auf. Da die Vorteile und der Sicherheitsgewinn von diesem Schraub- und Dichtsystem erkannt wurden, hat sich das Produkt bei Anwendern inzwischen bestens etabliert. Heute gehören sowohl die kleinen Anwender wie örtliche Bäckereien, als auch namhafte Großunternehmen zu unseren Kunden. Hinzu kommt, dass die neuartigen Schraub- und Dichtsysteme nun auch in anderen Bereich eingesetzt werden, die anfangs von uns so nicht erschlossen wurden. So wird die neue ICE-Generation der Deutschen Bahn mit den speziellen Hutmuttern und der Dichtscheibe ausgestattet. Hier natürlich nicht aus hygienischen Gründen, sondern zur Bewältigung alltäglicher Aufgabenstellungen. So können zum Beispiel Abdeckungen absolut wasserdicht verschraubt werden. Damit tritt dann beispielsweise kein Kondenswasser ein, das innenliegende Bauteile korrodieren lässt.

NovoNox Sicherheitskomponenten stehen aufgrund ihrer hygienischen und totraumfreien Eigenschaften inzwischen auch auf den einschlägigen Branchenmessen im Mittelpunkt des Interesses. Ist das Bewusstsein für Keim- und Kontaminationsproblematiken in der letzten Zeit spürbar gestiegen?

Das lässt sich definitiv mit „Ja“ beantworten. Der Endkunde will Sicherheit und Anlagenverfügbarkeit, hingegen will er Rückrufaktionen unbedingt vermeiden. Daher bekommen Sicherheitsaspekte einen immer größeren Stellenwert. In den USA ist das Schraub- und Dichtsystem übrigens im Rahmen strenger Hygieneanforderungen nach USDA-Zertifizierung bereits vorgeschrieben. Daher haben wir unser Lieferprogramm sukzessive ausgebaut und bieten diesbezüglich auch Flügelgriffe, Pilzknöpfe, Bügelgriffe, Dünnschaftschrauben zur Einhaltung der EU-Norm, Klemmhebel, Kugelkopfschrauben, Hutmuttern und Stellfüße. Dichtungen gibt es zwischenzeitlich in EPDM blau und weiß und Fluoroprene XP45 blau, damit alle Anwendungsgebiete abgedeckt sind. Für sehr viele Anwendungsfälle können wir sowohl Bedienteile, als auch Befestigungsteile in Hygienic Design und Hygienic USIT® liefern. Daneben decken wir auch die EU-Norm für Hygiene und gleichzeitig Unverlierbarkeit ab. Ein eigener Werkzeugbau garantiert zudem höchste Qualität „made in germany“ und speziell entwickelte Werkzeuge von NovoNox schützen Verbindungselemente mit empfindlichen Oberflächen. Sie verhindern zuverlässig Beschädigungen und das Verkratzen der empfindlichen Oberflächen von Verbindungselementen.

Gibt es bereits Pläne für weitere Entwicklungen?

Wir haben eine Vielzahl weiterer Entwicklungen in der Pipeline. So werden wir zeitnah einen Maschinenstellfuß nach Hygienic USIT® realisieren. Der Drehriegel wird komplett aus Edelstahl 1.4404 gefertigt und beidseitig abgedichtet. Damit hält er die EU-Norm 2006/42/EG ein (Unverlierbarkeit der Schraube) und entspricht gleichzeitig der Anforderungen nach Hygienic- Design. Daneben richten wir unser Augenmerk auf die Erschließung weiterer Märkte, wie etwa Branchen mit maritimen Hintergrund, der Fahrzeugindustrie, Reinräumen und Laboratorien sowie Sonderfahrzeugen, der Wasseraufbereitung und sicher auch der Luft- und Raumfahrtindustrie. Bereiche also, die auf dichte Schraubverbindungen angewiesen sind und mit Problemen der Unterwanderung von Schraubenköpfen, Festsitzen der Gewinde, Kondensatbildungen und Verschmutzungen des Innenlebens konfrontiert sind. Mit Hygienic USIT® – auf den jeweiligen Bedarfsfall angepasst – gehören diese Probleme der Vergangenheit an.

Wo sehen Sie die NovoNox KG in der Zukunft und explizit nach weiteren 10 Jahren?

Zweifelsfrei wächst die Akzeptanz in der Lebensmittelindustrie und anderen hygienesensiblen Branchen hinsichtlich des Einsatzes von Komponenten nach Hygienic Design und Hygienic USIT® erkennbar. Dennoch wird auch in Zukunft weitere Überzeugungskraft nötig sein. Sie steht daher im Mittelpunkt unserer künftigen Tätigkeit. Auf die anstehenden Arbeiten im Entwicklungsbereich freue ich mich, denn jede Herausforderung stellt uns vor neue Aufgaben. So stehen auch im kommenden Jahrzehnt alle Zeichen auf der Realisierung und Umsetzung neuer, innovativer Produkte für hygienesensible Produktions- und Fertigungsverfahren inklusive der Bereitstellung ausgeklügelter Lösungskonzepte. Und wer weiß, vielleicht wird schon bald eine weitere, wegweisende Produktneuheit aus dem Hause NovoNox den Markt erobern.
 

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Der Beitrag Revolutionäre Verbindungstechnik – Interview mit Jürgen Leuze erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.


„Diskriminierung an Hand von Datenprofilen ist bereits gang und gäbe“

$
0
0
Der EU-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht setzt sich mit allen Mitteln für eine Datenschutzverordnung ein. (Foto:  European Parliament 2013)

Der EU-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht setzt sich mit allen Mitteln für eine Datenschutzverordnung ein. (Foto: European Parliament 2013)

Der EU-Abgeordnete und EU-Berichterstatter für die EU-Datenschutzreform Jan Philipp Albrecht setzt sich angesichts des massiven Datenmissbrauchs mit allen Mitteln für eine Datenschutzverordnung ein. Doch warum ist Datenschutz für jeden einzelnen Bürger so wichtig und wie können die millionenfachen Datenzugriffe eingedämmt werden? Welche Strategien und Maßnahme sind hierzu auf politischer Ebene erforderlich und lässt sich die „Büchse der Pandora“ wieder schließen, um Vertrauen zurückzugewinnen? Nachgefragt!

Herr Albrecht, der Datenschutz der Bürger wurde faktisch abgeschafft. Ist das derzeitige Prozedere überhaupt verfassungskonform?

Das müssen wir tatsächlich in Frage stellen. In vielen Fällen gilt für uns heute ein Schutzniveau, das unter den grundrechtlichen Vorgaben des EU-Vertrags und der nationalen Verfassungen steht. Vor allem, weil viele Unternehmen sich nicht wirklich an die Gesetze halten. Sie gehen davon aus, dass es ohnehin niemand bis vor das zuständige Gericht schafft und selbst dann die Strafen denkbar gering ausfallen würden.

Sie kämpfen als EU-Abgeordneter auf europäischer Ebene für mehr Datenschutz bzw. die Rückgewinnung unserer Daten. Welche Mittel stehen Ihnen zur Verfügung und wie aussichtsreich ist das?

Derzeit setze ich mich mit allen Mitteln dafür ein, dass zügig ein einheitliches und durchsetzbares EU-Gesetz zum Datenschutz verabschiedet wird, die neue Datenschutzverordnung. Mit ihr würde es – wenn es nach dem Europäischen Parlament geht, dass dieses Gesetz bereits im März verabschiedet hat – ein einfacheres Klagerecht und schärfere Strafen bei Datenschutzverletzungen geben. Zudem müssten sich alle Unternehmen in Europa an ein und dasselbe europäische Datenschutzrecht halten, was eine ganze Reihe von Schlupflöchern schließt. Doch bislang scheuen einige Regierungen noch den Mut, den Datensammlern endlich einen Riegel vorzuschieben.

Die Büchse der Pandora wurde ja im Namen „unbedingt erforderlicher Sicherheitsmaßnahmen“ relativ unbedenklich geöffnet. Vielen Menschen leuchtet die Argumentation „Schutz“ durchaus ein. Gibt es deshalb so relativ wenig Gegenwehr und Protest gegen den massenhaften Datenmissbrauch?

Leider verstehen viele Menschen noch immer nicht, dass sich massenhafte Datensammlung nicht nur negativ auf Verdächtige oder Minderheiten auswirken kann, sondern für jeden einzelnen von uns erhebliche Nachteile und Konsequenzen bringen kann. Diskriminierung an Hand von Datenprofilen ist bereits heute gang und gäbe. Und wer überlegt, dass jede Handlung heute Spuren hinterlässt, wird sein Verhalten ziemlich schnell an den Mainstream anpassen, weil er sonst auffällig oder gar verdächtig für Unternehmen oder Behörden werden könnte.

Die Schleusen für den umfassenden Datenmissbrauch stehen also weit offen. Wie könnten sie wieder geschlossen werden?

Richtig, schließen kann man die Tür zum Missbrauch nicht. Aber statt große Schleusen offen zu lassen und gar nicht mehr zu wissen, welche Daten erhoben, weitergegeben und ausgewertet werden, könnten wir dafür sorgen, dass es erheblich weniger personenbezogene Daten sind, die wir hinterlassen und schärfer selber kontrollieren, welche wir davon an wen und zu welchem Zwecke herausgeben. Dazu brauchen wir verständlichere Informationen für den Einzelnen und eine Rückkehr zur expliziten Zustimmung zur Datennutzung.

In Ihrer im Sommer 2014 erschienen Publikation „Finger weg von unseren Daten – wie wir entmündigt und ausgenommen werden“ fordern Sie auch eine digitale Unabhängigkeitserklärung für Europa. Was müssen wir uns darunter vorstellen?

Ich bin überzeugt, dass wir keine Zeit verlieren dürfen und die Schaffung internationaler Regeln selbst in die Hand nehmen müssen. Wer jetzt nicht handelt und eine schärfere Durchsetzung der europäischen Standards erreicht, der wird sich später mit den niedrigeren Standards aus den USA oder gar China begnügen müssen. Als größter Markt der Welt könnte die Europäische Union allerdings eine Führung für hohe Datenschutz- und Sicherheitsstandards übernehmen und dafür sorgen, dass Europa sich unabhängig macht von Systemen und Produkten, die die Überwachung und Entmachtung von Bürgerinnen und Bürgern befördern. Auch wirtschaftlich wäre dies eine große Chance.

Aus einer Vertrauensgesellschaft wird zunehmend eine vollumfängliche Überwachungsgesellschaft. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe, dass Politiker dies so vehement unterstützen und für absolut unverzichtbar halten?

Je offener eine Gesellschaft wird, desto größer ist der Druck auf die Sicherheitsbehörden, vermeintliche Ängste und Unsicherheitsgefühle durch Sicherheitsmaßnahmen auszugleichen. Mit der Globalisierung und der digitalen Vernetzung begann ein wahres Wettrennen um immer neue technische Spielereien, die den Behörden das Gefühl der hellsehenden Kristallkugel geben. Doch die vergangenen Jahre haben immer wieder gezeigt: Eine tatsächlich höhere Sicherheit – etwa niedrigere Kriminalitätsraten oder höhere Aufklärungsquoten – hat es seither nicht gegeben. Die Politik muss endlich die Ursachen bekämpfen, statt an der Überwachungsgesellschaft zu feilen.

Die Wirtschaft sieht sich im Vorteil und schlachtet die Daten der Bürger ebenfalls gnadenlos aus. Dabei wird sie doch selbst Opfer des Datenmissbrauchs, wenn wir beispielsweise an Wirtschaftsspionage denken?

Absolut, und nicht nur bei den Betriebsgeheimnissen fällt dies auf. Oftmals betreiben die Unternehmen ja eigene IT-Systeme und verwalten die Daten anderer Menschen und Unternehmen. Angesichts des mangelnden Datenschutzes und der schlechten IT-Sicherheit können auch sie oft gar nicht mehr sicherstellen, dass die Daten nicht an dritte Unternehmen oder Behörden rechtswidrig weitergeleitet werden. Hier braucht es endlich eine Verantwortung für alle Beteiligten, die von den Datenschutzbehörden und Gerichten notfalls eingefordert werden muss.

Hat der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, Datenmissbrauch auf einer solchen Ebene damals nicht mit einkalkuliert bzw. die Risiken hierzu schlichtweg unterschätzt?

Soweit ich weiß, hat Berners-Lee selbst bereits deutlich gemacht, dass es besser gewesen wäre, gleich von Beginn an schärfere Datenschutz- und Sicherheitselemente in die Internetstruktur einzubauen. Während damals allerdings aus Kostengründen auf Dinge wie die standardmäßige Verschlüsselung von Internetkommunikation verzichtet wurde, muss dieser Fehler heute so schnell es geht korrigiert werden. Ansonsten wird das Internet zu jenem Überwachungsmonster, das sich auch jemand wie Berners-Lee bei der Erfindung des WWW sicher nicht hätte vorstellen können.

Ein sehr kurzfristiger Wandel in Hinblick auf den Datenschutz ist angesichts der Ausmaße des Missbrauchs sicher nicht zu erwarten. Welche Prognose können Sie hingegen mittel- bzw. langfristig geben?

Es bedarf des schnellen Umdenkens in der Gesellschaft. Behörden, Unternehmen und wir alle müssen den dramatischen Schutzlücken und dem drohenden Kontrollverlust volle Aufmerksamkeit und Bedeutung zukommen lassen. Ansonsten werden uns die Ausmaße über den Kopf wachsen. Die Datenbrille, der vernetzte Körper und die Automatisierung unseres Zusammenlebens stellen uns vor enorme Herausforderungen und können unkontrolliert zu einem schnellen Kollaps bisher sicher geglaubter Grundsätze unserer Demokratien und Rechtstaaten führen. Wir müssen die jetzigen Gesetzgebungsverfahren zu einem Abschluss bringen und gleich die nächsten Schritte angehen.

Lässt sich das Vertrauen überhaupt wieder zurückgewinnen? Es ist schließlich für Bürger nicht leicht zu überprüfen, ob ein sicherer Datenschutz wiederhergestellt wurde.

Ja, das Vertrauen ließe sich dann wieder herstellen, wenn der wachsenden Komplexität der Digitalisierung aller Lebensbereiche eine wachsende Transparenz und Kontrolle eines jeden Einzelnen über diese technischen Vorgänge geboten würde. Weil das aber nicht im Interesse von Sicherheitsbehörden oder IT-Giganten ist, muss die Politik mit gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass dies eintritt. Erst wenn hier mutige und deutliche Schritte erkennbar sind, werden die Bürger Vertrauen fassen, in eine sichere digitale Umgebung und in die Demokratie.

 
*Jan Philipp Albrecht ist Europaabgeordneter der Grünen und Verhandlungsführer des Europäischen Parlaments für die neue EU-Datenschutzgrundverordnung. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Bremen, Brüssel und Berlin spezialisierte er sich im IT-Recht. Unter anderem arbeitete er am Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht in Berlin und gab Lehrveranstaltungen zur europäischen Rechtsinformatik an der Universität Wien. Jan Philipp Albrecht war maßgeblich an der Zurückweisung des Handelsabkommens ACTA und der Untersuchung zur NSA-Affäre im Europäischen Parlament beteiligt.

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Der Beitrag „Diskriminierung an Hand von Datenprofilen ist bereits gang und gäbe“ erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

AfD –„Eine faschistoide Ideologie impliziert immer eine Option zur Gewalt“

$
0
0

Viele der damals benannten Politiker sind inzwischen von der AfD zur neu gegründeten ALFA gewechselt, also der neoliberalen AfD-Abspaltung. Ideologisch tonangebend in der AfD sind aktuell Beatrix von Storch mit ihrem klerikal-aristokratischen Netzwerk und Björn Höcke, der eine deutlich neurechts-völkische Ideologie vertritt und eine entsprechende Bewegung aufbaut. Wir haben nachgefragt und sprechen mit Andreas Kemper über die Veränderungen, Gefahren und den aktuellen Status der AfD in puncto Demokratiefeindlichkeit. Der Experte forscht zur Kollektivsymbolik der klassenbezogenen Diskriminierung (Klassismus) und analysiert die Netzwerke und Ideologien extremer Ungleichheitsforderungen von Thilo Sarrazin bis zur AfD.

Andreas Kemper, vor gut zwei Jahren haben wir im Rahmen eines ausführlichen Interviews zur damals neu gegründeten Partei AfD über mögliche demokratiefeindliche Aspekte gesprochen. Inzwischen ist die Partei auseinandergebrochen und hat sich sowohl inhaltlich als auch personell neu aufgestellt. Können Sie einmal zusammenfassen, was vorgefallen ist?

Soziologe und Autor Andreas Kemper (Foto. A. Kemper)

Soziologe und Autor Andreas Kemper (Foto. A. Kemper)

Der neoliberale und transatlantisch orientierte Flügel der AfD wurde beim Bundesparteitag im Sommer 2015 aus der Partei gedrängt. Dieser Flügel um Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel ist geschlechter- und einwanderungspolitisch durchaus auf einer Linie mit Thilo Sarrazin. Sie wollten jedoch den Einfluss der noch radikaleren völkisch-nationalen Neuen Rechten in der AfD um Björn Höcke zurückdrängen. Da führende AfDlerInnen wie Frauke Petry, Alexander Gauland und Beatrix von Storch den völkisch-nationalen Flügel verteidigten, mussten Lucke und Henkel gehen. Sie haben daraufhin die Partei ALFA gegründet.

Welche maßgeblichen Ziele verfolgt die AfD denn in ihrer derzeitigen Form und wie „erfolgreich“ generiert sie Anhänger im Vergleich zu damals innerhalb der alten Strukturen?

Die AfD verfolgt momentan wesentlich zwei Ziele:
Geschlechterpolitisch geht es um ein Zurückdrängen emanzipatorischer Ziele: Abschaffung der Antidiskriminierungsgesetze und -stellen, der Gleichstellungsstellen, der Ehe für alle, Abschaffung von Geschlechterforschung an Hochschulen und Sexualpädagogik an Schulen. Stattdessen soll die Familienpolitik nach national-bevölkerungspolitischen Richtlinien neu ausgerichtet werden: Drei-Kinder-Familien als Leitbild und Verschärfung des Abtreibungsparagraphen.

In der Einwanderungspolitik gibt es in der AfD einen restriktiven Konsens mit einem momentan tonangebenden national-völkischen Vokabular, welches Geflüchtete mit „Invasoren“ gleichsetzt. Bereits beim Bundesparteitag wurde die AfD als „die Pegida-Partei“ dargestellt und Björn Höcke als Vertreter der Neuen Rechten in der AfD positioniert sich mit seinen AfD-Demos in Erfurt deutlich rechts von Pegida. Der gemäßigte Flügel um Petry und Pretzell bedankte sich bei der FPÖ für die erfolgreichen Wahlkämpfe in Österreich, der radikale Flügel um Björn Höcke kritisierte Pegida dafür, dass die germanischen Wurzeln des Abendlandes nicht genügend betont wurden. Das ist die Spannbreite der AfD.

Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) bezeichnete die AfD kürzlich im RTL-Nachtjournal als „offen rechtsradikal“. Dazu äußerte er: „Ich dachte früher immer, sie wären unanständig, weil sie den Mob aufwiegeln.“ Doch: „Sie pflegen die Sprache der NSDAP, die Begriffe von Nazis, wenn sie davon sprechen, Politiker an die Wand zu stellen.“ Werden tolerierbare Grenzen hier nicht längst überschritten und müsste dann nicht der Staatschutz einschreiten?

Ja, leider stand diese Aussage weniger im Fokus der Aufmerksamkeit als der Pegida-Galgen, der für Merkel und Gabriel reserviert war. Frank S. setzte die Forderung des AfD-Kreisvorstandes zehn Tage später um, er wurde aktiv und versuchte die Oberbürgermeister-Kandidatin Henriette Reker zu erstechen. Hier müssen die Hintergründe der rechten AfDler durchleuchtet werden.

Frank S. stand der FAP und der German Defence League nahe. Björn Höcke hat Kontakt zu Ex-FAPlern. Höcke prognostiziert einen Bürgerkrieg und sein Kamerad Götz Kubitschek ruft zu einer größeren illegalen Aktion auf, die zum Sturz der Regierung führen soll. Eine faschistoide Ideologie impliziert mittel- und langfristig immer eine Option zur Gewalt.

Wie eng ist Ihren Erkenntnissen nach die so genannte Pegida-Bewegung mit der AfD verknüpft? Ist sie überhaupt erst aus Anhängern der AfD entstanden oder springt die AfD auf diesen Zug auf, um für die eigenen Anliegen mehr Sympathisanten zu generieren?

Eine wesentliche Rolle bei den Pegida-Demonstrationen spielt Götz Kubitschek vom neurechten Institut für Staatspolitik. Er ist dort der „intellektuelle“ Kopf, wenn man bei der Neuen Rechten von „Intellektualität“ sprechen möchte. Kubitschek vertrat Pegida bei der „Demonstration gegen Überfremdung“ der Lega Nord in Italien. Und Kubitschek ist verbunden mit der neurechten Bewegung „Erfurter Resolution“ in der AfD, zu denen ich unter anderem Björn Höcke, André Poggenburg, Andreas Lichert und Hans-Thomas Tillschneider zählen würde. Aktuell gibt es einen Streit zwischen AfD und Pegida, weil Bachmann aus Pegida eine Partei formen möchte. Die rechte Szene steht aber eindeutig hinter Höcke, weniger hinter dem Pegida-Gründer Bachmann.

Wie groß ist der Zuspruch zu diesen Pegida-Demos tatsächlich und was kann sich daraus schlimmstenfalls formieren?

Wir müssen das im europäischen Kontext sehen: In allen Nachbarstaaten Deutschland liegen die rechten Parteien bei über 20 Prozent der Wählerstimmen. Auch in Deutschland gibt es ein solches Potential. Aber nicht erst eine Stärkung rechter Parteien ist gefährlich, sondern die gegenwärtige Gewaltbereitschaft. Während wir das Interview führen, erfahre ich, dass in meiner Heimatregion gestern ein Albaner aus fremdenfeindlichen Motiven niedergestochen wurde. Den vorangegangen Hass-Attacken folgen immer mehr gewalttätige Übergriffe und die Täter fühlen sich im Recht, bedauern allenfalls, dass ihre Opfer überlebten.

Was sind die vordringlichsten Aufgaben, um diese Gewaltprozesse zu stoppen und vor allem mittel- und langfristig in den Griff zu bekommen?

Wir müssen die Steuern für die Reichen massiv erhöhen, um so die Verteilungskämpfe zu entschärfen. Es sind vor allem die Deklassierungsängste der privilegierten Mittelschicht, die den Hass anstacheln. Die sogenannte „Verrohung der Bürgerlichkeit“ ist die bereits vor 75 Jahren von Erich Fromm diagnostizierte zunehmende „Furcht vor der Freiheit“ des Kleinbürgertums. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir ein superreiches Land sind und dass genug für alle da ist, wenn wir den Irrsinn der ungezügelten Reichtumsvermehrung der Reichen stoppen.

Die rechten Parteien und Demonstrationen entstanden nicht in der Folge der Flüchtlingsdebatte, sondern als Folge der Wirtschaftskrise und zwar vor allem in den wohlhabenden Staaten und dort in den privilegierten Milieus. Und auch das Bildungssystem muss von der immer schärfer werdenden Konkurrenz- und Karriereorientierung, von der Ellenbogenmentalität wegkommen. Wir brauchen mehr Schulen gegen Rassismus und vor allem Schulen gegen Klassismus, gegen Klassendiskriminierung.

Werfen wir noch einen Blick auf die Partei ALFA, die ja (wie oben beschrieben) aus ursprünglich AfD-lern besteht, die sich nach der Abspaltung zur neuen Partei ALFA zusammengeschlossen haben. Steht ALFA noch in einem Zusammenhang mit der AfD und/oder Pegida – also gibt es weiterhin Schnittmengen, die eventuell gemeinsam vorangetrieben werden?

Vordergründig bekämpft ALFA die AfD und es findet sehr wahrscheinlich zwischen den Parteispitzen keine Zusammenarbeit statt, da wurde zu viel Porzellan zerbrochen. Aber ideologisch gibt es noch immer viele Überschneidungen. So stimmten ALFA und AfD gemeinsam im EU-Parlament gegen den „Rodriguez-Bericht über die Stärkung von Mädchen durch Bildung„. ALFA spricht sich wie die AfD gegen Gendermainstreaming aus und Lucke vertritt die Ansicht, wenn wir mehr Akademikerkinder hätten, bräuchten wir keine Einwanderung mehr. Mittelfristig könnten ALFA und AfD zusammenarbeiten.

Wie hoch schätzen Sie den kurzfristigen Zulauf zu Parteien wie AfD und ALFA ein, auch in Hinblick auf mögliche Ergebnisse zur Bundestagswahl 2017?

Das ist schwer zu sagen. Aktuelle Umfragen sehen die AfD bei 7 bis 8 Prozent, was allerdings mit der Flüchtlingsdebatte zu tun hat. Sollte die damit einhergehende aufgeheizte Stimmung bis zum März anhalten, würde die AfD in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt in die Parlamente einziehen. Das wäre wiederum eine gute Ausgangslage, um es 2017 in den Bundestag zu schaffen.

Ähnliche Stimmungen könnten auch durch konzertierte Medienkampagnen hervorgerufen werden, wie vor ein paar Jahren die Sarrazin-Debatte. Momentan bekämpft jedoch die BILD die AfD. Und ohne diese rassistische Stimmung wird die AfD im Westen wieder auf drei bis vier Prozent schrumpfen. ALFA hätte nur Erfolg, wenn es zu einer Krise der Währungsunion kommt, in der sich dann wieder gegensätzliche Kapitalinteressen herauskristallisieren.

Verweise:

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

(Header-Foto: photodune.com)

Der Beitrag AfD – „Eine faschistoide Ideologie impliziert immer eine Option zur Gewalt“ erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

„Die Wirtschaft ist für den Menschen da!“

$
0
0

„Gesucht wird nach einer Verbindung des Kapitals mit der sozialen und institutionellen Sphäre, die das Leben des modernen Menschen ausmacht. Anders gesagt: Das Verstehen der Erscheinungsformen, der spannungsreichen Verknüpfungen, aber auch der Widersprüche des Kapitals ist Ausgangspunkt, Ziel und Motiv dieses Buches.“

Herr Prof. Hemel, Ihre Publikation trägt den Titel: „Die Wirtschaft ist für den Menschen da.“ Ist das nicht im Prinzip eine Selbstverständlichkeit?

Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel, Foto: ifs)

Ja, das ist es, aber diese Selbstverständlichkeit kann wie eine Provokation wirken. Im Alltag erfahren wir oft das Gegenteil: Menschen fühlen sich hilflos und ausgeliefert, sie werden zum austauschbaren Produktionsmittel und nicht in ihrer Würde und Eigenart wahrgenommen. Und dann sieht es so aus, als sei eben der Mensch für die Wirtschaft da und nicht umgekehrt!

Was ist geschehen, wenn sich viele Bürger bzw. Arbeitnehmer in diesen Zeiten so übervorteilt und in Teilen ausgenutzt fühlen und sich die Distanz zum Kapital und zur Wirtschaft deutlich ausweitet?

Überall wo Menschen sich begegnen, gibt es auch Elemente des Marktes. Der Markt ist aber nicht alles, er braucht eine politische und gesellschaftliche Ordnung; er braucht Spielregeln. Ohne solche Spielregeln verkommt die Gesellschaft zur Anstalt für sozialdarwinistische Übungen. Umgekehrt bewirkt die Lähmung von Marktkräften einen riesigen Innovationsstau und allgemein sinkenden Wohlstand. Es geht also um ein Gleichgewicht – und dieses Gleichgewicht haben wir teilweise verloren.

Wer hat versagt? Die Politik, indem sie in den vergangenen Legislaturperioden Maß und Mitte verloren und Lobbyisten aus der Wirtschaft bevorzugt hat?

Es ist zu leicht, hier allein die Politik verantwortlich zu machen. In einer Demokratie kommt diese ja aus der Mitte der Gesellschaft. Und dazu gehört jeder von uns – auch wenn er ökologisch verantwortliche Tierhaltung will und dennoch das billigste Fleisch aus dem Supermarkt kauft. Gerade weil bei jedem einzelnen eine Menge Verantwortung liegt, sehe ich hier auch die Familien und das Bildungssystem in der Pflicht: Denn diese familiären und auch schulischen Prägungen wirken sich letztlich auf jeden Politiker aus.

Der Untertitel Ihrer Publikation lautet: „Vom Sinn und der Seele des Kapitals“. Wie müssen wir uns die Seele des Kapitals vorstellen?

Geld ist eine phantastische Erfindung, um den Tausch von Dienstleistungen und Gütern zu vereinfachen. Kapital ist die geronnene Form von Geld und Vermögen. Weil Geld und Kapital Ausdruck der Symbolfähigkeit des Menschen sind, drücken sie immer auch Beziehungsgeschichten aus: Währungen haben einen Namen, Geld hat eine Geschichte. Kapital gibt es nicht ohne Menschen, die mit ihm umgehen – nach ihren eigenen Bedürfnissen, Ängsten, Zwängen, Lebensgeschichten. Daher gibt es kein „herrenloses“ Kapital – es geht immer auf Beziehungen zurück und ist in sie verstrickt. Diesen Beziehungscharakter des Kapitals meine ich mit dem bildlichen Ausdruck „Seele des Kapitals“.

Sie äußern in Ihrem Buch: „Wertrationale und nutzenrationale Interessen fallen trotz aller Widersprüche langfristig zusammen. Denn Sinn, Bedeutung und soziale Anerkennung sind wesentliche Treiber wirtschaftlicher Tätigkeit, die damit eben immer auch sozial determiniert ist.“

Wertrational geprägt sind Handlungen dann, wenn sie sich vorrangig an unseren Werten ausrichten. Nutzenrational dann, wenn der Nutzen im Vordergrund steht. Menschen wollen aber häufig beides: in Übereinstimmung mit ihren Wertvorstellungen handeln, aber auch den bestmöglichen Nutzen herausschlagen. Kurzfristig kann ich einem Mieter, der mit seinen Zahlungen in Verzug ist, „nutzenrational“ kündigen. Wenn dieser aber selbst nur in einer vorübergehenden Notlage ist, kann es viel besser sein, eine schwere Zeit gemeinsam zu überbrücken und „wertrationa“ Solidarität zu üben. Zahlt der Mieter nach ein paar Monaten seine Mietschulden ab, dann konvergieren „nutzenrationale“ und „wertrationale“ Gründe: Es entsteht kein finanzieller Verlust, und das Mietverhältnis entwickelt sich langfristig. Auch hier kommt die Beziehungsseite von Geld und Kapital zum Ausdruck: Wir wollen mit finanziell geprägten Transaktionen eben sehr häufig auch die soziale Anerkennung durch andere erreichen – sonst gäbe es beispielsweise bestimmte teure Luxusgüter wohl gar nicht.

Ist es in diesen Zeiten nicht eher umgekehrt, indem Wirtschaft sich immer mehr in die Lebensverhältnisse der Menschen drängt, vorschreiben will und das ist alles andere als sozial determiniert?

Das Wort „sozial“ hat hier zwei Bedeutungen. Denn jemand, der reich werden will ohne Rücksicht auf Verluste, sucht nicht zuletzt die „soziale“ Anerkennung durch andere, will dazugehören zum Club der Reichen und Erfolgreichen. Die zweite Wortbedeutung geht in die Richtung guter Lebensverhältnisse für alle. Sie zielt auf politische Gestaltung. Und diese Gestaltung ist häufig nur so gut, wie in der Politik eben auch wirtschaftlicher Sachverstand da ist. Denn nicht jede gut gemeinte Politik führt zu sinnvollen Lösungen: Genau solche Lösungen aber sind einzufordern und im politischen Ringen zu suchen!

Über Jahrzehnte haben wir in Deutschland die soziale Marktwirtschaft präferiert. Praktisch alle Gesellschaftsschichten konnten damit Chancengleichheit genießen und persönlichen Wohlstand erarbeiten. Bricht uns das bewährte Modell zunehmend weg und falls ja, lässt sich das wirklich immer mit zunehmenden Globalisierungsfaktoren begründen?

Die soziale Marktwirtschaft bietet grundsätzlich ein gutes Gleichgewicht zwischen der nötigen Gestaltungsfreiheit in Märkten und dem ebenso nötigen sozialen Ausgleich durch politisch vorgegebene Spielregeln. Die Erschütterung der Glaubwürdigkeit der sozialen Marktwirtschaft ist ein Anzeichen für einen Pendelschlag: Ja, da spielt die Globalisierung sehr wohl eine Rolle.

Mindestens genau so wichtig ist aber eine Besinnung auf die neuen Herausforderungen des 21.Jahrhunderts. Denn im 20.Jahrhundert haben wir letztlich einseitig auf Arbeitseffizienz gesetzt. Nun müssen wir verstärkt auf Ressourceneffizienz achten, also beispielsweise energiesparende Autos, Gebäudedämmung, kreislaufwirtschaftstaugliche Produkte. Gleichzeitig müssen wir die neue soziale Frage auch so nennen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Denn ein Übermaß an Ungleichheit schafft gesellschaftlichen Stress für alle Beteiligten! Gemeint ist letzten Endes die Neugestaltung einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft!

Wirtschaft soll die von einer Gesellschaft gewünschten Bedarfe decken. Stimmen die zur Umsetzung dieses Anspruchs erforderlichen Rahmenbedingungen noch, wenn Ausgrenzungsprojekte wie etwa „Hartz IV“, Dumpinglöhne, Werkverträge und einiges mehr einen Teil der Bürger in die wirtschaftliche Aussichtslosigkeit drängen?

Ob es richtig ist, hier von Ausgrenzungsprojekten zu sprechen, das sehe ich kritisch. Ich bin viel gereist, auch in Afrika, Lateinamerika und den ärmeren Ländern Asiens. Aus diesem Blickwinkel ist unsere Sozialgesetzgebung sehr wohl und immer noch eine soziale Errungenschaft. Problematisch ist aber die bürokratische Ausgestaltung, die häufig ganz zu recht als menschenunwürdig empfunden wird. Wäre es da nicht sinnvoll, den Kommunen wieder stärkere Rechte zu geben? Denn dort sind die Verhältnisse vor Ort bekannt. Es gibt auch Länder, bei denen soziale Hilfen an die Erfüllung der Schulpflicht betroffener Kinder gebunden sind. – All dies rechtfertigt freilich keine Dumpinglöhne; hier sind gesetzgeberische Maßnahmen ja auf dem Weg.

In Ihrer Publikation präferieren Sie den Weg zu einem ganzheitlichen Kapitalbegriff „in Kombination mit der Anerkennung der Herausbildung einer globalen Zivilgesellschaft, die Grundlage bieten für eine wahrhaft soziale Marktwirtschaft – auch im moralischen Sinne“. Mit welchen Weichenstellungen und Maßnahmen könnte dies gelingen?

Die Bedeutung der Zivilgesellschaft wird unterschätzt. Wir leben in einer Zeit mit Internet und zugänglicher Telekommunikation praktisch für alle. In den Slums von Kenia ist heute eine Ladestation für das Mobiltelefon wichtiger als Strom für die Beleuchtung der eigenen Hütte. Um dieses Beispiel aufzugreifen: Wenn wir als Verbraucher in Deutschland darauf achten, dass unser Mobiltelefon einen herausnehmbaren Akku hat, dann wirkt sich das unmittelbar auf die Wiederverwendung von Rohstoffen, auf die Gewinnung bestimmter Rohstoffe und damit auf die Lebenswirklichkeit von Menschen in weit entfernten Ländern aus.

Wir brauchen also mit anderen Worten Spielregeln für die globale Zivilgesellschaft, angefangen vom Verbraucherverhalten bis hin zu Vorgaben für das Verhalten von Unternehmen und Regierungen. Solche Vorgaben werden unter dem Begriff der Governance zusammengefasst. Transparenz und soziale Balance spielen hier eine besonders wichtige Rolle. Aufgabe des 21.Jahrhunderts wird es sein, eine solche Global Governance für die Zivilgesellschaft und die Unternehmen als ein Teil der globalen Zivilgesellschaft, aber speziell auch für die Regierungen durchzusetzen.

Sie schreiben auch „Die ursprüngliche kapitalistische Transformation ist der Tausch von Geld gegen Träume“. Träume rund um „die gelingende Gestaltung des sozialen Lebens“ sollten nicht vorschnell aufgegeben werden. Wie lässt sich das realisieren, wenn jene, die aufgrund ihrer Position in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik an einer Umsetzung eines solche Anspruchs gar kein Interesse zeigen?

Wenn wir etwas kaufen, haben wir Erwartungen, die mit uns als Person zu tun haben. Letztlich geht es immer wieder um den Traum vom gelingenden Leben. Und Träume haben einen sozialen Kontext. Wer von 44 Ferraris träumt, darf sich fragen lassen, ob es nicht sinnvollere Träume geben mag. Das wirtschaftliche Geschehen kommt durch diesen Zusammenhang in das Feld der sozialen Gestaltung zurück. Und dies fängt an, Wirkung zu zeigen: Unternehmen sprechen – unterschiedlich glaubwürdig – wieder von „sozialer Verantwortung“.

Fragen der Nachhaltigkeit werden teilweise sogar stärker im Wirtschaftsleben als in der Politik aufgegriffen, auch weil die Politik immer wieder schnell auf das Stimmungsbarometer in der Bevölkerung schielt. Insoweit liegt es schon auch an uns, was in der Politik geschieht. Letztlich ist Politik ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn also die Gesellschaft den Anspruch auf eine menschlich gestaltete ökologische und soziale Marktwirtschaft formuliert, wird das mit einer gewissen Verzögerung auch zum Gegenstand politischen Handelns.

Wo sehen Sie unser Land wirtschaftsethisch in zwei- bis drei Jahrzehnten und woraus schöpfen Sie Ihre diesbezüglich positiven (oder ggf. auch negativen) Ausblicke?

Die Widersprüche werden uns nicht ausgehen, auch im Blick auf globale Herausforderungen etwa in China oder im Mittleren Osten. Ich erlebe aber in so vielen Bereichen eine ernsthafte Suche nach einem neuen Gleichgewicht, dass ich eher optimistisch bin. Rein wirtschaftlich wird sich in Deutschland der Fachkraftmangel als Treiber für eine Humanisierung der Arbeitswelt, aber auch für neue Zuwanderung auswirken. Die demographische Wende wird dadurch abgemildert. Der bevorstehende Klimawandel verstärkt die Nachfrage nach umweltfreundlichen technischen und sozialen Lösungen. Dass beide Hand in Hand gehen, das verstehen wir in Europa und in Deutschland besonders gut.

*Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel ist Theologe, Philosoph, Unternehmensberater und Wirtschaftspraktiker und analysiert in seiner Publikation: „Die Wirtschaft ist für den Menschen da“ sowohl positive als auch wenig erhellende Seiten des Kapitalismus.

Cover: Patmos Verlag

Cover: Patmos Verlag

Die Wirtschaft ist für den Menschen da

Autor: Ulrich Hermel

Gebundene Ausgabe:192 Seiten
Verlag: Patmos Verlag; Auflage: 1 (27. August 2013)

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3843603448
ISBN-13: 978-3843603447

Preis: 19,99 Euro
 
*Vita Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel
Geboren 1956 in Bensheim, Abitur 1974 in Worms, Studium der Kath.Theologie, Philosophie, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Mainz und an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom (lic.rer.soc.), Promotion (1983, „summa cum laude“) und Habilitation (1988) in Regensburg, dort bis heute apl.Prof. für Religionspädagogik; anschließend Tätigkeiten als Unternehmensberater (The Boston Consulting Group), Manager (u.a. Vorstandsvorsitzender Paul Hartmann AG) und Unternehmer (Strategie und Wert GmbH, Rogg Verbandstoffe, Tacon Decor SL).
Seit 2001 Vorstandsvorsitzender „Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover“; 2009 Gründung Institut für Sozialstrategie (Berlin-Jena-Laichingen) mit dem Ziel „Impulse für die globale Zivilgesellschaft mit den Schwerpunkten Bildung, Ernergetische Nachhaltigkeit, Globale Ethik, Migration und Rechte von Minderheiten“.

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Der Beitrag „Die Wirtschaft ist für den Menschen da!“ erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

Führt das Vollgeldsystem zu einer besseren Geldordnung?

$
0
0

Andauernde Finanzkrisen, taumelnde Eurostaaten, stringente Spardiktate, die in vielen Volkswirtschaften zu extremen sozialen Härten führen und immer wieder Turbulenzen rund um den Euro erfordern ein Umdenken hinsichtlich unseres derzeitigen Geldsystems. Immer häufiger im Gespräch ist ein Vollgeldsystem. Wie funktioniert es und kann es dazu beitragen, die derzeitigen Probleme zu lösen? Was bedeutet ein solches System für Banken und Gesellschaft und ist es für alle europäischen Länder tauglich? Prof. Dr. Franz Hörmann stellt sich unseren Fragen. Der Experte, der an der Wirtschaftsuniversität in Wien (WU) lehrt, befasst sich bereits seit geraumer Zeit mit dem Thema Geldsystem.

Herr Prof. Hörmann, unter anderem denkt Island aktuell ernsthaft über ein sogenanntes Vollgeldsystem nach und auch in der Schweiz hat sich hierzu eine Bürgerinitiative gebildet. Wie funktioniert dieses System?

Foto: Franz Hörmann

Foto: Franz Hörmann

In einem Vollgeldsystem wird Geld nicht als Schuldschein einer Geschäftsbank erzeugt („geschöpft“), sondern von einer zentralen Institution (z.B. der Nationalbank) nach gemeinschaftlich bestimmten (Bewertungs-)Regeln. Währungseinheiten „in Vollgeld“ werden daher „als Eigenkapital“ erschaffen, nicht als Schuld (Fremdkapital einer Geschäftsbank).

Heute ist jede Zahlung einer Bank (sowohl bei der Kreditvergabe als auch wenn eine Bank etwas kauft, mietet oder Mitarbeiter bezahlt) in Wahrheit nur ihr ungedeckter Schuldschein, denn sie bucht den Betrag am Girokonto des Zahlungsempfängers und alle Girokonten stehen als Verbindlichkeit auf der Passivseite ihrer Bilanz (sog. Sichteinlagen), daher auch die Bezeichnung „Schuldgeld“ für das heute verwendete Giral- oder Buchgeld, das ca. 95% der gesamten Geldmenge ausmacht.

Bankkunden, die heute ihr Bargeld zur Bank tragen, verlieren damit ihr Eigentum an diesem Geld, übrig bleibt nur eine Forderung gegenüber der Bank, denn die Bank wird zum rechtlichen Eigentümer der Kundengelder. In Zeiten, in denen Staatshaftungen für Sparbücher etc. gerade abgeschafft werden und zugleich Banken immer heftiger in Schieflage geraten, ist daher ein Vollgeldsystem, bei dem die Bank nur mehr die Funktion eines Treuhänders übernimmt und das Eigentum am Geld für den Bankkunden erhalten bleibt, ein notwendiger Schutz für alle Nicht-Banken.

Welche Effekte würden denn aus einem Vollgeldsystem für Banken, aber auch für die Bürger resultieren?

Geschäftsbanken können im Vollgeldsystem durch die Kreditvergabe nicht mehr neues Geld erzeugen („schöpfen“), womit die dadurch immer wieder künstlich erzeugten Preisblasen auf verschiedenen Märkten (zuletzt v.a. bei Immobilien) vermieden werden. Die Geldschöpfung erfolgt zentral (durch die Nationalbank) aufgrund gemeinschaftlich bestimmter, demokratisch legitimierter Regeln. Sowohl die Geldschöpfung als auch die Geldvernichtung sind dann transparent und für alle Menschen gleich verständlich. Heute wird das (Schuld-)Geld bei der Kreditvergabe neu erzeugt und bei der Kreditrückzahlung wieder vernichtet. Dies erzeugt in Phasen des Wirtschaftsaufschwungs unvermeidbare „Übertreibungen“ (Preisblasen), die nach dem Platzen zu einem Wirtschaftsabschwung führen, der durch geringere Kreditvergaben im Abschwung zusammen mit der Geldvernichtung bei Kreditrückzahlungen (Banken stellen ja in der „Krise“ vermehrt ihre Kredite fällig!) automatisch in Finanzkrisen endet.

Diese heute sogenannten Konjunkturzyklen wären in einem Vollgeldsystem weitestgehend vermeidbar. Außerdem wird Missbrauch bei der Kreditvergabe vermieden (sog. Überfinanzierungen), da die Banken dann tatsächlich nur Geld verleihen können, das bereits vorhanden ist. Dies wird auch heute von einigen Bankern behauptet, ist aber nachweislich falsch. Schließlich können in diesem System aber auch die Kreditnehmer (d.h. Privatleute, Unternehmer aber auch ganze Staaten) nicht mehr in Form einer „Schuldenbetreibung bzw. –krise“ erpresst werden, daher sichert es nicht nur den individuellen Lebensstandard sondern auch den Fortbestand der Demokratie.

Das Vollgeldsystem könnte unter dem Strich dann auch bewirken, dass Steuerzahler künftig nicht mehr für die immensen Schieflagen der Banken in Haftung genommen werden?

Der Schutz der Steuerzahler vor sog. Bankenrettungen (also dem Zugriff auf Steuergelder im Interesse der Bankeigentümer) ist auch ohne Vollgeldsystem sofort möglich, wenn man z.B. eine gesetzliche Bestimmung einführen würde, dass Banken bei ausfallenden Krediten nicht nur ihre Forderungen (als Aufwand) sondern zugleich auch die Sichteinlagen (da es für sie Verbindlichkeiten sind daher als Ertrag) in gleicher Höhe auflösen könnten bzw. müssten. Zugleich wird dann in der Bilanz eine „Rücklage zur Umlaufsicherung“ gebildet, sodass dieser Ertrag nicht als Teil eines Gewinnes ausgeschüttet werden kann, sondern an das Unternehmen (hier an den Bankengeldkreislauf) gebunden bleibt. Dann kreist das Giralgeld weiter auf den Bankkonten, ist aber aus Sicht der Bank nicht mehr Fremd- sondern Eigenkapital.

Diese Technik nennt man „Debt-/Equity-Swap“, also die Umwandlung einer Schuld in Eigenkapital, z.B. in eine Unternehmensbeteiligung des Gläubigers, und sie ist Routine im Rahmen von Unternehmenssanierungen. Dieses neue Eigenkapital wäre dann aber eine staatliche Beteiligung an der Bank, d.h. nicht nur wäre die „Rettung“ der Bank kostenlos (per Buchungssatz anstatt durch Steuergeld), der Staat würde sich zugleich (ebenfalls gratis!) an der Bank beteiligen und könnte so politischen Einfluss auf die Bank gewinnen, bis hin zu dem Punkt, dass Banken irgendwann Geld für das bedingungslose Grundeinkommen schöpfen könnten!

Alle Steuergelder, die zur „Bankenrettung“ verwendet wurden, waren daher nicht sinnvoll eingesetzt, denn Schulden, die als Buchungssatz entstehen, können natürlich jederzeit auch als Buchungssatz wieder getilgt werden. Im Vollgeldsystem ist ein solcher Missbrauch der Kreditgeldschöpfung aber schon im Vorfeld unmöglich.

Banken werden als systemrelevant eingestuft. Würde sich dies mit der Einführung eines Vollgeldsystems ändern?

Banken sind schon heute nicht „systemrelevant“, denn die Menschen benötigen nur ein persönliches Konto, das ja z.B. auch die Sozialversicherungen oder die Telefongesellschaften führen können. Würde ein bedingungsloses Grundeinkommen (als soziale Maßnahme) eingeführt, das die Sozialversicherung auf ihren Konten auch gleich verwalten würde, dann wäre der Geldbedarf der Realwirtschaft und der Privathaushalte gesichert, die Geldschöpfung fiele in die Zuständigkeit des Sozialministeriums und das Finanzministerium könnte mangels Zuständigkeiten geschlossen werden.

Banken können aber auch in einer freieren Gesellschaft noch sehr sinnvolle Aufgaben erfüllen, z.B. indem sie die realwirtschaftlichen Produktionsprozesse in kooperativer Form (anstatt als Preiskonkurrenz) vermittels online-Prozessmanagement verwalten und dabei die Kooperationspartner beim gemeinsamen Lernen unterstützen. Solche Ideen sind auf der Website http://www.zukunftsbanken.eu veröffentlicht – jene Banken, die als erste diesen Schritt wagen, werden die Trendsetter im 3. Jahrtausend sein.

Was halten Sie von einem Vollgeldsystem und wäre dies eine Lösung für alle Länder, die dem Euro angeschlossen sind?

Das Vollgeldsystem ist ein wichtiger erster Schritt hin zu einer demokratischen Geldordnung, denn Demokratie beginnt mit einem demokratischen Geldsystem! Freilich bildet das Vollgeldsystem „Geld“ immer noch als Tauschmittel ab, wenngleich eine aufgeschriebene Zahl nur den Wert von etwas anderem darstellen kann und selbst keinen (Tausch)Wert haben kann. Ehrlicher und fortschrittlicher ist aus meiner Perspektive daher das Informationsgeld („InfoMoney“), das ich auf der Website http://www.informationsgeld.info beschrieben habe und dem ich ein sehr positives Entwicklungspotential für eine freiere, friedlichere Gesellschaft zutraue.

Auch das InfoMoney ist eine Vollgeldvariante, nur, dass hier Geld keinen Eigenwert mehr besitzt: wer leistet, erhält frisches Geld geschöpft (Buchung „Kassa an Ertrag“), wer konsumiert, dem wird Geld vernichtet (Buchung „Aufwand an Kassa“). Da Geld in diesem System als Tauschmittel nicht mehr existiert, gibt es auch keine Umverteilung mehr, die Gesellschaft wird vom Nullsummenspiel in ein Plussummenspiel (in dem wir alle ZUGLEICH unseren Wohlstand erhöhen können) transformiert. In dieser Variante liegt daher das höchste positive Veränderungspotential, sie ist aber, zumindest zu Beginn, noch schwerer geistig nachvollziehbar als ein rein elektronisches „Tauschmittel“ (Vollgeld, das nicht als InfoMoney ausgestaltet ist).

Wie hoch schätzen sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass sich das Vollgeldsystem in Europa etabliert?

Ich bin völlig überzeugt davon, dass sich in den nächsten 2-3 Jahren in irgendeiner europäischen Region eine Vollgeldvariante etablieren wird, deren Vorteile aus Sicht der Nicht-Banken so überzeugend nachgewiesen werden können, dass sich dieses Modell danach mit großer Geschwindigkeit nicht nur in Europa sondern sogar global etablieren wird. Einen ersten „Vorgeschmack“ hat ja schon der Siegeszug der BitCoins geboten, wenngleich genau daran (elektronisches Geld in Form eines mit einem Eigenwert versehenen Tauschmittels) auch wieder das nach wie vor vorhandene Missbrauchspotential (Spekulationsexzesse, Betrug mit BitCoin-Börsen etc.) deutlich erkennbar wurde. Informationsgeld (http://www.informationsgeld.info) ist speziell dafür entwickelt worden, solchen Missbrauch in Zukunft nachhaltig zu verhindern und zwar nicht durch ausgeklügelte Verschlüsselungstechnik sondern einfach durch das zugrundeliegende Design, in welchem Gesetze, Verträge, Prozesse und Zahlungsmittel Teile ein- und derselben Datenstruktur sind, diese Komponenten sich daher in Echtzeit laufend selbst überwachen können.

In jedem Fall wird aber die demokratische Veränderung des Geldsystems zugleich zu einem Erwachen der menschlichen Gesellschaft führen, weil Selbstverantwortung und Selbstorganisation schrittweise an die Stelle von Delegation und Fremdbestimmung treten werden.

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.
 

Der Beitrag Führt das Vollgeldsystem zu einer besseren Geldordnung? erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

Schäuble und die legendäre Bargeldspende

$
0
0

Wer Erinnerungen an Spendenaffären Revue passieren lässt, kommt nicht an der Geschichte rund um die dubiose 100.000-Mark-Spende vorbei, die der Waffenhändler Karl-Heinz Schreiber 1994 dem damaligen CDU-Chef Schäuble überreicht haben soll. Knapp acht Jahre ist es nun her, da stellte der holländische Journalist Rob Savelberg (De Telegraaf, Amsterdam) auf einer inzwischen ebenfalls legendären Pressekonferenz in Berlin diesbezüglich kritische und konkrete Fragen an Kanzlerin Angela Merkel. Eine zufriedenstellende Antwort erhielt er bis heute nicht. Wir haben nachgefragt.

Rob Savelberg, der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble wird 75 Jahre. Das erinnert an die legendäre Pressekonferenz im September 2009 mit Ihnen und eine „Sternstunde“ politischer Transparenz in Deutschland. Was haben Sie damals nach der doch eher dürftigen Antwort der deutschen Kanzlerin auf die Spenden-Schubladenfrage gedacht? 

Rob Savelberg

Rob Savelberg (Foto: R. Savelberg)

Merkel hat wie ein kleines Kind reagiert. Auf meine Frage, warum sie Schäuble vertraut, antwortete sie: „Weil ich ihm vertraue.“ Das ist so, als würde man ein Kind fragen, warum es Kekse mag und es dann sagt: „Weil ich Kekse mag.“ Das ist eine non-Antwort, die Merkel öfter benutzt.

Ich war da etwas fassungslos. Erstens, weil Schäuble bewusst den deutschen Bundestag über den Kontakt zum Waffenhändler und Lobbyisten Schreiber belogen hat. Zweitens weil das Geld, die Bargeldspende an ihn, verschwunden ist.

Und drittens war es Merkel, die bei der CDU-Spendenaffäre Aufklärung versprach und sowohl Kohl als auch Schäuble von der Bühne verdrängte. Dann ist es nicht sehr glaubwürdig, ausgerechnet diesen Mann mitten in der Finanzkrise, wo Banken vom Steuerzahler mit 500 Milliarden Euro an Geld und Garantien gerettet wurden, zum Herrn der Finanzen von 82 Millionen Deutschen zu machen. Er hatte bewiesen, dass er einerseits nicht mit geschenktem Geld umgehen konnte und andererseits in der Lage war, eine dreiste Lüge zu verbreiten.

Ihre berechtigte Frage ist bis heute nicht beantwortet worden, allerdings meiner Kenntnis nach auch nie erneut gestellt worden. Ein journalistisches Defizit?

Ja, klar. Es zeigt sich, dass die Erinnerung vor allem kurzfristig ist, auch bei Journalisten. Man sieht meistens nur das, was gerade passiert. Und daran gewöhnt man sich. Man nimmt Schäuble jetzt vor allem als Finanzminister in der Eurokrise wahr und weniger als einer, der nicht davor zurückschreckt, den Bundestag zu belügen oder dubiöse Spenden von zwielichtigen Waffenhändlern anzunehmen. Für deutsche Journalisten scheint dieses Thema abgehakt. Es gibt für sie, wie für viele Reporter überhaupt, nur das hier und jetzt. Und sie würden bestimmt weniger Interviews bekommen, wenn sie da gezielt nachfragen.

In Deutschland sind Politiker gegenüber Journalisten zur Auskunft zu Sachverhalten verpflichtet. Wie man sieht, sehen sich manche (auch hochkarätige) Amtsträger dahingehend nicht in der Pflicht. Ist das in Holland ähnlich?

Ich denke, da unterscheiden sich Politiker in westeuropäischen Ländern nicht wirklich viel. In den Niederlanden gibt es aber ein sehr starkes Informationsfreiheitsgesetz, das „Wet Openbaar Bestuur“ („WOB“), wobei man sehr viele amtliche Handlungen und Dokumente einsehen kann. Notfalls mittels Druck durch die Gerichte.

Sie haben damals hinsichtlich Ihrer hartnäckigen Nachfrage viel Zustimmung erhalten. Hat Sie das in Ihrem weiteren beruflichen Werdegang bestärkt?

Ja, schon. Die Reaktionen waren überwältigend. Die ausländischen Kollegen haben viel darüber gesprochen, ich musste in Holland viel über Deutschland erklären. Und manche deutschen Kollegen haben sich später gemeldet und fanden es peinlich, dass sie diese doch einfache Fragen nicht selbst formuliert hatten.

Gehen deutsche Journalisten in Ihrer Sicht zu zimperlich mit direkten Fragestellungen an Politiker um und wird auch das in Holland deutlich anders praktiziert?

Nein, dass glaube ich nicht. Die Fragen in der Bundespressekonferenz sind hin und wieder auch recht hart. Aber in Holland würde man sich nicht mit einer ‚Non-Antwort’ zufrieden geben und einfach nachbohren, so lange bis der Zuschauer, der Hörer oder der Leser eine richtige Antwort hat, die Sinn macht. Diese übertriebene Angst vor Autoritäten, der überhöhte Respekt vor dem Amt ist in Holland einfach nicht da. Diese Menschen repräsentieren uns nur temporär, es sind keine Monarchen.

Journalisten sind in unserer parlamentarischen Demokratie auf gute Drähte zu den Politikern angewiesen. Das schafft Abhängigkeiten. Wie oder wodurch ließe sich das relativieren?

Journalisten haben die Schwierigkeit, dass sie einerseits gute Informationen bekommen sollen, und andererseits bekommen sie die schneller, wenn sie erstmal nichts Schlechtes über einen Politiker sagen, schreiben oder senden. Ich denke, es wäre objektiver, wenn Journalisten ihr Parteibuch öffentlich machen würden und ihre privaten Beziehungen zu Politikern. Diejenigen, die privat bei den Politikern ins Haus kommen oder mit ihnen angeln gehen, sollten Interviews anderen überlassen.

Noch einmal zurück zur Schäuble Spenden-Affäre: 100.000 DM in bar – dümpelt das Geld möglicherweise noch in der Schublade oder besser gefragt, wie schleust man DM-Schwarzgeldspenden in den Eurokreislauf ein?

Wo die ominöse Bargeldspende geblieben ist, wurde nie deutlich. Herr Schäuble hat es nicht gemäß den Gesetzen für Parteispenden gemeldet, und seine ehemalige Schatzmeisterin, Frau Brigitte Baumeister, die Schuld gegeben. Es wurde laut Schäuble eine „sonstige Einnahme“ der CDU. Er hatte aber als Parteivorsitzender die Verantwortung. Und das Geld war verschwunden. CDU-Leute wie Walther Leisler Kiep und Wirtschaftsprüfer Horst Weyrauch wurden verurteilt.

Wir wünschen Wolfgang Schäuble natürlich auch von hier aus alles Gute zum 75. Geburtstag und gratulieren. Wenn Sie einen Wunsch bei ihm frei hätten, was wäre das?

Dass er die genauen Umstände der Spende nicht mit ins Grab nimmt, sondern die Öffentlichkeit präzise und unmissverständlich darüber unterrichtet, was da schief gelaufen ist und warum das alles so verdeckt stattfand.

 

Foto: Rob Savelberg

Folgen Sie der Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Der Beitrag Schäuble und die legendäre Bargeldspende erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

Ex-„Stern“-Reporter Gerd Heidemann: NS-Recherchen führten zu Konsequenzen (3/4)

$
0
0

Gerd Heidemann, der in den 1950er Jahren als freier Fotoreporter begann und 1955 bis 1983 als Reporter für das Nachrichtenmagazin „Stern“ tätig war, befasste sich auch intensiv mit NS-Recherchen und Reportagen über Alt-Nazis. Und zwar so intensiv, dass es zu Spekulationen kam. Heidemann habe – so wurde vermutet – insbesondere in Hinblick auf die vielen Treffen mit Alt-Nazis auf der ehemaligen Yacht Hermann Görings ernsthafte Begeisterung für die NS-Vergangenheit entwickelt. Heidemann hatte die Göring- Yacht erworben und mit großem Aufwand restaurieren lassen. In Teil III unseres vierteiligen Interviews berichtet Gerd Heidemann über brisante Recherchen zu Alt-Nazis, die stets zu ernsthaften Konsequenzen führten.

Einen relativ großen Teil Ihrer Arbeit machten auch NS-Recherchen und Reportagen über Alt-Nazis aus. War das der Grund, sich eigens die Yacht Hermann Görings – die „CARIN II“ – zu kaufen und umfangreich renovieren zu lassen? Oder gab es andere Gründe, warum Sie diese Yacht unbedingt haben wollten?

Foto: Gerd Heidemann

Foto: Gerd Heidemann

Der Kauf der früheren Göring-Yacht hatte eigentlich nichts mit meinen NS-Reportagen und Recherchen zu tun. Zwölf „Stern“-Redakteure beschlossen Anfang der 70ziger Jahre, einen Motorboot-Führerschein zu machen. Ich gehörte auch dazu.

Als die Schlußprüfung durchgeführt wurde, waren nur zwei übrig geblieben: Ulrich Bumenschein, der Leiter des Ressorts für Wissenschaft und Technik, und ich.

Wir beide bestanden die Prüfung, ich allerdings nur, weil ich drei Tage und drei Nächte durchgebüffelt und alle 300 Fragen, von denen ich mindestens 30 richtig beantworten musste, auswendig gelernt hatte. Denn wegen der ständigen Abwesenheit von Hamburg waren nicht nur meine Kollegen ausgeschieden, sondern auch ich hatte manchen Kursus-Abend versäumt.

Hermann Göring-Yacht "CARIN II"Einige Jahre später fragte mich Ulrich Blumenschein, ob ich mir denn schon ein Boot gekauft hätte. Wenn nicht, wüsste er eins für mich. Jetzt erfuhr ich, dass der Ressortleiter, für den ich oft Flugzeugabstürze und unter anderem auch die Reportage „Runter kommen sie immer“ recherchiert hatte, so nebenbei auch Herausgeber der Yacht-Zeitschrift „Boote“ war.

Er erklärte mir, dass er den „Stern“-Kollegen Graudenz nach Oberwinter bei Bonn schicken wollte, der ihm für die Yacht-Zeitschrift einen Bericht schreiben sollte. Schließlich handele es sich um die ehemalige Motoryacht Hermann Görings, die nach dem Krieg über ein Jahrzehnt lang die Yacht der britischen Krone gewesen sei und sogar den Namen des Kronprinzen „Prince Charles“ getragen hätte. Diese Yacht hätte die englische Königin an Frau Göring zurückgegeben und diese hatte das Boot wiederum einem Bonner Druckereibesitzer verkauft, der es nun ebenfalls wieder für 160 000 DM verkaufen wolle.

Gerd Heidemann Auf der "CARIN II"Das war dann die Gelegenheit für Sie, zuzugreifen?

Sicher und damals sagte ich zu Ulrich Blumenschein, dass man das Schiff nach Amerika weiter verkaufen könnte. Und ich fragte ihn: „Wollen wir es nicht gemeinsam kaufen und dann einen Käufer in Amerika suchen?“ Er fand die Idee anfangs sehr gut, aber bevor ich mit meinem Kollegen Graudenz nach Oberwinter abreiste, machte er einen Rückzieher, da ihm seine Frau von dem Kauf abgeraten hatte. Ich sollte aber das Schiff für den Bericht fotografieren.

Bei unserem Besuch an Bord des ziemlich heruntergekommenen Schiffes, gab es noch einen anderen Interessenten. Darum fragte ich kurzentschlossen den Eigner, ob er mir das Schiff verkaufen würde, wenn ich es in drei Jahresraten abzahlen dürfe. Er stimmte zu und auf einem Bogen Schreibpapier des Steigenberger Hotels in Bonn entwarfen wir den Kaufvertrag. Nun war ich zwar noch nicht der stolze Eigner dieser 27,5 Meter langen Dreischrauben-Motoryacht, durfte aber das Schiff einige Monate später nach Hamburg holen und mit der Renovierung beginnen. Nach und nach schleppte mir mein Kollege Jochen von Lang, der sich beim „Stern“ für Zeitgeschichte zuständig fühlte, einige frühere SS-Generäle und andere zeitgeschichtliche Persönlichkeiten an Bord, damit mir diese etwas über die Geschichte des Schiffes erzählen sollten.

vertr5Hat sich auch Henry Nannen für Ihre Neuanschaffung interessiert und Sie an Bord besucht?

Nannen, der ja ebenfalls Eigner einer Motoryacht war, wollte mein Schiff sehen und schloss mit mir sogar einen Buchvertrag zum Thema „Bordgespräche“ ab. In dem musste ich mich verpflichten, weiter solche Personen der Zeitgeschichte einzuladen, das Schiff dafür in einen repräsentativen Zustand zu versetzen und es drei Jahre lang für diese Gespräche dem Verlag Gruner + Jahr zur Verfügung zu stellen.

Noch am selben Tag erhielt ich dafür einen Vorschuss von 60 000 Mark. Das war dann auch der Grund, warum ich in der Folgezeit immer wieder Generäle aus der NS-Zeit und ihre Gegner von einst auf das Schiff einlud und die Gespräche mit deren Genehmigung auf Tonband aufzeichnete. Aber immer wenn ich Zeit brauchte, um die Bänder abzuschreiben, schickte mich Nannen wieder in die Weltgeschichte hinaus, so dass das Buchmanuskript nie fertig wurde.

Da auch mein Kollege Jochen von Lang diese ehemaligen SS-Führer duzte, boten diese auch mir bald das Du an. Aber auch der ehemalige amerikanische Kommandant des Kriegsverbrecher-Gefängnisses von Spandau, Colonel Eugen K. Bird, wurde bald ein guter Freund und hielt auch nach der Hitler-Tagebuch-Affäre zu mir.

 

Alle Fotorechte:
Gerd Heidemann; Animation: U. Pidun/SPREEZ.

Es wurde und wird vielfach noch heute spekuliert, Sie hätten sich anlässlich solcher Recherchen und insbesondere in Hinblick auf viele Treffen mit Alt-Nazis auf der „CARIN II“ tief in die NS-Vergangenheit verstrickt. Deutlicher ausgedrückt, vermuteten und vermuten viele, sie hätten ernsthafte Begeisterung für die NS-Vergangenheit entwickelt und würden Sympathien dafür hegen?

Spekulieren kann man ja viel. Fakt ist, dass Recherchen in diesem Bereich nun einmal Kontakte erforderten. Was die NS-Themen betraf, so hatte ich ja bereits im April 1955, als ich noch freier Journalist war, einen Fotobericht über eine KZ-Sammlung unter dem Titel „Archiv des Grauens“ fertiggestellt. Meine Fotos erschienen am 23.April 1955 im „Hamburger Echo“ und in der Münchner Illustrierten, Ausgabe Nr.17/55. Ein Jahr später spürte ich in Lübeck den ehemaligen Oberreichsanwalt Ernst Lautz auf und fotografierte ihn. Nach der Veröffentlichung meiner Reportage im „Stern“ Nr. 5 vom 04.02.56, die unter dem Titel „Fürstlicher Lohn für des Teufels Anwalt“ erschien, wurde ihm die Pension um etwa die Hälfte gekürzt.

Anschließend berichtete ich über Lina Heydrich, die Witwe von Reinhard Heydrich, die elf Prozesse gegen die Bundesregierung führte. Diese Bildreportage erschien im „Stern“ Nr. 19 vom 12.05.56 unter dem Titel: „Für unser Geld!“ Quasi als Sport betrieb die Witwe des berüchtigten SD-Chefs Heydrich Prozesse um eine Rente.

Gerd Heidemann auf der "CARIN II"Diese komplexen Recherchen führten also tatsächlich auch zu weiteren, ernsthaften Konsequenzen?

Ja, die Recherchen hatte durchaus weitreichende Konsequenzen. Beispielsweise erregte auch ein Bildbericht über den berüchtigten KZ-Arzt Professor Dr. Carl Clauberg großes Aufsehen und führte zu einem Ermittlungsverfahren. Denn es war mir gelungen, heimlich in das Kieler Gefängnis zu gelangen, Fotos von Clauberg zu machen und auch wieder hinaus zu gelangen, ohne dass es ein Justizvollzugsbeamter mitbekommen hatte. Daraus wurde „Der Fall Clauberg: Die Wunden werden aufgerissen. Nach 13 Jahren wird der Frauenarzt Professor Clauberg für seine Taten in Auschwitz vor einem deutschen Gericht stehen.“Veröffentlicht wurde dies im „Stern“ Nr.3 vom 19.01.1957.

Danach folgte ein Bericht im „Stern“ Nr. 20 des Jahres 1965 über die blutige NS-Vergangenheit des Wiesbadener Polizeichefs Oskar Josef Christ unter dem Titel: „Diesmal kein Händedruck. Die Vergangenheit des Wiesbadener Polizeichefs überschattet den Königin Besuch“. Christ musste deshalb sein Amt aufgeben. 1978 bat mich Erich Kuby, für den ich bereits die Fibag-Affäre und die Konsul-Weyer-Story recherchiert hatte, um Recherchen über den SS-General Jürgen Stroop. Der hatte den Warschauer Aufstand niedergeschlagen und wurde für seine Taten von den Polen hingerichtet. Die Geschichte erschien im „Stern“ Nr. 43 am 10.10.1978 und trug den Titel „Protokoll aus der Hölle“. Anschließend musste ich mich auf Wunsch Erich Kubys, der mich deshalb von Henri Nannen angefordert hatte, monatelang mit Recherchen über Benito Mussolini beschäftigen. Wobei ich dann den Auftrag bekam, dazu alle ehemaligen in Italien stationierten SS-Führer zu befragen.

Und wann kam SS-General Wolff ins Spiel? Mit ihm sagte man Ihnen damals eine besonders enge Freundschaft nach?

Wolff kam anlässlich dieser intensiven Mussolini-Recherchen ins Spiel. Denn ich erhielt auch Informationen über die Flucht der Nazis nach Südamerika und schlug dieses Thema unter dem Arbeitstitel „SS-Export“ vor. Ich überredete den ehemaligen SS-General Karl Wolff mit mir nach Südamerika zu reisen, um mir dort die Türen bei den von mir aufzuspürenden SS-Flüchtlingen zu öffnen. Bei dieser Gelegenheit wollte ich auch nach Dr. Josef Mengele suchen und herausbekommen, ob Martin Bormann Berlin überlebt hatte und jemals nach Südamerika gelangt war.

 

Alle Fotorechte:
Gerd Heidemann; Animation: U. Pidun/SPREEZ.

Ist es zu dieser Reise dann tatsächlich auch gekommen?

Ja, ich trat die Reise im Juni 1979 an, nachdem ich zwei Monate zuvor noch in Uganda war. Dort hatte ich den Sturz des Diktators Idi Amin miterlebt und geholfen, die Leichen meiner ermordeten Kollegen zu bergen. Und nur, weil sich im Laufe der Monate ein fast freundschaftliches Verhältnis zwischen dem damals 79-jährigen Karl Wolff und mir entwickelt hatte, bekam ich alle Informationen von ihm, die er bisher verschwiegen hatte. Darum war er auch bereit, gegenüber seinen ehemaligen Untergebenen für mich zu bürgen, so dass sie mir ihre Fluchtgeschichten erzählten. Und sie beichteten mir auch, für welchen westlichen Geheimdienst sie nach dem Krieg gearbeitet hatten. Klaus Barbie, der ehemalige SD-Chef von Lyon, versprach sogar, mich mit Dr. Mengele zusammen zu bringen. Er wusste allerdings damals noch nicht, dass Mengele im Februar 1979 beim Baden in Brasilien ums Leben gekommen war.

Karl Wollf, ehemaliger SS-General Daraus wurde dann ebenfalls eine spektakuläre „Stern“-Reportage?

Nicht sofort, sondern erst später. Denn nach meiner Rückkehr wollte die Chefredaktion des „Stern“ meine Reportage zuerst nicht veröffentlichen, weil man frühere SS-Leute nicht als Zeugen gegen die katholische Kirche benutzen wollte. Denn die Kirche hatte ja bei der Flucht vieler SS-Männer durch deren Unterbringung in italienischen Klöstern und der Ausstellung von Rot-Kreuz-Pässen geholfen. Außerdem erkannte man nicht die Bedeutung Klaus Barbies und so wurde das Interview mit ihm erst ein Jahr später in der „Stern“-Ausgabe Nr. 42/80 unter dem Titel: „Die neue Macht des alten Nazi“, veröffentlicht.

Obwohl mein Schiff dadurch an Wert verlieren konnte, entlarvte ich den ehemaligen Eigner Hermann Göring in einer „Stern“-Veröffentlichung einige Hefte vorher, wie er sein Lieblings-Jagdrevier im Urwald von Bialowieska von Luftwaffensoldaten „partisanen- und judenfrei“ machen ließ. Erschienen ist diese Reportage übrigens unter dem Titel „Der Menschenjäger“ im „Stern“, Ausgabe 37/80. Nachdem Klaus Barbie zwei Jahre später in die Hände der Franzosen gefallen war und in Lyon vor Gericht gestellt werden sollte, war mein Interview plötzlich die große Sensation. Unter dem Titel „Das Geständnis“ im „Stern“ Nr. 7 wurde es am 10. Februar 1983 abermals veröffentlicht und dann weltweit nachgedruckt.

Lesen Sie in Teil IV: „Journalisten sind immer nur so gut wie ihre letzte Geschichte“

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Das Gespräch führte Ursula Pidun
Alle Fotorechte: Gerd Heidemann;
Fotobearbeitung und Flashanimationen up/SPREERAUSCHEN.net

Der Beitrag Ex-„Stern“-Reporter Gerd Heidemann: NS-Recherchen führten zu Konsequenzen (3/4) erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

Der Rücktritt ist ein Ritual

$
0
0

Die meisten Politiker treten ohne Not nicht zurück. Für den Rest wird das Prozedere zu einem Ritual, glaubt der Historiker Dr. Michael Philipp. Der Experte hat schon 2007 zu diesem Thema eine Publikation zu Verhaltensweisen von Politikern herausgebracht, die entweder gar nicht, nur mit Ach und Krach oder tatsächlich auch einmal mit Würde aus dem Amt geschieden sind. Letztere sind deutlich in der Minderheit. Nachgefragt. Im Gespräch mit dem Autor der Publikation Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen.

Fotorechte: Dr. Michael Philipp

Fotorechte: Dr. Michael Philipp

Was war der Stein des Anstoßes, Rücktritte hochrangiger Politiker unter die Lupe zu nehmen?

Für meine Beschäftigung mit dem Thema „Rücktritt“ gab es keinen konkreten Anlass, es war nicht ein einzelner spektakulärer Vorfall, der mein Interesse auf dieses Phänomen gelenkt hätte. Als Historiker achte ich auf wiederkehrende Vorgänge und Abläufe, auf Verhaltensmuster und ihre Variationen und irgendwann fiel mir auf, dass politische Rücktritte ein spannendes und überdies aussagekräftiges Beispiel wiederkehrender Vorgänge sind.

Schon beim Vergleich nur weniger Rücktritte habe ich festgestellt, dass die einzelnen Schritte bis zu einem Rücktritt – etwa die Berichterstattung der Medien, das Krisenmanagement bei einer Skandalisierung, das Verhalten der Parteifreunde – fast immer denselben Schemata und Mechanis­men folgen. So ist der Rücktritt ein Ritual, und wie jedes Ritual dient es der gesellschaftlichen Regelung und Kommunikation: Rücktritte und die Diskussionen um ihr Für und Wider sagen viel über die politische Kultur aus.

Wenn ich noch die Zielgruppe meiner Untersuchung präzisieren darf: mein Blick richtete sich nicht primär auf „hochrangige“ Politiker, sondern auf Regierungschefs und -mitglieder in Bund und Ländern, also auf Kanzler, Ministerpräsidenten und Minister, außerdem auf den Bundestags­präsidenten. Das sind Repräsentanten der Verfassung, und während andere politische Posten – etwa der eines Parteivorsitzenden – Vereinsangelegenheiten sind, ist die ordnungsgemäße Führung eines Amtes im Verfassungsrang eine Frage, die an den Bestand der Demokratie rührt.

Ihre Publikation ist auch eine beachtliche Recherchearbeit. Wie lange haben Sie an dem Buch gearbeitet?

Von der ersten Idee zu diesem Buch bis zur Drucklegung sind fünf Jahre vergangen. In diesem Zeitraum habe ich nicht ausschließlich an diesem Projekt gearbeitet, in den Phasen des Recherchierens und Auswertens der Materialien gab es immer mal eine Pause.

Die Recherche war sehr aufwendig – zum einen musste ich erst einmal ermitteln, welche Rücktritte es in der Bundesregierung und den Landesregierungen seit 1950 gegeben hat, zum zweiten musste ich für jeden Fall die Fakten zusammentragen, um Abläufe, Ursachen und Hintergründe jeweils zu rekonstruieren. Ich habe wochenlang in Bibliotheken gesessen und aus Biographien, Autobiogra­phien, Epochendarstellungen und Regionalgeschichten Informationen über einzelne Rücktritte geholt. Das war aber nur für die wenigen Dutzend der spektakulären Fälle – wie Franz Josef Strauß, Uwe Barschel, Konrad Adenauer, Willy Brandt – möglich.

Die meisten Rücktritte, vor allem die in Landesregierungen, sind nicht in die Geschichts­schreibung eingegangen, weil sie kaum Aufmerksamkeit erregt hatten, weil sich Skandale rasch erledigt hatten oder weil sie nur von regionaler Bedeutung waren. Die meisten Informationen über solche Rückt­ritte habe ich aus dem Zeitungsausschnittarchiv der Freien Universität Berlin – eine hervorragende Sammlung, die über Jahrzehnte alle Tageszeitungen der Bundesrepublik ausgewertet hat. Nur durch dieses reiche zeitgenössische Quellenmaterial war es möglich, die Fälle detailliert nachzuvollziehen.

Die Materialsuche und -erschließung hat sich jahrelang hingezogen. Die Phase des Schreibens, in der ich nichts anders getan habe, als die gewonnenen Fakten auszuwerten und in eine narrative Struktur zu bringen, hat etwas über anderthalb Jahre gedauert.

Treten Frauen anders zurück als Männer? Oder sind Auswüchse von Eitelkeiten eher geschlechtsneutral?

Bisher hat es zu wenig Rücktritte von Frauen gegeben, um eine fundierte Aussage über geschlechts­spezifisches Verhalten bei Amtsniederlegungen treffen zu können. Die Frage ist aber spannend, weil sie an das grundsätzliche Thema reicht, ob Politikerinnen anders agieren oder ein anderes Amtsverständnis haben als Männer. Das wird sich in Bezug auf Rücktritte vielleicht in einigen Jahren oder Jahrzehnten beantworten lassen.

Auf zwei Aspekte dieses Themas möchte ich aber kurz eingehen. Das ist zum ersten der Umstand, dass Frauen bei einer Skandalisierung anscheinend schneller zurücktreten als Männer – es gibt kein Beispiel, dass eine Politikerin monatelang skandalisiert wurde und ihren Rücktritt hinausgezögert hätte wie es – als Extrembeispiel – Hans Filbinger getan hat. Skandalisierte Politikerinnen treten relativ schnell zurück, etwa die Bundesministerinnen Andrea Fischer oder Herta Däubler-Gmelin. Diese geringe Beharrlichkeit könnten Sie mit mangelnder Widerstandskraft oder zu geringer Verankerung in Partei- und Fraktionsstrukturen erklären. Aber das führt in die Irre. Einer­seits waren gerade diese beiden Fälle durch die aktuelle Situation geprägt, andererseits gibt es hinreichend Beispiele dafür, dass auch bei Männern die Durchhaltekraft nicht eben ausgeprägt sein muss; die prominentesten und tragischsten Beispiele gaben Willy Brandt und Björn Engholm.

Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Beobachtung, dass unter den so wenigen Rücktritten aus Protest immerhin drei von Frauen sind. Die Ministerinnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Marianne Birthler und Christa Thoben haben sich aus Gründen ihrer politischen Ansichten, ihres Verständnisses von politischem Anstand oder ihrer Selbstachtung den Zumutungen ihrer Partei oder ihres Regierungschefs entzogen. Auch hier lässt sich aus den wenigen Fällen noch nicht auf ein besonders von Frauen realisiertes Prinzip schließen, aber vielleicht wird es mal eines.

Welcher Rücktritt hat Sie persönlich – im positiven oder negativen Sinne – am meisten fasziniert und warum? 

Zu den beeindruckenden und sympathischen Fällen gehören die eben genannten Rücktritte aus Protest. Zu ergänzen sind da noch Gustav Heinemann, der erste Zurücktretende der Bundesrepublik, der 1950 mit seiner Demission gegen Adenauers Wiederbewaffnung protestierte, und Erhard Eppler, der die neue Politik von Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht mittragen konnte, weshalb er 1974 als Minister für Entwicklungshilfe zurücktrat.

An positiven Rücktritten gibt es nicht so viele; zu den gelungenen Fällen gehört der von Hans-Dietrich Genscher als Außenminister: auf der Höhe seines Ansehens, ohne erkennbaren äußeren Anlass. In völliger Freiwilligkeit abzugehen, gelingt den Wenigsten. Diese Leistung ist beeindruckend, weil sie ein Zeichen von Selbstdistanz und Realitätsbewusstsein ist; beides ist unter Politikern nicht eben verbreitet.

Auf der anderen Seite stehen die unangenehmen Beispiele. Am erschreckendsten war der Fall von Hans Filbinger, der sich an Uneinsichtigkeit nicht überbieten lässt; fatal war der Rücktritt von Rainer Barzel, der als Heuchler und Abkassierer dastand; am dringlichsten war der Rücktritt von Uwe Barschel, der in den schmierigsten Skandal der Bundesrepublik, die Aktionen gegen Björn Engholm, verwickelt war. Und dann gibt es noch die unterbliebenen Rücktritte, etwa die Rücktrittsverweigerung von Manfred Wörner. Das war derjenige Minister, der sich trotz gröbsten Fehlverhaltens im Amt halten konnte – das wird immer als Makel der Regierung von Helmut Kohl haften bleiben. Dieser Spezies der ausgebliebenen Rücktritte habe ich ein eigenes Kapitel gewidmet.

Sie mahnen zu einer Rücktritts-Kultur. Sie glauben, dass es sie eines Tages geben kann?

Es gibt ja bereits eine Rücktrittskultur – allerdings in Großbritannien. In meiner Untersuchung habe ich mich auf die Bundesrepublik beschränkt, weil ein internationaler Vergleich ein eigenes Thema wäre, aber bei verschiedenen Gelegenheiten habe ich auch die Verhältnisse in Großbritannien erwähnt. Dort sind Politiker schneller bereit, Verantwortung für einen Missstand zu übernehmen, aus Achtung vor der Demokratie ihr Amt aufzugeben. Ob sich deutsche Politiker ein solches Amtsverständnis zum Vorbild nehmen werden, vermag ich nicht vorherzusagen. Auf absehbare Zeit scheint mir das nicht wahrscheinlich, da müsste sich wohl das Karrieredenken und die stringente Lebensplanung grundlegend ändern. Aber warum sollte es nicht dazu kommen? Es ist nicht verkehrt, in längeren Zeiträumen zu denken. In einem historischen Kapitel meines Buches betrachte ich Amtsniederlegungen vergangener Jahrhunderte – von Sulla und Diokletian in der Römerzeit über Karl V. im 16. Jahrhundert bis zu Christina von Schweden. Deren Abdankungen – alle freiwillig zustande gekommen – sind auch Beispiele für umsichtige Amtsniederlegungen. Im übrigen braucht es für eine Kultur des Rücktritts gar nicht so viele Fälle – schon zwei bis drei gelungene Rücktritte pro Jahr könnten zu einem Imagewandel des Rücktritts führen und langsam zum Wachsen einer Rücktrittskultur beitragen.

Werden Sie zukünftige Rücktritte in einer späteren Auflage ergänzen?

Es ist keineswegs auszuschließen, dass in den kommenden Jahren weitere Fälle das Spektrum der Rücktritte bereichern. Dieses Phänomen ist so vielschichtig, die Varianten im Verhalten der Beteiligten sind so unerschöpflich, dass immer etwas Neues dazukommt. Allerdings gehe ich davon aus, dass ich in meiner Typologie der Rücktrittsgründe die wesentlichen Varianten beschrieben habe – von biographischen und politischen Gründen über Protest bis zu den verschiedenen Möglichkeiten des Fehlverhaltens ist alles systematisch erfasst. Das gilt auch für die Faktoren, die zu einem Rücktritt führen können – von der Bedeutung des Regierungschefs über den Sinn von Rücktritts­forderungen und Drohungen bis zur Rolle der Medien habe ich die wesentlichen Elemente behandelt. Wenn aber ein künftiger Rücktritt nicht nur eine Abwandlung bekannter Muster enthält, wenn er die Geschichte des Rücktritts nicht nur um eine spektakuläre oder kuriose Anekdote bereichert, würde ich ihn sicher in einer späteren Auflage des Buches würdigen.

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Der Beitrag Der Rücktritt ist ein Ritual erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.


Politik ist kein triviales Geschäft

$
0
0

Foto: Politiker suggerieren enormes Fachwissen. Was steckt tatsächlich dahinter?
(Foto: travelwitness / Clipdealer.de)

Hinter dem vermeintlichem Wissen und grenzenloser Sachkunde unserer Politiker stehen unzählige Berater, die geeignete Strategien entwickeln um Politikern tagein und tagaus die aus ihrer Sicht wichtigen und richtigen Antworten soufflieren. Strategische Grundsatzarbeit – so lautet die Devise. Dies hat in der Politikwissenschaft, aber auch im politischen Betrieb Hochkonjunktur und betrifft natürlich auch die zurückliegende, weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise. Fragen nach Zukunftsthemen, die angegangen werden müssen, warten auf professionelle Beantwortung. Haben sich in der Vergangenheit politische Konzepte bereits bewährt, sodass sie weiter verfolgt werden können oder müssen Lösungsstrategien ganz neu angedacht werden? Wie sieht es mit den finanziellen Spielräumen aus? Lassen sie sich gegebenenfalls erweitern, um damit gleichzeitig auch den Handlungsspielraum ausweiten zu können? Fragen über Fragen, denen wir uns gemeinsam mit unserem Gesprächspartner Dominic Schwickert widmen. Der Politikwissenschaftler hat zu diesen Themen ein Buch mit dem Titel: „Strategieberatung im Zentrum der Macht: Strategische Planer in Regierungszentralen“ geschrieben.

Dominic Schwickert

Dominic Schwickert (Foto: D.S.)

Dominic Schwickert, in Ihrem Buch geht es um politische Strategieberatung von Regierungschefs. Warum benötigen altgediente Politiker überhaupt so viel Beratung?

Politik ist in einer modernen, wissensbasierten Gesellschaft alles andere als ein triviales Geschäft. Regierungschefs sind daher auf Heerscharen von Fachexperten angewiesen, die ein Problem gleichermaßen in seiner Tiefe und Breite durchdringen können. Diese Experten sammeln und bewerten täglich Informationen, bereiten Themen auf und entwickeln konkrete Handlungskonzepte.

Inhalte sind das eine, es geht aber vor allem auch um Macht?

Genau, in der Politik geht es nicht nur um Inhalte, sondern auch um Macht. Um im politischen Haifischbecken zu überleben und Politik nach eigenen Wertvorstellungen gestalten zu können, brauchen Regierungschefs deshalb stets einen genauen Überblick über Stimmen und Stimmungen: Bin ich mit meiner Position im Parlament und im Kabinett mehrheitsfähig? Wie ist die Gemütslage an der Parteibasis? Was sagen die neusten Umfragen und die Kommentarspalten der Leitmedien? Und was denkt und plant gerade der politische Gegner? Für derartige Fragen braucht ein Regierungschef Kommunikationsprofis in seinem Umfeld, die über ein feines politisches Gespür verfügen. Die Unterscheidung zwischen der Fach- und der Kommunikationsberatung ist aber natürlich nur eine idealtypische. In der politischen Praxis sind die Grenzen hier fließend. Die uneingeschränkte Loyalität zum Regierungschef ist jedoch bei beiden Beratungsformen Grundvoraussetzung.

Ist die Frage der Loyalitäten nicht genau der Knackpunkt in der Politikberatung?

Absolut! Auf dem politischen Beratermarkt tummeln sich so einige Akteure, die sich selbst gern als Politikberater bezeichnen, aber im Grunde letztlich klassisches Lobbying betreiben. Wobei man auch sagen muss: Lobbyismus hat unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten durchaus eine Existenzberechtigung. Durch ihn gelangen die legitimen Interessen wichtiger gesellschaftlicher Akteure samt ihrer Fachexpertise in den politischen Prozess. Und schließlich sind Greenpeace, Amnesty International oder der DGB letztlich auch politikberatende Lobbyorganisationen, wenn auch in den Augen vieler „für die gute Sache“.

Wie können solche Beratungen legitim bleiben?

Wichtig ist, dass die Politik bei interessengeleiteter Politikberatung – nichts anderes ist Lobbyismus – zu jeder Zeit Herr des Verfahrens bleibt. Dafür muss Lobbyarbeit als solche transparent sein, das ist entscheidend. Die Hotelsteuer bei der Amtsübernahme der schwarz-gelben Bundesregierung hat es gezeigt: Sobald eine Regierung auch nur in den Verdacht von Klientelpolitik und einseitiger Beeinflussung gerät, bekommt sie ein Problem. Und das ist auch gut so.

Warum haben Sie diese Lobbyismus-Problematik nicht zum Hauptthema Ihres Buches „Strategieberatung im Zentrum der Macht“ gemacht?

An der äußerst spannenden Frage nach der Legitimität von Lobbyismus haben sich in den letzten Jahren schon einige Politikwissenschaftler abgearbeitet. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass sich die Debatte zu stark auf die Arbeit von externen Organisationen wie Agenturen, Stiftungen, Unternehmensberatungen und Kanzleien fokussiert.

Dies hat augenscheinlich auch ein wenig Überhand genommen.

Sicher: die externe Politikberatungsbrache ist dynamisch und boomt. Und natürlich erregt es die Gemüter, wenn irgendwelche Kreativköpfe aus einer knalligen Werbeagentur oder die hochbezahlten McKinseys und Roland Bergers im Nadelstreifen in die heiligen Regierungshallen einmarschieren. Das hat etwas Glamouröses und gleichzeitig gerade im Hinblick auf Steuergelder etwas Unanständiges. Und obwohl diese Beratungsbeispiele viel Aufmerksamkeit erzeugen, spiegeln sie meines Erachtens nur einen sehr kleinen Teil des deutschen Regierungsalltags wider. So haben es in Deutschland viele externe Politikberater immer noch schwer, im Zentrum der politischen Macht Fuß zu fassen. Grund dafür ist insbesondere der Faktor Vertrauen im Dunstkreis der Regierungschefs. Interne Beratung besitzt deshalb einen großen Loyalitätsvorschuss gegenüber externer Beratung, weshalb letztere immer nur ergänzend aber niemals ersetzend sein kann.

Was hat Sie angetrieben, sich eingehender mit der „Beratung von innen“ zu befassen?

Der Einfluss dieser öffentlichkeitsfernen und geräuschlosen Form der Politikberatung auf die Entscheidungen einer Regierung ist kaum zu überschätzen. Deswegen wollte ich mich tiefergehend mit dem Innenleben von Regierungsorganisationen auseinandersetzen. Ich habe mich gefragt: Wie gelangen innovative Ideen und zukunftsweisende Konzepte zu den politischen Entscheidungsträgern? Wie laufen die regierungsinternen Beratungsprozesse konkret ab? Wer sind die regierungsinternen Strategieberater der Regierungschefs und wie arbeiten sie? Mein erklärtes Ziel war es zunächst, die regierungsinternen Strukturen und Abläufe besser zu verstehen. Darauf aufbauend habe ich mich der Frage gewidmet, wie die Strategieberatung der Regierungschefs optimiert werden kann.

Was genau bedeutet dann „Strategieberatung der Regierungschefs“?

In jeder Regierung gibt es – meist in den Grundsatz- und Planungseinheiten der Regierungszentralen – Mitarbeiter, die den Regierungschef in grundsätzlichen und vor allem langfristigen Fragen beraten. Regierungschefs bewegen sich hauptsächlich auf dem sehr taktisch geprägten Parkett der Tagespolitik. Sie haben im politischen Alltagsgeschäft meist eine so hohe Termindichte zu bewältigen, dass ihr Zeitbudget für strategische Fragen äußerst begrenzt bleibt. Joseph Schumpeter hat Regierungschefs einmal mit Reitern verglichen, die einen Großteil ihrer Zeit darauf verwenden, sich selbst im Sattel zu halten, so dass sie keinen Gedanken daran verschwenden können, wohin die Reise gehen soll. Das ist sicherlich überzeichnet. Aber richtig ist, dass ein Regierungschef auf konzeptionelle und strategische Köpfe innerhalb seines Apparats angewiesen ist, die die Themen von morgen und übermorgen im Blick haben und damit im Idealfall Antworten auf Fragen bereit halten, die von der Politik heute noch gar nicht gestellt werden.

Strategisches Regieren könnte man dann also als ein „Vordenken“ in der Politik bezeichnen?

Ja, so könnte man es sagen. Regieren bedeutet nicht nur die Amtsgeschäfte zu verwalten oder Krisen zu managen. Regieren heißt auch, eine Vision davon zu entwickeln, wo das Land in 10, 15 oder 20 Jahren stehen soll. Dafür braucht man übergeordnete Ziele, Leitprinzipien und vor allem innovative Ideen. Nichts anderes ist Strategie. Vielleicht ist es an dieser Stelle wichtig, den Strategiebegriff noch etwas enger zu fassen als er häufig im politischen Alltagsgebrauch verwendet wird. Im Wahlkampfkontext beispielsweise bezieht sich Strategie häufig ausschließlich auf machtpolitische Aspekte wie den Wahlsieg oder die Verbuchung politischer Erfolge. Das ist aber nur ein verkürztes Verständnis von politischer Strategie. In einem umfassenderen Verständnis geht es darum, langfristige Gestaltungs- und Machtziele gleichermaßen zu verfolgen. Letztlich liegt der politischen Strategie das Ideal einer aktiven und vor allem zukunftsorientierten Politikgestaltung zugrunde.

Viele politische Beobachter sprechen von einer zunehmenden Ohnmacht der Politik. Was halten Sie von dieser Einschätzung?

Angesichts von Globalisierung und Europäisierung kann man diese Einschätzung sicherlich teilen, da durch diese Entwicklungen wesentliche Entscheidungen nicht mehr nur in Berlin, München oder Düsseldorf getroffen werden. Die bisweilen schrillen Abgesänge auf die Gestaltungskraft von Politik kann ich aber nicht nachvollziehen.

Warum nicht?

Ich bin der festen Überzeugung, dass den Regierungen in Bund und Ländern nach wie vor genügend strategischer Handlungsspielraum verbleibt, der aber auch genutzt werden will. So leben wie in einer Netzwerkgesellschaft, in der Wissensressourcen immer dezentraler verteilt sind. Das privilegierte Herrschaftswissen gibt es immer weniger und deshalb muss sich die Politik völlig neu ausrichten. Zur Politik im 21. Jahrhundert gehören die stärkere interdisziplinäre und sektorübergreifende Ausrichtung unseres Denkens und Handelns sowie vor allem die Beteiligung der Zivilgesellschaft. So bleibt die Politik handlungsfähig. Zudem lassen sich die großen Zukunftsthemen wie Bildung, Energie, Migration, Demographie und Strukturwandel immer weniger in das enge Korsett von klassischen Ressorts pressen. So wird die Liste ressortübergreifender Herausforderungen immer größer. Regieren wird dadurch anspruchsvoller, aber noch lange nicht ohnmächtig. Im Gegenteil: Wir treffen heute die relevanten Entscheidungen, wie unsere Welt im Jahre 2020 oder 2030 aussehen wird.

Können Sie dazu konkrete Beispiele benennen?

Denken Sie nur an die Debatte um die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke, die Anwerbung ausländischer Fachkräfte oder die Förderung der Elektromobilität und Nanotechnologie. Aber auch die Sicherung der sozialen Sicherungssysteme, der Schuldenabbau oder der Umbau der Bundeswehr sind zukunftsträchtige Themen, die eher heute als morgen anzugehen sind. Aufgrund von Langfristwirkungen und Pfadabhängigkeiten stellen wir mit den Entscheidungen von heute die wesentlichen Weichen für das Leben von morgen. Mutige Beispiele für erfolgreiche Strukturreformen der letzten Jahre sind vielleicht die Rente mit 67 oder der Ausbau der Kinderkrippen, die seinerzeit Franz Müntefering und Ursula von der Leyen gegen massiven Widerstand aus den eigenen Reihen durchgesetzt haben. Oder die Agenda 2010 von Gerhard Schröder, die trotz handwerklicher Fehler und massiver Kommunikationsdefizite jetzt in der Wirtschaftskrise erst ihre Wirkung voll entfaltet hat und letztendlich ein großer Erfolg war. Politische Herausforderungen früh genug erkennen und auch ohne unmittelbaren Leidensdruck den Wandel einläuten – das ist der Grundstein für eine zukunftsfähige Regierungspolitik. Leider kommt das in der politischen Praxis nur selten vor.

Gut, aber werden manche „mutigen“ Entscheidungen, die Politiker in Hinblick auf die Zukunft treffen, nicht oftmals viel zu früh beurteilt?

Das stimmt, viele Beschlüsse werden allzu schnell mal zu historischen Entscheidungen stilisiert. Was die „Krippen“ und die „Rente mit 67“ anbelangt, lehnt man sich aber – glaube ich – nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man sagt, dass hier etwas Zukunftsweisendes auf den Weg gebracht wurde. In der Familien- und Rentenpolitik besteht angesichts des gesellschaftlichen Wandels einfach grundlegender Reform- und Anpassungsdruck. Auch wenn sich nun die SPD wieder von ihrem Beschluss zur Rente mit 67 oder ihrer Agenda-Politik distanziert, keine Partei kann die demographischen Realitäten dauerhaft verleugnen. Ich bin schon der Meinung, dass die Agenda 2010 in gewisser Weise Deutschland ein Stück weit zukunftsfester gemacht hat.

Hat die Agenda 2010 aber nicht auch bewusst einen Niedriglohnsektor installiert, der, wie beispielsweise im damaligen Falle Schlecker, Missbrauchsfälle in der Zeitarbeit überhaupt erst ermöglicht?

Fälle wie Schlecker dürfen sich nicht wiederholen. Das gezielte „Outsourcen“ von vormals festangestellten Mitarbeitern an externe Dienstleister, die die Arbeitnehmer im selben Unternehmen für deutlich weniger Gehalt weiterbeschäftigen, ist ein riesiger Skandal. Aber damit sollte man nicht die ganze Zeitarbeit verurteilen, die gerade in der Wirtschaftskrise ein wichtiges arbeitsmarktpolitisches Instrument dargestellt hat. So hat die Zeitarbeit zusammen mit Arbeitszeitkonten und Kurzarbeitergeld dafür gesorgt, dass die Arbeitslosenquote in Deutschland im Gegensatz beispielsweise zu Spanien in den Krisenjahren 2008 und 2009 relativ stabil blieb. Und wenn man sich die Zahlen genauer anschaut, sieht man, dass die Mehrheit der Zeitarbeitnehmer aus der Arbeitslosigkeit kommen. So widersprüchlich es scheint: Die Zeitarbeit leistet letztlich damit auch einen wesentlichen Beitrag zum Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland. Gerade für Langzeitarbeitslose kann sie ein erfolgversprechendes Sprungbrett in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sein, wie eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kürzlich gezeigt hat.

Wenn wir den Fokus noch einmal gezielt auf strategische Beratungen setzen: Wie beurteilen Sie den Einfluss der internen Strategieberater auf die Regierungschefs?

Ich habe in meiner Untersuchung verschiedene Faktoren identifiziert, von denen die Macht der Strategieberater auf den Regierungschef abhängt. Dazu gehört beispielsweise auf systemischer Ebene die Koalitionskonstellation, ob es sich also um eine Einparteienregierung oder eine Koalitionsregierung, eine Wunschkoalition oder eine reine Zweckgemeinschaft handelt. Daneben ist die Anzahl der Vetospieler, die Haushaltslage, die Stimmung im Land und die Amtsdauer einer Regierung eine entscheidende Größe. Da vielerorts noch immer Informationspyramiden und „Dienstweg“-Mentalitäten die Ministerialbürokratie beherrschen, ist auf organisationeller Ebene die Aufhängung der Strategieeinheiten nicht unbedeutend. Der Einfluss der Strategieberater auf das Regierungsgeschäft ist deshalb auch davon abhängig, ob sie in die Abteilungsstruktur eingebunden sind oder aber als Stabstelle direkt dem Regierungschef zuarbeiten.

Inwieweit spielt der jeweilige Führungsstil eines Regierungschefs denn in diese Aspekte mit hinein?

Der individuelle Führungsstil des Regierungschefs zählt hierbei zu den wichtigsten Faktoren. Gerhard Schröder hatte beispielsweise – Agenda 2010 hin oder her – im Ganzen einen sehr situativen Regierungsstil. Er regierte stark „aus dem Bauch heraus“, was eine professionelle Strategieentwicklung gerade in seiner ersten Amtszeit sehr schwierig machte. Auch wenn Strategien selten von Regierungschefs entwickelt und ausgearbeitet werden, entscheiden sie darüber und verantworten sie. Strategiefragen sind somit letztlich immer Chefsache!

Sie haben die Arbeit der Strategieberater in zehn verschiedenen Staatskanzleien miteinander verglichen. Welches Bundesland hat besonders erfolgreich abgeschnitten?

Ich habe zwar kein Ranking der Bundesländer vorgenommen, aber man kann sagen, dass bestimmte Länder sehr strategieorientiert arbeiten: Als die üblichen Verdächtigen sind hier die traditionell finanzstarken Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen zu nennen, die schlicht die Kapazitäten für eine ordentliche Strategieentwicklung und vor allem auch -umsetzung aufbringen. Hier wurden beispielsweise in den vergangenen Jahren sehr erfolgreiche Nachhaltigkeitsstrategien aufgesetzt. Aber auch Hamburg im Norden und Sachsen im Osten nehmen unter strategischen Gesichtspunkten sicherlich eine Vorreiterrolle ein.

Womit lässt sich das begründen?

Die Gründe sind ganz unterschiedlicher Art: Die Hansestadt war mit ihrem ressortübergreifenden Leitbildprozess „Metropole Hamburg – Wachsende Stadt“ sehr erfolgreich darin, die Identifikation der Bürger mit Hamburg zu stärken sowie nachhaltige ökonomische Entwicklungsimpulse zu setzen. Auch die Demographie-Politik der Sächsischen Staatsregierung setzt in strategischer Hinsicht Maßstäbe. Hintergrund ist hier, dass der Freistaat schon heute im Vergleich zu anderen Bundesländern in besonderem Maße von Geburtenmangel, Überalterung und Abwanderung als Folgen des demographischen Wandels betroffen ist. In all diesen Ländern sind auch die Strategieberater entsprechend einflussreich.

Einflussreich und erfolgreich zugleich?

Leider nein, denn nicht überall wo Grundsatz, Planung und Strategie drauf steht, wird auch Grundsatz-, Planungs- und Strategiearbeit geleistet. Und so lässt sich auch aus den erhobenen empirischen Daten eine klare Schlussfolgerung treffen: Strategieakteure in Regierungszentralen sind zu wenig mit originärer Strategiearbeit betraut.

Können Sie uns einmal den Arbeitsalltag der Strategieberater beschreiben?

Die gefühlte oder tatsächliche Allzuständigkeit ist bei den Grundsatz- und Planungseinheiten durchaus ein Problem. Oftmals geht es in ihrem Arbeitsalltag um die Abarbeitung rein operativer Aufgaben, die sich lediglich in ihrem politikfeldübergreifenden Charakter von der Zuarbeit durch andere Ressorts unterscheidet. Dazu kommt angesichts von Personalknappheit ein erhöhtes Arbeitsaufkommen. Eine sorgfältige und sehr zeitintensive Strategieentwicklung ist unter diesen Umständen nur sehr eingeschränkt möglich. In einigen Regierungszentralen ist die Strategiearbeit der zuständigen Mitarbeiter sogar mehr Kür als Pflicht.

Was genau bedeutet das?

Es bedeutet, dass zunächst operativ abgearbeitet wird und – falls vor Feierabend noch irgendwie Zeit übrig ist – wird sich mit strategischen Fragen beschäftigt. Das ist suboptimal. Doch nur mit Ressourcenengpässen zu argumentieren, wäre zu kurz gegriffen. Schließlich werden die Presse- und Öffentlichabteilungen finanziell und personell immer mehr aufgerüstet. Strategiedefizite gehen somit letztlich immer auch auf mangelnden politischen Willen der politischen Entscheidungsträger zurück.

Was muss Ihrer Meinung nach getan werden, damit Regierungspolitik strategischer wird?

Regierungsinterne Strategieberater sollten zunächst mit deutlich mehr Ressourcen ausgestattet werden. Sie brauchen einfach mehr personelle und finanzielle Spielräume, aber auch Freiräume, über Grundlegendes nachzudenken. Strategiefähigkeit hat aber auch sehr viel mit Innovation und Kreativität zu tun. Das fängt bei der Personalpolitik an. Spricht man mit Beamten aus der Personalabteilung gewinnt man manchmal den Eindruck, dass nicht wenige die Ministerialbürokratie im Wettbewerb um die klügsten Köpfe für fürchterlich attraktiv halten. Das halte ich für eine krasse Fehleinschätzung. Um an die Besten der Besten zu kommen, sollte also hier investiert werden.

Welche weiteren Aspekte müssten aus Ihrer Sicht einfließen?

Ein weiterer wichtiger Aspekt bezieht sich auf die Organisationskultur, die streng formalisiert alles andere als strategieförderlich ist. Gefragt sind vielmehr netzwerkartige Kommunikationsmuster, die innerhalb der Regierung einen gleichberechtigten und ungezwungenen Austausch von Wissen und Ideen möglich macht. Einen wichtigen Beitrag leisten daneben aber auch gesellschaftliche Debatten über die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen und an welchen Stellschrauben wir dafür heute schon drehen müssen. Sie üben Druck auf die Regierung aus, sich ohne akuten Leidensdruck über den gesamtpolitischen Überbau und eine integrierte Gesamtstrategie Gedanken zu machen.

Damit sprechen Sie im Grunde eine strategische Neuorientierung in der Zukunft an?

Genau! Die Zeit ist gerade jetzt günstig, denn wir sind bei der größten Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahrzehnte dank des hervorragenden Krisenmanagements der Bundesregierung noch glimpflich davon gekommen. Und jetzt, wo die Verwerfungen der Wirtschaftskrise zumindest dem Anschein nach ihren Höhepunkt überschritten haben und die Wirtschaftsinstitute sich wieder mit ihren Konjunkturprognosen überbieten, kann man etwas klarer sehen. Es wäre die ideale Chance für eine wirkliche strategische Neuorientierung.

Wenn wir über Erneuerung sprechen: Müsste es in der Zukunft nicht auch erforderlich werden, dass Politiker für Entscheidungen haften? Es fehlt ein wenig die Konsequenz, die fällig wird, wenn aus massiven Fehlentscheidungen große Schäden entstehen?

Das ist ein spannender Gedanke. Ich wüsste zwar spontan nicht, wie eine solche Haftung konkret juristisch aussehen könnte. Die Zeitverzögerung und die komplexen Wirkungszusammenhänge machen das nicht so leicht. Aber die Grundidee, bei politischen Entscheidungen das Gemeinlastprinzip stärker durch das Verursacherprinzip zu ersetzen und Politiker haftbar zu machen, hat irgendwie Charme. Es wäre auf jeden Fall ein weiterer Anreiz für Politiker, sich an langfristigeren Maßstäben zu orientieren.
 

Strategieberatung im Zentrum der Macht

Strategieberatung im Zentrum der Macht (Foto. SPREEZ)

Strategieberatung im Zentrum der Macht: Strategische Planer in deutschen Regierungszentralen Autor: Dominic Schwickert

ISBN-10: 3531174304 ISBN-13: 978-3531174303

Preis: 34,95 Euro

Der Autor: Dominic Schwickert studierte Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Wirtschaftspolitik an den Unis Münster und Santa Barbara. Er arbeitet für das Beratungsunternehmen IFOK und ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Progressiven Zentrums und Associate bei der Stiftung Neue Verantwortung in Berlin. Schwickert lehrt zudem am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster und ist Initiator des mehrfach preisgekrönten Journals 360°. Dort war er von 2005-2008 auch Vorstand und Chefredakteur. Noch heute begleitet er das Projekt mit großem Interesse, jedoch berufsbedingt aus der Ferne. Ein großer Erfolg war in den letzten Monaten die Auszeichnung des Projekts zum „Ausgewählten Ort im Land-der-Ideen“. (siehe auch HIER). Am 14. Oktober 2010 erschien im VS Verlag. Wiesbaden 2010 Dominic Schwickerts Publikation: „Strategieberatung im Zentrum der Macht. Strategische Planer in deutschen Regierungszentralen“.

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Der Beitrag Politik ist kein triviales Geschäft erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

Funktioniert unser Rechtssystem nicht?

$
0
0

Weisungsgebundenheit der Staatsanwälte ist vielen Bürger nicht bekannt.
(Foto: tom_u / Clipdealer.de)


Hans-Joachim Selenz sorgt sich um unser Rechtssystem. Der Experte in Sachen Korruptionsbekämpfung war seit 1992 Mitglied des Vorstandes der Preussag Stahl AG, wurde 1994 Sprecher des Vorstandes Preussag Stahl AG und agierte ab 1996 als Mitglied des Vorstandes der Holding, Preussag AG. Der engagierte Wirtschaftsethiker ist auch Gründer und 1. Vorsitzender der Initiative CLEANSTATE – Für Recht und Gerechtigkeit in Politik, Staat und Wirtschaft und widersetzte sich bereits 1998 mit allen Mitteln Mauscheleien im Unternehmen. Selenz verweigerte damals seine Unterschrift unter eine – laut eigenen Angaben – „gefälschte Bilanz“ der Preussag AG. Dafür zahlte er einen hohen Preis, denn seine Vorgehensweise wurde prompt mit seiner Abberufung als Preussag-Vorstand quittiert. 1999 folgte zudem sein Rücktritt als Vorstandsvorsitzender des am 2. Juni 1998 als Salzgitter AG an die Börse gebrachten Unternehmens aufgrund von „Intrigen im Aufsichtsrat.“

Seine Mahnungen und kritischen Statements verhallten damals wie Schall und Rauch. So auch drei Jahre später, nachdem er als Vorstand der EDAG, des größten unabhängigen europäischen Automobilentwicklers in Fulda, nach dreijähriger Tätigkeit zurückgetreten ist. Hinter der Aussage, dem Unternehmen mit diesem Rücktritt „denkbare Schäden“ zu ersparen, steckten schwere Kaliber. Denn im November 2000 machte Selenz bei der Staatsanwaltschaft Hannover Aussagen zu den schweren Betrugsvorgängen innerhalb der West LB/Preussag-Gruppe, worauf die Gesellschafter ausdrücklich schriftlich hingewiesen worden waren. Selenz hatte damals schriftlich eine Sonderprüfung des Jahresabschlusses durch einen zweiten, unabhängigen Wirtschaftsprüfer gefordert, die jedoch niemals durchgeführt wurde.

Wurden unliebsame Vorstände zu damaligen Zeiten also durchaus gerne einmal kurzerhand gechasst, haben Ethik und Moral in diesen hektischen Zeiten der gigantischen Finanzmarktkrisen scheinbar wieder Hochkonjunktur. Angesichts drohender Zusammenbrüche der Finanzmärkte, gigantischer Rettungsaktionen der Bundesregierung mit Garantieleistungen und Finanzmittel für Banken in mehrstelliger Milliardenhöhe geraten Fragen zu Gerechtigkeit, Maßlosigkeit, Gier und Unverhältnismäßigkeit in den Fokus. Wer trägt eine Mitschuld an dem zurückliegenden Desaster, wer hat versagt und muss sich als Brandstifter verantworten? Was muss geschehen, damit derartigen Schieflagen und einer Sozialisierung der Verluste bei gleichzeitiger Privatisierung der Gewinne nachhaltig ein Riegel vorgeschoben wird? Nachgefragt! Im Gespräch mit Hans-Joachim Selenz.

Herr Prof. Selenz, hat man in turbulenten Zeiten mit gigantischen Finanzmarktkrisen Moral und Ethik wiederentdeckt?

In einer Diskussionsrunde im Fernsehen wurde nach meiner Feststellung, man habe auch in Deutschland Gesetze, die jedoch in vielen Fällen nicht überwacht und daher nicht eingehalten würden, flapsig bemerkt, man könne das Gesetz ja nicht die ganze Zeit unter dem Arm tragen. Diese Äußerung gibt durchaus die Einstellung einer großen Zahl von Politikern und Managern wieder, die gesetzliche Vorgaben, die eigentlich für alle Bürger gelten, als lästige Nebensachen betrachten, die man nach Belieben missachten kann. Für einen Manager, der sich an Recht und Gesetz gebunden fühlt, war diese Phase ostentativer Missachtung bestehender Gesetze eine schwere Zeit. Ich bin mir aber sicher, dass sich dies im Zuge der zurückliegenden schweren Krise dramatisch ändern wird. Moral und Ethik waren stets die wichtigsten Grundpfeiler einer funktionierenden Gesellschaft und werden es auch in Zukunft – hoffentlich wieder – sein.

Sie haben einen Verein engagierter Mitbürger gegründet, deren Mitglieder sich mit Wirtschaftskriminalität, Missbrauch fremden Vermögens sowie großen Defiziten im Verhalten von Führungspersonen in Politik, Staat und Wirtschaft befassen. Funktioniert unser Rechtssystem nicht?

In einem ganz wesentlichen Bereich funktioniert es tatsächlich nicht. Wir haben ein großes Defizit innerhalb unseres Rechtssystems, viele Juristen nennen es sogar das Krebsgeschwür unseres Rechtsstaates. Dies schwerwiegende Defizit besteht darin, dass unsere Staatsanwälte im Einzelfall politisch weisungsgebunden sind. Ein Staatsanwalt darf daher nur die Gesetzesverstöße verfolgen, die ihm der zuständige Politiker, bzw. die zuständige Politikerin erlaubt. Zuständig in der Politik ist der/die Justizminister/in des jeweiligen Bundeslandes. Durch diese Weisungsgebundenheit der Staatsanwälte ist es in Deutschland möglich, dass selbst schwerstkriminelle Straftaten nicht vor Gericht kommen – wenn die Politik es so will. Hier von Gewaltenteilung zu sprechen, verbietet sich von selbst. Der Deutsche Richterbund, die Standesvertretung der deutschen Richter und Staatsanwälte, fordert daher schon seit Jahren die sofortige Abschaffung dieser politischen Weisungsabhängigkeit der Staatsanwälte. Das ist auch das Hauptziel unserer Vereinsarbeit.

Wenn es also Handlungsbedarf gibt, welche Möglichkeiten bzw. welchen Einfluss kann Ihr Verein überhaupt nehmen?

Unsere Möglichkeit, die Dinge zu beeinflussen, besteht darin, die Öffentlichkeit auf Fälle aufmerksam zu machen, bei denen die Staatsanwaltschaften ihren Pflichten nicht entsprechend der gesetzlichen Vorgaben nachkommen. Im Rahmen des einstigen VW-Prozesses in Braunschweig hat beispielsweise der Anwalt des Angeklagten Gebauer der Staatsanwaltschaft mitten im Gerichtssaal ausdrücklich „Strafvereitelung im Amt“ vorgeworfen. Vor Dutzenden von Zuhörern und Medienvertretern. Der Mann wurde danach keineswegs verhaftet oder wegen Verleumdung angeklagt. Die Staatsanwälte haben sich vielmehr geduckt und betreten geschwiegen. Und das aus gutem Grund. In den Dokumenten, die dem Gericht vorgelegt wurden – einer umfangreichen Ermittlungsakte – war dokumentiert, dass einer der Staatsanwälte aus Braunschweig bereits im Jahre 2004 belastendes Material an Mitarbeiter von Volkswagen gegeben hatte, gegen die er hätte ermitteln sollen bzw. müssen. Stattdessen lud er die VW Mitarbeiter ein, um gemeinsam mit ihnen das weitere Vorgehen zu besprechen. Bei dieser Gelegenheit übergab er ihnen auch gleich mehrere Aktenordner und bat sie, dies doch bitte selbst zu prüfen. Von den unzähligen anwesenden Zeitungsvertretern hat es dann – Gott sei Dank – die Braunschweiger Zeitung tatsächlich gewagt, diese Äußerung des Anwaltes am nächsten Tag abzudrucken. Und das sogar auf der Titelseite. Wir können im Rahmen unserer Vereinsarbeit derzeit nichts anderes machen, als die Öffentlichkeit, die zu 99,9 Prozent von dieser Weisungsgebundenheit noch nie etwas gehört hat und sich so etwas auch gar nicht vorstellen kann, aufzuklären – im Sinne auch des Deutschen Richterbundes.

Sie beklagen zunehmend Führungspersonen, die nur noch zu Ihrem eigenen Vorteil wirtschaften und handeln – zu Lasten der Arbeitnehmer, der Unternehmen und der Bevölkerung. Worin liegen Ihrer Meinung die Ursachen?

Das Problem besteht darin, dass wir zwar Gesetze haben, diese aber in der Praxis nicht eingehalten werden, da selbst bei schwersten Gesetzesverstößen keinerlei Ahndung zu befürchten ist. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht BaFin, die z. B. die Einhaltung des gesetzlichen Rahmens im Finanzbereich zu überwachen hat, als zahnlosen Tiger zu bezeichnen, wäre eine Beleidigung für alle Tiger ohne Zähne. In einem solchen Klima blüht der Eigennutz in den Chefetagen, während die Rechte der abhängig Beschäftigten unter „ferner liefen“ geführt werden. Die Kontrolleure kontrollieren sich zum Teil sogar selber, so zum Beispiel der damalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Jörg Asmussen. Herr Asmussen saß als damaliger Ministerialdirektor in der Abteilung Finanzmarktpolitik im IKB-Aufsichtsrat und zugleich im Verwaltungsrat der BaFin. Die soll auch die Geschäfte der IKB im Rahmen der Bankenprüfung kontrollieren. Zudem unterstand Herrn Asmussen im Bundesfinanzministerium das Referat VII A 1, das u. a. die Aufsicht über die BaFin ausübt. Laut Geschäftsverteilung im Bundesfinanzministerium unterstand Herrn Asmussen heute im Rahmen seiner Funktion als Staatssekretär auch die Abteilung VII als Geschäftsbereich und damit die Aufsicht über Banken und BaFin. Herr Asmussen war in Deutschland auf vielfältige Weise der Wegbereiter für die Finanzprodukte, die unser Bankensystem und unsere gesamte Wirtschaft an den Rand des Ruins getrieben haben. Wer will jedoch bei diesem Interessenkonflikt Herrn Asmussen und seine aktive Mitwirkung z. B. an der IKB-Pleite aufklären? Später wurde der einstige Finanz-Brandstifter Asmussen sogar als Löschmeister gefeiert und saß im Direktorium der Europäischen Zentralbank.

Die Bankenkrise bestätigt sozusagen Ihre Klagen? Bürger betrachten fassungslos, welche Auswüchse inakzeptable Verhaltensweisen einzelner, oftmals privilegierter Gruppen genommen haben?

Wir haben es in Deutschland zweifelsohne auch mit einer Zweiklassenjustiz zu tun. Ein Bankräuber, der mit vollem „unternehmerischem Einsatz“ 5.000 Euro erarbeitet, kann sicher sein, mehrere Jahre von seiner Familie getrennt zu werden, wenn er danach erwischt wird. Ein Bankvorstand dagegen, der vorsätzlich 5 Milliarden Euro „verbrennt“ und damit eine Million mal mehr Schaden anrichtet als der biedere Bankräuber, kann derzeit in Deutschland ebenso sicher sein, mit weniger als 2 Jahren auf Bewährung und einer satten Abfindung davonzukommen. Wirtschaftskriminalität wird bei uns immer noch quasi als Kavaliersdelikt behandelt. Die Justiz-Deals z. B. im Falle des Mannesmann-Prozesses oder im Falle des Hartz-Prozesses zerstören das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit der Justiz. Die Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit haben sogar Monika Harms erreicht. Die heutige Generalbundesanwältin hat im Frühjahr 2006, als sie noch Senatsvorsitzende Richterin beim Bundesgerichtshof war, die weit verbreitete Praxis der Absprachen über Strafurteile ungewöhnlich heftig und lautstark kritisiert: „Wir fahren den Strafprozess vor die Wand“. Die Richterschaft werde dadurch „korrumpiert“, so die heutige Generalbundesanwältin damals in ihrem gerechten Zorn. Das Ergebnis der Justiz-Deals, der Freikauf prominenter Angeklagter wie Ackermann, Esser und Hartz, ist das falsche Signal. Nach den unumstößlichen Grundsätzen des deutschen Strafrechts sind die wahren Sachverhalte in einem öffentlichen Prozess aufzuklären, unabhängig von den Personen der Beschuldigten.

Wie reagiert das staatliche Rechtssystem auf Ihre Aktivitäten?

Ebenso wie der Forderung des Deutschen Richterbundes begegnen Teile des staatlichen Rechtssystems unserer Initiative mit Misstrauen und Vorbehalten, der überwiegende Teil der Reaktionen ist allerdings außerordentlich positiv. Dass es auch den einen oder anderen Politiker gibt, der unsere Arbeit mit Misstrauen beobachtet, geht dem Deutschen Richterbund ebenso. Es geht hier schließlich durchaus auch um eine Frage der Macht im Staate. Die sollte nach unserer Vorstellung und der des Grundgesetzes – wie in jeder Demokratie – vom Volk ausgehen. Eingriffe in unser Rechtssystem, wie sie derzeit von der Politik vorgenommen werden können, sind zutiefst undemokratisch. Wir bekommen daher sogar sehr viele Informationen aus diesem Rechtssystem. Die weit überwiegende Zahl der deutschen Richter und Staatsanwälte unterstützt diese Ziele. Wir haben aus diesem Kreis heraus auch schon ganz erstaunliche Dokumente erhalten, die wir dann durchaus offensiv nutzen, indem wir sie den zuständigen Institutionen in unserem Lande ganz offiziell übergeben.

Welche Reaktionen zeigen sich seitens betroffener Personen, Institutionen und Unternehmen? Werden Sie mit Klagen überrollt?

Da wir uns stets an nachprüfbaren Fakten aus eindeutigen Dokumenten orientieren, kann es lediglich geringe Unstimmigkeiten bei der presserechtlichen Auslegung geben. Dabei ist es sehr interessant, zu beobachten, dass einzelne Pressekammern zu Urteilen kommen, die mit dem Ausdruck grotesk nur unzureichend beschrieben sind. Man denke nur an die Haare unseres Ex-Kanzlers. Statt diese – zur Wahrheitsfindung – ganz einfach einer chemischen Analyse zu unterziehen, reicht dem LG Hamburg eine eidesstattliche Erklärung. Auf diesem Niveau spielt sich vor deutschen Gerichten derzeit vielfach die Wahrheitsfindung ab. Da geht es ganz offensichtlich nicht um die Wahrheit, sondern in vielen Fällen sogar um deren aktive Vertuschung. Wenn durch derartige presserechtliche Finten ganz gezielt die Information der Öffentlichkeit über mögliche Straftaten verhindert wird, die ‚zufällig’ auch von der Staatsanwaltschaft nicht verfolgt werden und damit die 4. Gewalt im Staate, die Presse, ausgehebelt wird, wird die Sache sogar rechtsstaatlich außerordentlich problematisch. Um es milde zu formulieren.

Kann Ihr Verein tatsächlich etwas bewirken, oder dienen die Aktivitäten Ihrer Mitglieder eher dazu, Misstände öffentlich zu machen?

Wir sind der Meinung, dass insbesondere die Tatsache, dass wir Misstände öffentlich machen, dazu beiträgt, die Problematik der Weisungsgebundenheit unserer Staatsanwaltschaften und die damit verbundene Einflussnahme der Politik auf Ermittlungen und deren Ergebnisse in die Öffentlichkeit zu tragen und die Zielsetzung des Deutschen Richterbundes, dies abzuschaffen, zu unterstützen.

Sie versuchen, mit Politikern zusammen zu arbeiten. Wie erfolgreich ist das? Wieviel Hilfe erfahren Sie tatsächlich durch unsere Volksvertreter und welchen Ruf genießt Ihr Verein in diesen Reihen?

Wir, dass heißt unsere aktiven Mitglieder, sind überwiegend selbst in großen Unternehmen, Politik, Justiz und öffentlicher Verwaltung tätig oder tätig gewesen. Die Mitwirkung der Politik an der Arbeit unseres Vereines hält sich derzeit noch in einem überschaubaren Rahmen. Ein Teil stimmt unserem Engagement und unseren Zielen voll und ganz zu, andere wiederum fürchten um ihren Einfluss auf die Justiz und bestehen auf der Beibehaltung der Weisungsgebundenheit. Damit – und dies kritisieren sogar hochrangige deutsche Politiker – kann sich derzeit noch der eine oder andere Politiker-Kollege am eigenen Schopf aus jedwedem noch so ungesetzlichen Sumpf ziehen – wie weiland Baron Münchhausen. Und auch die Spitzen der Justiz in Deutschland bewerten das Problem der Weisungsgebundenheit in einer nicht mehr zu überbietenden Klarheit. Christoph Frank, der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes antwortete in einem Interview mit der Peiner Allgemeinen Zeitung auf die Frage „Glauben Sie, dass Regierungskriminalität besser aufgeklärt würde, wenn die Politik der Staatsanwaltschaft keine Einzellfall-Weisungen mehr geben dürfte?“ „Davon bin ich überzeugt. Das zeigen auch Beispiele aus anderen Staaten ohne Weisungsrecht der Politik.“ Deutlicher kann man es meiner Ansicht nach nicht formulieren.

Immer häufiger auch wechseln Politiker auf lukrative Posten in der Wirtschaft, die sie vorher mit wichtigen Entscheidungen u. a. politisch „gefördert“ haben. Cleanstate hält das für eine moderne Form der Korruption, die sicher so lange „legal“ ist, wie Politiker Gesetze machen und Entscheidungen fällen oder fällen lassen und dann im Nachgang in den beeinflussten Bereichen persönlich profitieren. Denn langfristig gefährdet auch der heute schon mehr oder weniger übliche Lobbyismus die Grundlagen unserer Demokratie.

Was wünschen Sie sich diesbezüglich für die Zukunft?

Unser sehnlichster Wunsch ist der, dass aus unserem Staat einmal ein funktionierender Rechtsstaat auch im Sinne des Deutschen Richterbundes wird, mit sauberer Gewaltenteilung, dem die Bürgerinnen und Bürger langfristig vertrauen können, damit wir uns wieder angenehmeren Dingen zuwenden können.

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Der Beitrag Funktioniert unser Rechtssystem nicht? erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

„Diskriminierung an Hand von Datenprofilen ist bereits gang und gäbe“

$
0
0
Der EU-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht setzt sich mit allen Mitteln für eine Datenschutzverordnung ein. (Foto:  European Parliament 2013)

Der EU-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht setzt sich mit allen Mitteln für eine Datenschutzverordnung ein. (Foto: European Parliament 2013)

Der EU-Abgeordnete und EU-Berichterstatter für die EU-Datenschutzreform Jan Philipp Albrecht setzt sich angesichts des massiven Datenmissbrauchs mit allen Mitteln für eine Datenschutzverordnung ein. Doch warum ist Datenschutz für jeden einzelnen Bürger so wichtig und wie können die millionenfachen Datenzugriffe eingedämmt werden? Welche Strategien und Maßnahme sind hierzu auf politischer Ebene erforderlich und lässt sich die „Büchse der Pandora“ wieder schließen, um Vertrauen zurückzugewinnen? Nachgefragt!

Herr Albrecht, der Datenschutz der Bürger wurde faktisch abgeschafft. Ist das derzeitige Prozedere überhaupt verfassungskonform?

Das müssen wir tatsächlich in Frage stellen. In vielen Fällen gilt für uns heute ein Schutzniveau, das unter den grundrechtlichen Vorgaben des EU-Vertrags und der nationalen Verfassungen steht. Vor allem, weil viele Unternehmen sich nicht wirklich an die Gesetze halten. Sie gehen davon aus, dass es ohnehin niemand bis vor das zuständige Gericht schafft und selbst dann die Strafen denkbar gering ausfallen würden.

Sie kämpfen als EU-Abgeordneter auf europäischer Ebene für mehr Datenschutz bzw. die Rückgewinnung unserer Daten. Welche Mittel stehen Ihnen zur Verfügung und wie aussichtsreich ist das?

Derzeit setze ich mich mit allen Mitteln dafür ein, dass zügig ein einheitliches und durchsetzbares EU-Gesetz zum Datenschutz verabschiedet wird, die neue Datenschutzverordnung. Mit ihr würde es – wenn es nach dem Europäischen Parlament geht, dass dieses Gesetz bereits im März verabschiedet hat – ein einfacheres Klagerecht und schärfere Strafen bei Datenschutzverletzungen geben. Zudem müssten sich alle Unternehmen in Europa an ein und dasselbe europäische Datenschutzrecht halten, was eine ganze Reihe von Schlupflöchern schließt. Doch bislang scheuen einige Regierungen noch den Mut, den Datensammlern endlich einen Riegel vorzuschieben.

Die Büchse der Pandora wurde ja im Namen „unbedingt erforderlicher Sicherheitsmaßnahmen“ relativ unbedenklich geöffnet. Vielen Menschen leuchtet die Argumentation „Schutz“ durchaus ein. Gibt es deshalb so relativ wenig Gegenwehr und Protest gegen den massenhaften Datenmissbrauch?

Leider verstehen viele Menschen noch immer nicht, dass sich massenhafte Datensammlung nicht nur negativ auf Verdächtige oder Minderheiten auswirken kann, sondern für jeden einzelnen von uns erhebliche Nachteile und Konsequenzen bringen kann. Diskriminierung an Hand von Datenprofilen ist bereits heute gang und gäbe. Und wer überlegt, dass jede Handlung heute Spuren hinterlässt, wird sein Verhalten ziemlich schnell an den Mainstream anpassen, weil er sonst auffällig oder gar verdächtig für Unternehmen oder Behörden werden könnte.

Die Schleusen für den umfassenden Datenmissbrauch stehen also weit offen. Wie könnten sie wieder geschlossen werden?

Richtig, schließen kann man die Tür zum Missbrauch nicht. Aber statt große Schleusen offen zu lassen und gar nicht mehr zu wissen, welche Daten erhoben, weitergegeben und ausgewertet werden, könnten wir dafür sorgen, dass es erheblich weniger personenbezogene Daten sind, die wir hinterlassen und schärfer selber kontrollieren, welche wir davon an wen und zu welchem Zwecke herausgeben. Dazu brauchen wir verständlichere Informationen für den Einzelnen und eine Rückkehr zur expliziten Zustimmung zur Datennutzung.

In Ihrer im Sommer 2014 erschienen Publikation „Finger weg von unseren Daten – wie wir entmündigt und ausgenommen werden“ fordern Sie auch eine digitale Unabhängigkeitserklärung für Europa. Was müssen wir uns darunter vorstellen?

Ich bin überzeugt, dass wir keine Zeit verlieren dürfen und die Schaffung internationaler Regeln selbst in die Hand nehmen müssen. Wer jetzt nicht handelt und eine schärfere Durchsetzung der europäischen Standards erreicht, der wird sich später mit den niedrigeren Standards aus den USA oder gar China begnügen müssen. Als größter Markt der Welt könnte die Europäische Union allerdings eine Führung für hohe Datenschutz- und Sicherheitsstandards übernehmen und dafür sorgen, dass Europa sich unabhängig macht von Systemen und Produkten, die die Überwachung und Entmachtung von Bürgerinnen und Bürgern befördern. Auch wirtschaftlich wäre dies eine große Chance.

Aus einer Vertrauensgesellschaft wird zunehmend eine vollumfängliche Überwachungsgesellschaft. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe, dass Politiker dies so vehement unterstützen und für absolut unverzichtbar halten?

Je offener eine Gesellschaft wird, desto größer ist der Druck auf die Sicherheitsbehörden, vermeintliche Ängste und Unsicherheitsgefühle durch Sicherheitsmaßnahmen auszugleichen. Mit der Globalisierung und der digitalen Vernetzung begann ein wahres Wettrennen um immer neue technische Spielereien, die den Behörden das Gefühl der hellsehenden Kristallkugel geben. Doch die vergangenen Jahre haben immer wieder gezeigt: Eine tatsächlich höhere Sicherheit – etwa niedrigere Kriminalitätsraten oder höhere Aufklärungsquoten – hat es seither nicht gegeben. Die Politik muss endlich die Ursachen bekämpfen, statt an der Überwachungsgesellschaft zu feilen.

Die Wirtschaft sieht sich im Vorteil und schlachtet die Daten der Bürger ebenfalls gnadenlos aus. Dabei wird sie doch selbst Opfer des Datenmissbrauchs, wenn wir beispielsweise an Wirtschaftsspionage denken?

Absolut, und nicht nur bei den Betriebsgeheimnissen fällt dies auf. Oftmals betreiben die Unternehmen ja eigene IT-Systeme und verwalten die Daten anderer Menschen und Unternehmen. Angesichts des mangelnden Datenschutzes und der schlechten IT-Sicherheit können auch sie oft gar nicht mehr sicherstellen, dass die Daten nicht an dritte Unternehmen oder Behörden rechtswidrig weitergeleitet werden. Hier braucht es endlich eine Verantwortung für alle Beteiligten, die von den Datenschutzbehörden und Gerichten notfalls eingefordert werden muss.

Hat der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, Datenmissbrauch auf einer solchen Ebene damals nicht mit einkalkuliert bzw. die Risiken hierzu schlichtweg unterschätzt?

Soweit ich weiß, hat Berners-Lee selbst bereits deutlich gemacht, dass es besser gewesen wäre, gleich von Beginn an schärfere Datenschutz- und Sicherheitselemente in die Internetstruktur einzubauen. Während damals allerdings aus Kostengründen auf Dinge wie die standardmäßige Verschlüsselung von Internetkommunikation verzichtet wurde, muss dieser Fehler heute so schnell es geht korrigiert werden. Ansonsten wird das Internet zu jenem Überwachungsmonster, das sich auch jemand wie Berners-Lee bei der Erfindung des WWW sicher nicht hätte vorstellen können.

Ein sehr kurzfristiger Wandel in Hinblick auf den Datenschutz ist angesichts der Ausmaße des Missbrauchs sicher nicht zu erwarten. Welche Prognose können Sie hingegen mittel- bzw. langfristig geben?

Es bedarf des schnellen Umdenkens in der Gesellschaft. Behörden, Unternehmen und wir alle müssen den dramatischen Schutzlücken und dem drohenden Kontrollverlust volle Aufmerksamkeit und Bedeutung zukommen lassen. Ansonsten werden uns die Ausmaße über den Kopf wachsen. Die Datenbrille, der vernetzte Körper und die Automatisierung unseres Zusammenlebens stellen uns vor enorme Herausforderungen und können unkontrolliert zu einem schnellen Kollaps bisher sicher geglaubter Grundsätze unserer Demokratien und Rechtstaaten führen. Wir müssen die jetzigen Gesetzgebungsverfahren zu einem Abschluss bringen und gleich die nächsten Schritte angehen.

Lässt sich das Vertrauen überhaupt wieder zurückgewinnen? Es ist schließlich für Bürger nicht leicht zu überprüfen, ob ein sicherer Datenschutz wiederhergestellt wurde.

Ja, das Vertrauen ließe sich dann wieder herstellen, wenn der wachsenden Komplexität der Digitalisierung aller Lebensbereiche eine wachsende Transparenz und Kontrolle eines jeden Einzelnen über diese technischen Vorgänge geboten würde. Weil das aber nicht im Interesse von Sicherheitsbehörden oder IT-Giganten ist, muss die Politik mit gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass dies eintritt. Erst wenn hier mutige und deutliche Schritte erkennbar sind, werden die Bürger Vertrauen fassen, in eine sichere digitale Umgebung und in die Demokratie.

 
*Jan Philipp Albrecht ist Europaabgeordneter der Grünen und Verhandlungsführer des Europäischen Parlaments für die neue EU-Datenschutzgrundverordnung. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Bremen, Brüssel und Berlin spezialisierte er sich im IT-Recht. Unter anderem arbeitete er am Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht in Berlin und gab Lehrveranstaltungen zur europäischen Rechtsinformatik an der Universität Wien. Jan Philipp Albrecht war maßgeblich an der Zurückweisung des Handelsabkommens ACTA und der Untersuchung zur NSA-Affäre im Europäischen Parlament beteiligt.

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Der Beitrag „Diskriminierung an Hand von Datenprofilen ist bereits gang und gäbe“ erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

Volksentscheide auf Bundesebene – Interview mit Prof. Dr. Christian Pestalozza

$
0
0

Der Ruf nach Volksentscheiden auch auf Bundesebene wird lauter. (Foto: bizoon / Clipdealer.de)

In Hinblick auf die zurückliegende Euro-Krise herrscht derzeit trügerische Ruhe. Während das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in der Vergangenheit umfangreiche Rettungsschirme wie etwa Fiskalpakt, ESM und EFSM abnickte, bleibt der Unmut im Volk bis heute bestehen. Kritiker sehen einen zu starken Eingriff in die Haushaltsrechte und eine damit einhergehende Gefahr für die Demokratie. Der Ruf nach Volksentscheiden auch auf Bundesebene wird lauter. Doch inwieweit kommt unser Land mit einer solchen Forderung voran? Wir haben nachgefragt: Im Gespräch mit dem Staatsrechtler em. Univ.-Prof. Dr. Christian Pestalozza, Freie-Universität Berlin.

Foto: Max Lautenschlaeger

Foto: Max Lautenschlaeger

Herr Prof. Pestalozza, unter anderem auch durch die breiten Diskussionen nach der Euro-Finanzkrise rund um die Verabschiedung zu Gesetzgebungen wie etwa Fiskalpakt, ESM, EFSF und EFSM wird der Ruf nach Volksentscheiden auch auf Bundesebene immer lauter. Was halten Sie von solchen Forderungen?

Das Grundgesetz behandelt Volksabstimmungen recht stiefmütterlich. 1948/49 hatte das nachvollziehbare Gründe; sie gelten heute nicht mehr. Nachdem das Grundgesetz mehr geworden ist als das vorläufige Organisationsstatut der damaligen Westzonen, sollte seriös – und das heißt unabhängig von der jeweiligen Regierungsmehrheit – über eine Vermehrung der Volkszuständigkeiten auf Bundesebene nachgedacht werden. Vor Übertreibungen sollte man sich dabei allerdings hüten. Wir haben bereits eine gut ausgestaltete Demokratie, und alles, was darüber hinausgeht, ist eine Art Luxusausstattung.
Was davon wir uns leisten können und sollten, ist eine Frage, die sich nicht allgemein, sondern nur konkret, d.h. im Hinblick auf die einzelnen Abstimmungskompetenz, um die es gehen soll, beantworten läßt.

Kritiker sehen unzulässige Eingriffe in die Verfassung und eine Aufweichung der Hoheitsrechte beim Haushalt. Sehen Sie dies ähnlich?

In dem Maße, in dem die Vereinbarungen im Zusammenwirken mit den deutschen Zustimmungsgesetzen Internationalen Einrichtungen deutsche Hoheitsrechte übertragen, verringern sie deutsche Zuständigkeiten und ändern sie damit der Sache nach zugleich das Grundgesetz, weil sie die von ihm ursprünglich begründete Kompetenzfülle deutscher Verfassungsorgane schmälern. Zu Recht verlangt Art. 23 GG deswegen für derartige Schritte dieselben Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat, wie sie für eine förmliche Verfassungsänderung notwendig sind.

Sind diese Mehrheiten gesichert, ist der „Eingriff“ in die Verfassung (durch Kompetenzübertragung) nicht „unzulässig“, sondern gerechtfertigt. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn die Änderung an den durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten, unabänderlichen Verfassungskern rühren sollte. Ich zweifle, daß diese verfassungsänderungsfeste Zone hier erreicht ist.

Viele Experten sind auch der Ansicht, dass sich solche Eingriffe nur durch eine Verfassungsänderung legitimieren lassen – dann über einen Volksentscheid. Ist das aus Ihrer Sicht eine korrekte Analyse?

In die soeben genannte verfassungsänderungsfeste Zone kann der Gesetzgeber nur eindringen, wenn er das Grundgesetz (einschließlich des Art. 79 Abs. 3 GG) durch ein neue Verfassung ersetzt, die ihm mehr gestattet als das Grundgesetz jetzt. Art. 146 GG sieht vor, daß das Grundgesetz durch eine neue Verfassung, die das deutsche Volk beschließt, abgelöst werden kann.

Ob das wirklich so zu verstehen ist, daß diese Ablösung unbedingt durch Volksentscheid abgesegnet werden muß, ist unsicher; darüber wird gestritten. Immerhin spricht ja auch unser geltendes Grundgesetz davon, daß es vom Deutschen Volke beschlossen worden sei, wohlwissend, daß es zu keinem Zeitpunkt durch eine Volksabstimmung zusätzlich legitimiert worden ist. Auch wenn Art. 146 GG deswegen nicht so beim Wort genommen werden können sollte – es wäre jedenfalls politisch sehr zu raten, einen Grundgesetz-Ersatz nicht ohne Volksentscheid auf den Weg zu bringen.

Welcher Voraussetzungen bedarf es, um Volksentscheide auf Bundesebene mit derart weitreichenden Entscheidungen zu installieren?

Wenn man daran denkt, weitere Europäisierungsschritte, die sich im Rahmen des Art. 23 GG (also zugleich im Rahmen des Art. 79 Abs. 3 GG) halten, zusätzlich durch Volksabstimmungen zu legimitieren, bedarf es lediglich einer entsprechenden Ergänzung des Art. 23 GG.

Wenn die betreffende Europäisierung über das nach Art. 23 GG Erlaubte hinausgehen (und an Art. 79 Abs. 3 GG rühren) soll, kommen Sie mit einer Änderung allein des Art. 23 GG nicht aus, und weil Sie nach allgemeiner und zutreffender Auffassung auch Art. 79 Abs. 3 GG im Wege normaler Verfassungsänderung nicht isoliert aufheben oder beschneiden können, bleibt nur der Weg über eine neue Verfassung, also der Weg des Art. 146 GG.

Auf Länderebene werden Volksentscheide, die aus Volksbegehren hervorgehen, praktiziert. Wäre dies ein übertagbares Modell auch für die Bundesebene?

Aus dem erfreulichen Umfang, in dem die direkte Demokratie unterdessen in allen Bundesländern eingeführt und in manchen dieser Länder auch genutzt wird, läßt sich einiges lernen. Aber:

  • Da die Länder aber im Detail recht unterschiedliche Modelle haben, muß man sich entscheiden, welches der Modelle man „übertragen“ sehen möchte.
  • Vieles kann man, muß man aber nicht übernehmen. Z.B. würde ich sehr davon abraten, in das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen, höchst überarbeitungsbedürftigen Gestalt die Volksgesetzgebung zu übernehmen.
  • Vieles an denkbarer direkter Demokratie haben die Bundesländer nicht. Insofern gäbe es nichts zu „übertragen“. Es ginge um Premieren; hier könnten ausländische Regelungen Modell stehen.

Bestrebungen, Volkentscheide auch auf Bundesebene einzuführen, gab es bereits. Woran scheiterte bisher eine diesbezügliche, durchgreifende Reform?

Immer wieder hat die jeweilige Opposition im den Bundestagen Reformvorschläge gemacht, und immer wieder hat die jeweilige Mehrheit den Kopf geschüttelt. Fragen Sie dort nach, warum. Eine rationale Erklärung sehe ich nicht.

Die Schweiz praktiziert als Demokratie mit repräsentativen und direkt-demokratischen Elementen sehr anschaulich, dass ein starker Einbezug des Volkes gut funktioniert. Ist dafür eine gewisse Konditionierung erforderlich?

Solange es ein Handwerkzeug nicht gibt, werden Sie nicht sicher wissen, ob es sinnvoll ist und sich bewähren wird. Was Sie vielleicht voraussagen können, ist, ob es in der Hand des Profis besser aufgehoben sein wird als in der des Amateurs. So liegt es, was unser Thema anlangt, vielleicht bei der Gesetzgebung; sie sollte nicht amateurisch betrieben werden.

Im Übrigen würde ich raten: Stellen Sie das Werkzeug her, und lassen Sie es ausprobieren. Bewährt es sich nicht, kassieren Sie es (freilich mit Wiederwahlrisiko) wieder ein.

Unabhängig vom Volksbegehren innerhalb einzelner EU-Staaten zählen Volksentscheide auf EU-Ebene zur Entscheidung EU-spezifischer Belange noch zur weit entfernten Zukunftsmusik? Oder ist das realistischer, als es so mancher denkt?

Leider blicke ich nicht in die Werkstatt der EU. Es liegt aber, nachdem man Ja gesagt hat zu EU-Wahlen, nahe, daß man über die Ergänzung durch EU-Abstimmungen nachdenkt. Beim jetzigen Stadium der Europäisierung halte ich das allerdings für verfrüht.

Lesen sie hierzu auch:

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Der Beitrag Volksentscheide auf Bundesebene – Interview mit Prof. Dr. Christian Pestalozza erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

Rigides Armutsregime durch Hartz IV

$
0
0

Billionen-Hebel und monetärer Größenwahn zur Bankenrettung liegen hinter uns – doch für eine Revision von Hartz IV bleibt kein Raum. Auch im neuen Koalitionsvertrag der Bundesregierung findet sich kein Hinweis auf Einsicht und Umkehr. Dabei schafft dieses System weiterhin Millionen Bittsteller beim Amt, Arbeitnehmer im Niedriglohn, Aufstocker und „Kunden“, die in fragwürdige Maßnahmen verschoben, hoffnungslos vor sich hindümpeln. Muss das in einem der reichsten Länder der Welt wirklich sein? Im Gespräch mit Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Universität Köln.

„Dank“ Harzz-IV löst sich unser einst menschenwürdiges Sozialsystem immer mehr auf. (Foto: esolex / Clipdealer.de)

Die Arbeitsagenturen mit ihren Jobcentern verfügen über umfassende Machtinstrumente, die weit über eine Arbeitsvermittlung hinausreichen. Im Grunde greifen sie tief in die Privatsphäre der Menschen ein. Ist das überhaupt gerechtfertigt?

(Foto: C. Butterwegge)

Nein. Vielmehr zeigt sich, dass mittels der sog. Hartz-Gesetze ein rigides Armutsregime errichtet worden ist, das Langzeitarbeitslose und Geringverdiener/innen (sog. Aufstocker/innen) sozial entrechtet und teilweise entmündigt.

Viele Betroffenen beklagen, dass bei den Jobcentern alles Mögliche erhältlich ist, nur keine Vermittlung in ordentliche Arbeitsverhältnisse. Ist an dieser Einschätzung aus Ihrer Sicht etwas dran?

Es geht hauptsächlich darum, die Hartz-IV-Betroffenen und ihre Familienangehörigen möglichst schnell aus dem Leistungsbezug herauszubekommen. Druck jeglicher Art, Drohungen und Disziplinierungsmaßnahmen sind dafür geeignete Mittel.

Unter dem Dach der Arbeitsmarktpolitik hat sich regelrecht eine Armutswirtschaft gründen können. So schossen Unternehmen wie Pilze aus dem Boden, die Geschäfte mit der Arbeitslosigkeit machen. Warum werden die Kernaufgaben einer Arbeitsagentur durch Outsourcing delegiert? Immerhin verschlingt dieser staatlich organisierte Koloss immense Summen.

Privatisierung steht im Vordergrund einer neoliberalen Politik, die der Ideologie „privat geht vor Staat“ huldigt.

Recht problemlos konnten auch dubiose Geschäftspraktiken Fuß fassen, wenn Arbeitslose praktisch zum Nulltarif beschäftigt werdenLässt sich so etwas allein mit der These rechtfertigen, Betroffene müssten an Arbeit herangeführt werden?

Nein. Ich vertrete sogar die Auffassung, dass die Arbeitsmarktreformer das Interesse der Erwerbslosen am wenigsten berücksichtigt haben.

Seit Einführung der Agenda durch die damalige Regierung unter Alt-Kanzler Schröder tönen praktisch alle Nachfolge-Politiker in das immer gleiche Horn. Demnach wäre es richtig gewesen, Sozial- und Arbeitslosenhilfe zusammenzulegen. Sind Sie der gleichen Meinung oder sind das nicht möglicherweise doch zwei verschiedene Paar Schuhe?

Schon die von Gerhard Schröder gewählte Bezeichnung „Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ war m.E. zutiefst demagogisch: Mit der Arbeitslosenhilfe wurde erstmals in der Nachkriegsgeschichte eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Sozialleistung schlichtweg abgeschafft. Das an ihre Stelle tretende „Arbeitslosengeld II“, welches trotz dieses irreführenden Namens nicht nur Arbeitslose, sondern auch Geringverdiener/innen („Aufstocker/innen“) erhalten können, berücksichtigt im Unterschied dazu nicht den früheren Verdienst, sondern senkt das Einkommen derjenigen, die es beantragen müssen, auf das Sozialhilfeniveau ab.

Was müsste geschehen, um in unserem Land wieder mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen und welcher Hebel müsste dafür in Bewegung gesetzt werden muss?

In der jüngsten Diskussion über Reformen im Bereich der Gesundheits- und Sozialpolitik gab es nur einen Vorschlag, der unter bestimmten Bedingungen eine Alternative zu Leistungskürzungen und einer finanziellen Entlastung der Besserverdienenden sein kann: die Bürgerversicherung. Sie müsste allgemein, einheitlich und solidarisch sein. Allgemein zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung sämtliche dafür geeignete Versicherungszweige (Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung) umfasst.

Schon jetzt stellt die Gesetzliche Unfallversicherung insofern einen Sonderfall dar, als sie sich nur aus Beiträgen der Arbeitgeber finanziert. Der letzte Versicherungszweig, die Arbeitslosenversicherung, könnte in eine „Arbeitsversicherung“ umgewandelt werden, die Selbstständige und Freiberufler/inne aufnimmt. Damit schlösse sich der Kreis zu einer beinahe alle Einwohner/innen als Mitglieder umfassenden Volksversicherung. Einheitlich zu sein heißt in diesem Zusammenhang, dass neben der Bürgerversicherung keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren. Private Versicherungsunternehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge (Wahrung des Bestandsschutzes), Zusatzangebote und Ergänzungsleistungen beschränken. Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht nur auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen, Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu erheben.

Nach oben darf es Beitragsbemessungs- sowenig wie Versicherungspflichtgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben würden, sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte zu entziehen und in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen. Wer den nach Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht selbst entrichten kann, muss finanziell aufgefangen werden. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat gewissermaßen als Ausfallbürge für Vorschulkinder, Schüler/innen und Studierende, die einen Kindergarten, eine allgemeinbildende Schule bzw. eine Hochschule besuchen.

Welche Merkmale würden Sie benennen, die unsere Gesellschaft halbwegs gerecht gestalten können?

M.E. reicht der freie Zugang zum Arbeitsmarkt (Erwachsene) und zu den öffentlichen Bildungsinstitutionen (Kinder und Jugendliche) keineswegs aus, obwohl heute viel von „Teilhabegerechtigkeit“ gesprochen und der soziale Fortschritt häufig im neoliberalen Sinne darauf reduziert wird. Nötig wären darüber hinaus die egalitärere Verteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen, d.h. eine Umverteilung des privaten Reichtums und die Herstellung größerer Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Gesellschaftsklassen, wenn nicht die Überwindung der bestehenden Produktions-, Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse.

Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass es einmal dazu kommt?

Ich bin kein politischer Traumtänzer, sondern Realist, aber eben auch historischer Optimist: Wer kämpft, kann verlieren; wer nicht kämpft, hat aber schon verloren. Und Niederlagen beweisen nichts, außer dass wir (noch) zu wenige waren, wie es Bert Brecht so treffend ausgedrückt hat.

+++++++++

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Der Beitrag Rigides Armutsregime durch Hartz IV erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

„Ich tippe, dass Merkel sich freiwillig zurückziehen wird.“

$
0
0

Fünf Monate nach der Bundestagswahl sind sich Union und SPD einig und es soll erneut zu einer Großen Koalition kommen. Zunächst aber ist noch die SPD-Basis gefragt. Nur mit deren Zustimmung kommt es tatsächlich zu einer solchen Konstellation. Ist die „GroKo“ tatsächlich alternativlos, kann Angela Merkel eine weitere Legislaturperiode durchhalten und wie ist es um den Zustand der Volksparteien in unserem Land bestellt?

Herr Prof. Decker, angesichts der immer stärker einbrechenden Zustimmungswerte zu CDU/CSU, FDP, den Grünen und insbesondere auch der SPD scheinen die besten Zeiten der Volksparteien vorbei zu sein. Teilen sie diese Einschätzung und falls ja, worin liegen die Ursachen?

Frank Decker ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn (Foto: Volker Lannert)

Union und SPD haben es heute mit jeweils zwei Konkurrenten innerhalb des eigenen Lagers zu tun, mit denen sie um eine zunehmend wechselbereiter werdende Wählerschaft buhlen. Da wird der eigene Stimmenanteil zwangsläufig kleiner.

Die Parteienlandschaft wird deutlich vielfältiger. Das beunruhigt die etablierten Parteien verständlicherweise. Insgesamt belebt es aber doch die teilweise tief verkrusteten politischen Strukturen und stärkt demokratische Verhältnisse?

Einerseits ja, andererseits besteht aber die Gefahr, dass nur noch lagerübergreifende Koalitionen in der Mitte gebildet werden können, die wiederum zu einem Erstarken der Ränder führen. Es drohen die sprichwörtlichen „österreichischen Verhältnisse“.

Augenblicklich wird erneut an einer Großen Koalition gebastelt. Betrachten wir das Wahlergebnis der letzten Bundestagswahl, wurde eine solche Konstellation von den Wählern aber doch gerade abgewählt?

So ist es, wenn man die Verluste betrachtet. Bei einer Jamaika-Koalition wären zumindest zwei Parteien neu in die Regierung gekommen, die Stimmengewinne erzielt hatten – FDP und Grüne. Unter Demokratiegesichtspunkten wäre das besser gewesen als die Fortsetzung der Großen Koalition.

Die SPD hat sich in den vergangenen Monaten in puncto Glaubwürdigkeit ziemlich verheddert. Wie zielführend ist der Einstieg der SPD in eine Große Koalition hinsichtlich der dringend erforderlichen Erneuerung der Partei tatsächlich?

Die Erneuerung der Partei ist nicht zwingend an die Oppositionsrolle gebunden. Wenn das so wäre, hätte sie ja bereits zwischen 2009 und 2013 stattfinden können. Die SPD sollte sich nicht einreden, dass allein die Große Koalition an ihrer Misere schuld ist.

Viele führende Politiker scheuen eine Minderheitsregierung. Zu Recht? Immerhin muss im Rahmen einer solchen Konstellation viel stärker um Positionierungen und Entscheidungen gerungen werden, was letztlich das Wesen und der Kern demokratischer Politikgestaltung ist?

Es gibt hierzulande leider wenig Verständnis für die Funktionsweise von Minderheitsregierungen. Die Annahme, der einzelne Abgeordnete würde dadurch gestärkt, ist naiv. Auch die Transparenz der Entscheidungen würde eher ab- als zunehmen. Das Sagen hätten weiterhin die Partei- und Fraktionsführungen. Auf ein Regieren mit wechselnden Abstimmungskoalitionen ist unsere Parteiendemokratie nicht eingerichtet. Vielleicht ändert sich das, wenn wir mehr Erfahrungen mit Minderheitsregierungen auf der Länderebene sammeln. Im Moment ist die Zeit für ein solches Modell jedenfalls noch nicht reif.

Es gibt Stimmen, die einen Rücktritt Angela Merkels für überfällig halten. Die Kanzlerin selbst hat aktuell allerdings nochmals bekräftigt, in jedem Fall die gesamte Legislaturperiode bewältigen zu wollen. Ist das aus Ihrer Sicht realistisch oder wäre ein freiwilliger Rücktritt nicht doch die deutlich bessere Variante?

Selbst wenn Merkel innerlich schon weiß, dass sie nach der Hälfte der Wahlperiode den Weg für einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin freigeben möchte, kann sie das nicht vorher ankündigen – sie wäre dann ja eine Kanzlerin auf Abruf, eine „lahme Ente“, wie man in den USA sagt. Ich tippe, dass Merkel sich freiwillig zurückziehen wird – damit würde sie etwas schaffen, was bisher noch keinem Kanzler gelungen ist.

Immerhin wird hinsichtlich einer möglichen Nachfolge im Vorfeld gerade Annegret Kramp-Karrenbauer als CDU-Generalsekretärin positioniert. Halten sie diese Entscheidung für sinnvoll und steht nicht beispielsweise mit Norbert Röttgen längst ein möglicher und durchaus sehr geeigneter Nachfolger bereit?

Röttgen als Nachfolger Merkels sehe ich nicht – weder im Parteivorsitz noch im Kanzleramt. Und er wäre auch nicht der Favorit der Kanzlerin.

Wenn sie eine Prognose wagen: Hält die Große Koalition mit Angela Merkel an der Spitze die gesamte Legislaturperiode durch oder kommt es am Ende doch anders, als es sich die Protagonisten derzeit wünschen?

Ich halte einen Kanzlerwechsel inmitten der Legislaturperiode ohne Neuwahlen für am wahrscheinlichsten.

Folgen Sie Spreezeitung auf Facebook, um keine spannenden Artikel zu verpassen.

Der Beitrag „Ich tippe, dass Merkel sich freiwillig zurückziehen wird.“ erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

„Die Kanzlerin hat Alleingänge mit Rechtsbrüchen bezahlt“

$
0
0

Frau Höhler, wir haben bereits 2012 anlässlich Ihrer Buchvorstellung „Die Patin“ über den IST-Zustand des Landes unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel miteinander gesprochen. Ihre damalige, äußerst ernüchternde Diagnose hat sich in den nunmehr weiteren sechs Jahren erhärtet?

Prof. Dr. Gertrud Höhler

Prof. Dr. Gertrud Höhler

(Foto: Nik Hunger)

In der Tat sind meine Befunde und Prognosen bestätigt worden. Das Buch gewann Jahr für Jahr an Aktualität, weil zumindest eine steigende Zahl von Beobachtern und eine zunächst zögernde Schar von Journalisten das Tabugelände der Merkelkritik zu betreten wagten.

Aktuell liegt ein Possenspiel der Union hinter uns, das seinesgleichen sucht. Es lagen Optionen bis hin zum Bruch der Koalition auf dem Tisch. Was halten Sie von solchen Szenarien und geht es hier noch um Sachthemen oder wird am Sessel festgehalten?

Die Dramatik der Auseinandersetzung zwischen dem Innenminister Seehofer und der Kanzlerin Merkel entstand, weil beide wussten: Hier läuft ein Stellver­treter-Konflikt, in dem es um sehr grundsätzliche Verfassungswerte geht: Die Öffnung von Grenzen, die Normen für Neuankömmlinge, die diese Grenzen überschreiten wollen, ihre Nachweispflichten zu ihrer Identität und Herkunft; schließlich die Aufgaben des Verfassungsschutzes, der Bundes- und Landespolizei und der Weisung erteilenden Politik.

Seehofer hatte den Startschuss in diese Stellvertreter-Anklage so gesetzt, wie es die Staatsanwälte im Falle einer Häufung von Regelbrüchen und Delikten tun: mit einem pars pro tato, einem Einzelbeispiel, hinter dem aber für beide Kontrahenten das Labyrinth der Rechtsbrüche und unabgestimmten Entscheidungen aufleuchtete: Für die Kanzlerin bedrohlich, für ihren Innenminister vielver­sprechend im Sinne einer endgültigen Kehrtwende in der Migrationspolitik.

Meines Erachtens war und ist diese Spektakel – insbesondere auch in Hinblick auf das Ergebnis – eine Zumutung für die Bürger. Wie beurteilen Sie dieses Szenario?

Dass in solchen Grundsatz-Duellen immer auch die Ämter und das Ansehen der Spitzenpolitiker auf dem Spiel stehen, versteht sich von selbst. Die deutsche Kanzlerin hat viele ihrer Alleingänge zum Machterhalt ungerührt mit Rechts­brüchen bezahlt; auf europäischer Ebene bei der sogenannten Eurorettung, in Deutschland bei der Verstaatlichung der Energiewirtschaft. Ihr Stichwort in der Seehofer-Affaire ‚keine Alleingänge‘ erscheint im Lichte ihrer Solo- Entscheidungen nicht überzeugend.

Wären Neuwahlen nicht die deutlich bessere Alternative? Auch, um die Machtverhältnisse wieder etwas in den demokratischen Rahmen zu verschieben? Das Volk ist der Souverän. Mir fehlt die Vorstellungskraft, dass es hier noch um den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung geht.

Wie berechtigt diese Überlegung ist, zeigen uns die neuesten Umfrage-Ergebnisse. Da zeigt sich der – erwünschte? – Grad der Verwirrung, wenn eine Mehrheit für die – inzwischen schon wieder beerdigten – Transferzentren entscheidet, den Erfinder Seehofer aber zugleich für seine Vorschläge tadelt. Neuwahlen werden von vielen Bürgern wie die klärende kalte Dusche gesehen und gewünscht.

Betrachten wir einmal die „Flüchtlingskrise“, die augenscheinlich Auslöser des Streits zwischen CDU und CSU ist. Halten Sie den nun gewonnen Kompromiss auch nur im Ansatz für zielführend?

Diese Frage beantwortet sich inzwischen Tag für Tag deutlicher: Staunend nehmen wir zur Kenntnis, dass Flüchtlinge, die seit 2015 einer weltweit verbreiteten „Einladung“ nach Deutschland folgen, nun den Nachbarländern geschickt werden sollen, und, noch erstaunlicher, dass die Einigung der beiden Unions-Streiter als Sieg verkündet wurde, während die Nachbarländer bereits ankündigten, dass sie Deutschlands Problem nicht auf ihrem Territorium zu lösen gedächten.

Der kausale Fehler, der gemacht wurde und weitreichende Folgen nach sich zieht, war nicht die humanitäre Haltung Deutschlands gegenüber Geflüchteten aus Kriegs- und Krisengebieten, sondern das unilaterale Handeln der Kanzlerin. Das Dublin III-Abkommen wurde quasi ausgehebelt?

Das geschieht inzwischen in allgemeinem Einvernehmen. Dublin passt nicht mehr, so der – womöglich treffende – Befund. Die deutsche Kanzlerin hat aber bei all ihren Führungsentscheidungen nicht an Gesetze, Normen und Werte gedacht, sondern die Werte-Vokabel nur pauschal und nur verbal geltend gemacht, um den Freibrief für übergesetzliches Handeln weiterhin in Anspruch nehmen zu können.

Das ungeprüfte Durchwinken aller, die 2015 ins Land gekommen sind, lässt sich ebenfalls als eklatanten Fehler Merkels bewerten. Hier gibt es bis heute kein Einsehen schon gar nicht Konsequenzen auf der Seite der Kanzlerin?

Im Gegenteil, Nach einem kurzen Zwischenspiel im Jahr 2016, als sie ihre September-Aktion selbst kritisch sah, hat sie in den Jahren 2017 und 2018 unter dem Beifall ihrer Vasallen zu der kühnen Formel gefunden, 2015 dürfe sich nicht wiederholen – ganz so, als sei der Einlass für nahezu eine Million Menschen, ohne die weltweit üblichen Grenzkontrollen ein Naturereignis gewesen, auf das niemand Einfluss hatte. Also wurde im Märchenton nach dem Muster „als das Wünschen noch geholfen hat“ eine histo­risch sehr folgenreiche Entwertung von Völkerrecht verharmlost.

Das Sterben im Mittelmeer setzt sich unterdes unaufhaltsam fort, eine Migrationsbewegung ungeahnten Ausmaßes setzt sich in Bewegungen. Das Problem ist lange bekannt, weitreichende Lösungsstrategien bis heute hingegen nicht. Ist das nicht ein Versagen auf voller Linie?

Was hier im Streit liegt, ist eine Selbstverklärung der Deutschen, die in der „Willkommenskultur“ programmiert wurde und nun vor keiner Selbstüber­schätzung zurückschreckt, und der daraus entstehende Verschleierungsbedarf bei der deutlichen Radikalisierung der Flüchtlingsabwehr, die jetzt in Gang gekommen ist.

Weil das mittlere Mass verpasst wurde – Was können wir uns Zutrauen? Was dürfen wir den Bürgern zumuten? Wie schützen wir beide, die Neuankömmlinge und die Bürger dieses Landes, dessen Kapazitäten be­grenzt sind? – weil eben diese vernünftige Einschätzung der eigenen Möglichkeiten ausblieb, weil der Anschein humanitärer Weltgeltung so verlockend war, darum schlägt jetzt die Ausnahmebereitschaft in kalte Abwehr um – immer mit verbalen Werte-Beschwörungen auf den Lippen.

Hinter dieser Problematik werden auch vielfältige weitere Defizite versteckt. Innenpolitisch erwarten die Bürger moderne, zukunftsbezogene Lösungen im Bereich Rente, Infrastruktur, bezahlbares Wohnen, Digitalisierung und mehr. Wie viel Schwung trauen Sie der derzeitigen Bundesregierung diesbezüglich zu?

Die Neulinge unter den Ministerinnen und Ministern zeigen sich durchsetzungsentschlossen. Da melden sich sehr dringende Engagements mit lauter Stimme. Auch der Gesundheitsminister macht Tempo, der unterschätzte Entwicklungsminister ebenso.

Politiker haften nicht für das, was sie in ihrer Amtszeit bewegen. Wie müssen wir uns dann die Einlösung des Versprechens der Kanzlerin vorstellen, die Verantwortung für alles zu übernehmen?

Hat sie das wirklich versprochen? Und wenn: Wer sagt denn, dass sie es halten muss?

Schafft Angela Merkel aus Ihrer Sicht noch die komplette Kanzlerschaft und was halten Sie persönlich von meinem Vorschlag, die Geschicke unseres Landes beispielsweise Norbert Röttgen (CDU) vertrauensvoll in die Hände zu legen?

Zwischen Röttgen und Merkel steht die NRW-Geschichte, die Sie in meinem PATIN- Buch nachschlagen können. Merkel will Kramp-Karrenbauer, falls sie das durchsetzen kann. Ob sie bis 21 regiert, hängt nicht allein von ihr ab. Könnte sie allein das bestimmen, so bliebe sie. Unter Umständen auch länger.
 
*Prof. Dr. Gertrud Höhler ist Publizistin, Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Beraterin für Topmanager aus Wirtschaft und Politik. Sie hat zahlreiche Bestseller veröffentlicht, darunter „Die Patin“ sowie „Demokratie im Sinkflug: Wie sich Angela Merkel und EU-Politiker über geltendes Recht stellen (Edition Tichys Einblick). Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem auch mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.

Verweise:


Behindern Gewerkschaften den Durchbruch beim BGE?

$
0
0
Bedingungsloses Grundeinkommen

Reimund Acker vom Netzwerk Grundeinkommen. (Foto: R. Acker)

Herr Acker, augenblicklich ist es etwas leise geworden rund um das BGE. Die Ruhe scheint trügerisch. Können Sie uns einen kurzen Umriss um den aktuellen Stand der Entwicklung geben?

Nun, der Lärm der Flüchtlingsdebatte mag im Moment vieles übertönen, aber von Ruhe beim BGE würde ich nicht sprechen, eher von schöpferischer Unruhe. Der aktuelle Stand der BGE-Debatte ist gekennzeichnet durch eine hohe Aufmerksamkeit der Medien für das Thema, dem zunehmend inflatorischen Gebrauch des Begriffs „Grundeinkommen“ sowie der viralen Verbreitung der Idee.

Aufmerksam registrieren die Medien inzwischen alles, was auch nur entfernt an ein Grundeinkommen erinnert: Finnland, Italien, Rheinau. Wo nichts passiert, wird es notfalls erfunden, wie der angebliche Abbruch des BGE-Experiments in Finnland. Und sogar wenn im kanadischen Ontario ein BGE-Experiment abgeblasen wird, berichten Medien weltweit.

Alles Mögliche wird neuerdings als Grundeinkommen bezeichnet, auch wenn es keines ist, wie das sog. „solidarische Grundeinkommen“ des Berliner OB Müller. In Deutschland weisen Umfragen inzwischen eine Mehrheit für das BGE aus. Damit ist hierzulande der zweite wichtige Meilenstein auf dem Weg zum Grundeinkommen geschafft. Der erste war, es überhaupt bekannt zu machen. Der dritte Meilenstein ist erreicht, wenn die Mehrheit der Menschen das BGE nicht nur für wünschenswert, sondern für notwendig hält. Um dahin zu kommen, müssen wir BGE-Freunde in unserer Überzeugungsarbeit jetzt einen Gang höher schalten.

Wir haben bereits 2016 sehr ausführlich über das BGE miteinander gesprochen. Heute würde ich gerne den Fokus auf die Rolle der Gewerkschaften bei einem möglichen BGE setzen. Zunächst interessiert mich Ihre Einschätzung zur Arbeit der Gewerkschaften seit 2005. Haben sie ihre Hausaufgaben gemacht?

Ich maße mir als Außenstehender nicht an, die Hausaufgaben der Gewerkschaften zu beurteilen. Ich finde, sie haben sich in einem zunehmend neoliberal-gewerkschaftsfeindlichen Umfeld wacker geschlagen, auch wenn ihr Machtverlust der letzten Jahre ihren Handlungsspielraum begrenzt hat. Erfreulich finde ich, dass sich DGB-Gewerkschaften neuerdings wieder für die Verkürzung der Arbeitszeit einsetzen. Auch die Tarifabschlüsse dieses Jahres können sich sehen lassen und signalisieren hoffentlich eine Trendwende. Wichtig fände ich, dass sich die Gewerkschaften stärker dem Prekariat als einer neu entstehenden Klasse zuwenden und dass sie ihr Image als Interessenvertretung der Stammbelegschaften überwinden.

Natürlich würde ich mir mehr Offenheit der Gewerkschaftsspitzen bei Zukunftsthemen wie dem Grundeinkommen wünschen. Die notwendige Überwindung der Arbeitsgesellschaft sollte von den Gewerkschaften nicht blockiert sondern mitgestaltet werden. Das setzt freilich ein neues Selbstverständnis der Gewerkschaften und ein Überdenken ihres Arbeitsbegriffs voraus.

Nicht nur Verdi, sondern praktisch alle Gewerkschaften lehnen ein BGE quasi rigoros ab. Gesamtgesellschaftliche Interessen haben aber Vorrang vor Gewerkschaftsinteressen?

Es bewegt sich etwas in den Gewerkschaften bei der Haltung zum Grundeinkommen. Einen Hinweis darauf lieferte der Auftakt zum letzten DGB-Bundeskongress: Kein geringerer als der Bundespräsident himself wurde da aufgeboten, um das BGE zu kritisieren. Ganz anders die Basis. Die Gruppe „Gewerkschaftsdialog Grundeinkommen“ betreibt eine Website für Gewerkschafter zum BGE. Bei einem Gewerkschaftertreffen im April in Hannover wurde ein Gewerkschaftsevent pro Grundeinkommen für das Frühjahr 2019 vereinbart. Die IG-BAU-Frauen haben eine Broschüre zum BGE veröffentlicht. Und bereits 2009 haben die IGM-Mitglieder bei einer Befragung das BGE als eine ihrer wichtigsten Forderungen angegeben.

Viele Gewerkschaften haben sich zu konzerngleichen Machtzentren entwickelt. Wer dort arbeitet, hat nicht viel Interesse daran, den Posten zugunsten eines BGE zur Disposition zu stellen?

Warum sollte jemand wegen des BGE Angst um seinen Job bei der Gewerkschaft haben? Die Gewerkschaften werden ja durch das Grundeinkommen nicht überflüssig, sondern mächtiger.

Ordentliche Lohn- bzw. Gehaltsabschlüsse zu erzielen bleibt auch dann Kernkaufgabe der Gewerkschaften, wenn es ein generelles bedingungsloses Grundeinkommen gibt? Warum dann diese Angst?

Egal wie viel man verdient: Man kann immer mehr herausholen – Geld oder Freizeit-, wenn man sich mit andern zusammenschließt. Z. B. in einer Gewerkschaft. Und dazu kommt die bessere Verhandlungsposition jedes Einzelnen durch das BGE, weil man leichter auch mal Nein sagen kann. Bedenkt man dann noch, was ein Grundeinkommen für die Streikkasse bedeutet, fragt man sich, warum die Gewerkschaften nicht längst an der Spitze der BGE-Bewegung marschieren.

Welche tiefere Ursache könnte die strikte Abwehr der Gewerkschaften gegenüber der Trennung von Arbeit und Einkommen und damit für wesentlich mehr Selbstbestimmtheit der Bürger haben?

Auch dazu gibt es innerhalb der Gewerkschaften unterschiedliche Meinungen, und man muss wieder zwischen Führung und Basis unterscheiden. Aus der Führungsetage hört man oft die Befürchtung, eine Trennung von Arbeit und Einkommen entwerte die Arbeit. Das Grundeinkommen trennt aber nicht Arbeit von Einkommen, sondern Existenzminimum von Arbeit. Im Übrigen haben wir doch diese Trennung längst: jede Menge Arbeit ohne Einkommen, jede Menge Einkommen ohne Arbeit.

Richtig ist, dass die Menschen durch das Grundeinkommen mehr Freiheit bekommen: Nein zu sagen zu einem Job, weil er schlecht bezahlt wird; aber auch, Ja zu sagen zu einem Job, obwohl er schlecht bezahlt wird. Für Gewerkschaften könnte es mehr Aufwand bedeuten, die Ja’s und Nein’s unter einen Hut zu bekommen. Ihre Arbeit würde anspruchsvoller, ihre Stellung wichtiger.

Eines der Gegenargumente der Chefs der Gewerkschaften beruht auf der Annahme, Löhne könnten damit eher den Charakter eines Zuverdienstes haben. Das ist deshalb etwas verwunderlich, da es ab Einführung von Hartz IV fast zehn Jahre dauerte, bis es zur Festlegung eines Mindestlohns kam. Eine Vielzahl an Bürgern konnten ein Jahrzehnt lang nicht von ihrem Lohn leben…..

Herr Bsirske glaubt also, einen Arbeitgeber-Kapitalisten dadurch beeindrucken zu können, dass er ihm sagt: „Du musst meinem armen Verdi-Kollegen mehr bezahlen, weil es ihm sonst nicht zum Leben reicht.“ Aber wäre es nicht eigentlich seine Aufgabe, dem Kapitalisten zu sagen: „Du zahlst dem Mann mehr, oder wir legen deinen Laden lahm.“ Trauen Herr Bsirske und Verdi es sich nur dann zu, gerechte Löhne auszuhandeln, wenn ihre Mitglieder durch Existenzangst erpressbar sind?

Klar, als Arbeitnehmer mit BGE kann ich für weniger arbeiten, wenn ich will, oder auch mehr verlangen. Das nennt man Arbeitsmarkt. Ich kann mir z. B. gute Gründe dafür vorstellen, einen Job anzunehmen, obwohl er schlecht bezahlt wird (wenn ich es mir dank BGE leisten kann): Wenn ich da eine Menge lernen kann; oder wichtige Leute kennenlerne; oder mir die Arbeit Spaß macht; oder ich die Arbeit wichtig finde; oder ich denjenigen unterstützen will, für den ich arbeite; etc. Ich kann aber auch Nein sagen zu einem Job: weil ich es mir mit BGE leisten kann, noch 3 Monate zu suchen, bis ich ein besseres Angebot finde.

Die heutige Parteivorsitzende der SPD und einstige Arbeitsministerin Andrea Nahles stemmt sich ebenfalls gegen eine BGE. Die Argumentationen wirken eigen-ideologisch, schwammig und wenig plausibel. Was genau befürchtet sie denn?

Frau Nahles‘ Argumentation kann ich leider nicht nachvollziehen. Sie wechselt ständig die Argumente. Am ehrlichsten ist vielleicht ihre Aussage in der Zeit vom 11.5.2017: „Es widerstrebt mir persönlich.“ Ich habe nicht den Eindruck, dass sie sich mit der Idee des Grundeinkommens angemessen auseinandergesetzt hat. Zum Glück gibt es in der SPD auch Menschen wie Simone Lange, BGE-Befürworterin und OB von Flensburg, die im Februar bei ihrer Kandidatur für den Parteivorsitz gegen Andrea Nahles auf Anhieb einen Achtungserfolg von 27,6 Prozent errang.

Im Wesentlichen einig sind sich die Gewerkschaften darüber, ein BGE sei nicht finanzierbar. Auch das klingt nicht plausibel, da es inzwischen viel Berechnungen gibt und teilweise auch durch den Wegfall der derzeit horrenden Sozialleistungen gegenfinanziert werden kann?

Eigentlich geht es bei der Frage nach der Finanzierbarkeit des BGE nicht um Geld – das man bekanntlich nicht essen kann-, sondern um die Frage, ob genügend Güter und Dienste produziert werden. Die zugrunde liegende volkswirtschaftliche Binsenweisheit bringt Oswald von Nell-Breuning, Vater der katholischen Soziallehre, auf den Punkt: „Alles was produziert werden kann, kann auch finanziert werden.“ Wer also die Finanzierbarkeit des Grundeinkommens bezweifelt, der bezweifelt im Grunde, dass unter den Bedingungen eines BGE noch genügend Güter und Dienste produziert würden. Ob also noch genug gearbeitet wird. Womit wir beim anderen Haupteinwand gegen das BGE wären. Ich meine ja, es würde noch genug produziert – ist ja jetzt schon zu viel – und das sogar mit weniger Menschenarbeit.

Allein die Aufrechterhaltung der Bundesagentur für Arbeit verschlingt Milliarden an Steuergeldern – pro Jahr, noch bevor ein einziger Arbeitssuchender irgendetwas erhält. Sollte das nicht deutlicher publiziert werden, um Finanzierungsfragen weiter zu untermauern?

Die paar Milliarden werden nicht reichen. Wir reden hier über richtig viel Geld: Ein BGE von monatlich 1000 Euro kostet z. B. ca. eine Billion Euro pro Jahr. Das gute an der Finanzkrise war, das uns solche Zahlen seither nicht mehr schrecken.

Das BMAS weist jährlichen die Sozialleistungen im Sozialbudget aus, das sich derzeit auf knapp eine Billion Euro pro Jahr beläuft. Das sind im Schnitt 1000 Euro pro Kopf und Monat. Die Kosten für die BA fallen da kaum ins Gewicht. Natürlich kann und soll das BGE nicht alle Sozialleistungen ersetzen, aber z. B. Kindergeld, BAföG, Ehegattensplitting, ALG 2 wären bei einem allgemeinen Grundeinkommen nicht mehr nötig.

Wer es genauer wissen will, kann mal in das Buch „Radikal gerecht“ des Schweizer Ökonomen Thomas Straubhaar reinschauen. Auch wenn man seine Ansichten nicht teilt, sind seine Rechenbeispiele aufschlussreich. Er finanziert seinen Sozialstaat samt 1000 Euro Grundeinkommen durch eine Flat Tax von 50 Prozent auf alle Einkommen. Wer also 4000 Euro brutto verdient, würde 2000 Euro Steuern zahlen und bekäme 1000 Euro BGE, hätte also 3000 Euro netto. Das entspricht einem Netto-Steuersatz von 25 Prozent. Die Meisten hätten nach diesem Modell netto mehr als heute.

Vor einigen Jahren lautete Ihre Prognose, das BGE würde 2021 wahlentscheidend sein. Sie bleiben dabei?

Ja, ein wahlentscheidendes Thema, nicht das einzige. Aktuelle Entwicklungen hinter den Kulissen bestätigen mich in dieser Einschätzung. Wir bekommen in letzter Zeit vermehrt Anfragen aus der SPD nach Referenten zum BGE. Das Thema beginnt dort Fuß zu fassen, immer mehr Genossen beschäftigen sich ernsthaft damit. Und sogar in der CSU stößt das BGE zunehmend auf Interesse. So bietet die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung Veranstaltungen zum Grundeinkommen. Ich hab mich gerade zu einer angemeldet.

In den übrigen demokratischen Bundestagsparteien gibt es schon länger BGE-Gruppierungen, nur die FDP muss sich noch auf ihr liberales Erbe besinnen. Jedenfalls hoffe ich, dass wir auf dem nächsten parlamentarischen Abend des Netzwerks Grundeinkommen in Berlin erstmals Vertreter aller demokratischen Bundestagsparteien begrüßen können.

Verweise:

„The dimension dissolves every vestige of human individuality“

$
0
0

The Waldstein-family in the year 1935 (© H. Wilkes)

deutClick zur deutschen Version

„My goal was and is to reach as many readers as possible so that we shall never forget the way things were or how such things might happen again in another way unless people start thinking seriously and critically and learn the difference between truth and propaganda“.

Dr. Wilkes, your family fled into exile in 1939. Do you remember the mood and incredible circumstances of that period?

No, the only memory that I cannot shake is fear. It has been said that the body remembers what the mind has forgotten, and that children absorb fear with their mother’s milk. Whenever and wherever in the world the bombs start to drop, I panic.

Your book has appeared in 2014 under the title The Worst, however, was the Jew Star: the Fate of my Family. What is the underlying idea of your book and did your research result in new findings?

There is a saying: „Know whence you came, that you may benefit from the experience of those upon whose shoulders you stand.“ Until age 60, when I opened a dusty box containing letters from the family who had not survived, I had no idea upon whose shoulders I stood. I grew up on an isolated farm in Canada with parents who refused to speak of the past. I knew very little of how and why we had fled to a land and a life that was so difficult. When I read those letters, it changed everything. All four of my grandparents sprang to life, along with an assortment of beloved uncles and aunts and cousins. I heard their voices, and I knew that I could not simply fold their letters and silence them a second time. They cried out to live and to speak to the world in their own words.

fled from Nazi-Germany into Canadian exile. (©  H. Wilkes)

The family fled from Nazi-Germany into Canadian exile. (© H. Wilkes)

And that is how this book began. The more I saw each person who wrote to us in Canada as an individual with a very different reaction to events that were unfolding in Europe, the more important it became to give voice to each individual. Six million is a number, and it erases every vestige of human individuality. I wanted Canadians to see whom they had lost by closing their doors to the immigration of Jews. Eventually, I also wanted Germans to see whom they had lost, these ordinary people who had once been their schoolmates, their friends and neighbours upon whom at the very least, they had turned their backs.

How do you account for the hatred against Jewry that in Germany eventually led to the greatest crime in human history?

Letter from  a vanished world. (© H. Wilkes)

(© H. Wilkes)

I am not a historian, and I am not sure how one can determine which is the “greatest” crime in human history. There have been and there continue to be so many horrendous acts ranging from the slaughter of the Armenians to the massacres in Rwanda, from the actions of Stalin and Mao all the way back to Genghis Khan.
The German situation to me personally is appalling because it was deliberate, calculated and carried out by people who were then among the world’s most educated and „civilized.“

I do not believe that Germans are innately evil, and I greatly admire the current generation of Germans who have looked long and hard at the issues that led to the final tragedy.

I think more than any other nation, Germans have learned from the past and taken steps to ensure that the future will not be a repetition of the past. I also agree with authors who point out that it was in part an unfortunate combination of circumstances, and that the degree of anti-Semitism was even greater in other countries.

When people are demoralized, when they are economically deprived, and when they feel that they have no future as was then the case in Germany and is still the situation in parts of the world today, then people will grasp at straws and they will follow any leader who promises them a better life.

The Waldstein-family in the year 1935 (© H. Wilkes)

The Waldstein-family in the year 1935 (© H. Wilkes)

During the Nazi era, anti-Semitism was largely initiated and legitimized by the state. In your opinion, why did so many citizens jump on the bandwagon of hatred and violence? Could millions of opponents have stopped the Nazis?

Humans love easy answers, and many people are happy when they don’t have to think too much for themselves. Nowadays, neuroscientists have demonstrated that what humans believe is often very different from the actual facts. Instead, there is a strong correlation to influences from childhood to social affiliation and to historical circumstances. „Thanks“ to the early church fathers, medieval Europe had already learned to condemn the Jews as the killers of Christ. Such beliefs do not vanish overnight. Hitler knew how to develop this distrust of the Jews as „Spawn of the Devil“.

As a lifelong educator, what is more difficult for me to understand is how so many highly educated people jumped on the bandwagon. One of my uncles who briefly survived the war describes with utter astonishment the marvels of technology that found their application in Theresienstadt and Auschwitz. Does every scientist have a responsibility to ask how his new findings will be used? A major question for our generation is what and how we should teach students so that past atrocities will never be repeated in any form.

Do you believe the many protestations by Germans of those days that they knew nothing of the extent of Nazi atrocities?

During the First World War. (© H. Wilkes)

(© H. Wilkes)

No, I do not believe they knew nothing. Too many people were involved in the process, and it was hardly a secret that Hitler was seeking to exterminate the Jews. Some Germans were only involved in knocking on doors at midnight or in herding all Jews like cattle onto the trains. It may be true that they did not ask the destination of the train, but they cannot have escaped knowing that these thousands upon thousands of frightened people were not heading for a happy vacation. Other Germans only drove the train, and did not ask what was in the boxcars, while still others merely directed people to the left of to the right upon arrival at the extermination camps.

At the same time, it may be true that few people were aware of „the full extent of the atrocities because I suspect that few people could have born the truth. The details are simply beyond human imagining. We all like to believe that our group does not commit atrocities and is somehow „better“. We still justify the actions of governments on our behalf, often despite evidence to the contrary. None of us wants to know the full extent of torture deemed necessary in Guantanemo by our American allies. Although that does not make it excusable, it is a human trait to not want to know. For ordinary Germans of the Nazi era, it was easier to imagine their suddenly absent schoolmates and neighbours as having gone to America thant to imagine them being gassed at Auschwitz.

Despite their immeasurable suffering, could your family pardon and can you yourself forgive Germany?

My parents probably did not and could not. „Nie wieder nach Europa“ was their invariable comment after the war when friends began to speak of the pleasures of going „home“ where good food and great music were readily available.

Waldstein-Generationen (© H. Wilkes)

(© H. Wilkes)

For me, the answer is very different. I had grown up in Canada with my own experiences of anti-Semitism, and I had learned that there were good people and bad people in all parts of the world. Once I was old enough to travel, I was repeatedly drawn to Europe and especially to the German-speaking lands where I met more and more people whose kindness and level of understanding astonished me. I am, of course, speaking largely of a new generation, people who themselves were too young to be direct participants, but who have asked the hard questions. And I must stress again and again that in my experience, more than any other nation, Germans have asked these questions and continue to ask them.

With these forgiving words in mind, do you think of certain individuals and encounters in particular?

When I think of a new generation of Germans, I think of those I have met during the research for this book. I picture the young man who took me up the tower in his home town to show me the remains of a concentration camp. Repeatedly he has wrestled with the issue of how his good and caring parents could have acted as they did. I think of strangers who have become my friends, of people who reached out to me with offers of help in translating the book. I think of Germans who welcomed me to their homes as if I were a long-lost cousin, and who have enabled me to put a real face on German kindness. In turn, I have come here to put a real face on being a Jew of German origin, knowing fully that this makes me a Sondervogel, a rare bird in this land where the only Jews are largely recent arrivals from other lands. But my roots are here.

Is the time ripe for significantly more communication, exchange and talk with fellow Jewish citizens and contemporaries?

Absolutely. More and better communication and mutual understanding are crucial. What other way is there to prevent a repetition of the Third Reich and of other historical horrors?

Transport-card from the year 1943 (© H. Wilkes)

Transport-card from the year 1943 (© H. Wilkes)

What do you wish for in particular with regard to the coexistence of Jewish citizens and contemporaries from other religions and cultures?

I personally think a step in the right direction would be to stop categorizing people according to race or religion or even nationality. I am a Jew, but I no more represent all Jews than you represent all Christians- or all atheists or all members of any group. And certainly, no one of you could claim to speak for all Germans. Jews too have many different opinions on every issue, as do all people.

There are good people and not-so-good people to be found in every family. How much more is that the case in a larger group? There are good people and not so good people to be found in Canada and in Germany and in every other land and in every race and in every culture. No one represents me, and I represent no one else. No one is „typical“, and we must all learn to see each other as individuals rather than as members of a group in whom clever politicians can stir up animosity toward all members of some other group.

References:

„Das Schlimmste aber war der Judenstern. Das Schicksal meiner Familie“

Der Rücktritt ist ein Ritual

$
0
0
Rücktritt Politiker

Viele Politiker schaffen den zeitgerechten Rückzug nicht.

Foto: macor / Clipealer.de

Die meisten Politiker treten ohne Not nicht zurück. Für den Rest wird das Prozedere zu einem Ritual, glaubt der Historiker Dr. Michael Philipp. Der Experte hat schon 2007 zu diesem Thema eine Publikation zu Verhaltensweisen von Politikern herausgebracht, die entweder gar nicht, nur mit Ach und Krach oder tatsächlich auch einmal mit Würde aus dem Amt geschieden sind. Letztere sind deutlich in der Minderheit. Nachgefragt. Im Gespräch mit dem Autor der Publikation Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen.

Fotorechte: Dr. Michael Philipp

Was war der Stein des Anstoßes, Rücktritte hochrangiger Politiker unter die Lupe zu nehmen?

Für meine Beschäftigung mit dem Thema „Rücktritt“ gab es keinen konkreten Anlass, es war nicht ein einzelner spektakulärer Vorfall, der mein Interesse auf dieses Phänomen gelenkt hätte. Als Historiker achte ich auf wiederkehrende Vorgänge und Abläufe, auf Verhaltensmuster und ihre Variationen und irgendwann fiel mir auf, dass politische Rücktritte ein spannendes und überdies aussagekräftiges Beispiel wiederkehrender Vorgänge sind.

Schon beim Vergleich nur weniger Rücktritte habe ich festgestellt, dass die einzelnen Schritte bis zu einem Rücktritt – etwa die Berichterstattung der Medien, das Krisenmanagement bei einer Skandalisierung, das Verhalten der Parteifreunde – fast immer denselben Schemata und Mechanis­men folgen. So ist der Rücktritt ein Ritual, und wie jedes Ritual dient es der gesellschaftlichen Regelung und Kommunikation: Rücktritte und die Diskussionen um ihr Für und Wider sagen viel über die politische Kultur aus.

Wenn ich noch die Zielgruppe meiner Untersuchung präzisieren darf: mein Blick richtete sich nicht primär auf „hochrangige“ Politiker, sondern auf Regierungschefs und -mitglieder in Bund und Ländern, also auf Kanzler, Ministerpräsidenten und Minister, außerdem auf den Bundestags­präsidenten. Das sind Repräsentanten der Verfassung, und während andere politische Posten – etwa der eines Parteivorsitzenden – Vereinsangelegenheiten sind, ist die ordnungsgemäße Führung eines Amtes im Verfassungsrang eine Frage, die an den Bestand der Demokratie rührt.

Ihre Publikation ist auch eine beachtliche Recherchearbeit. Wie lange haben Sie an dem Buch gearbeitet?

Von der ersten Idee zu diesem Buch bis zur Drucklegung sind fünf Jahre vergangen. In diesem Zeitraum habe ich nicht ausschließlich an diesem Projekt gearbeitet, in den Phasen des Recherchierens und Auswertens der Materialien gab es immer mal eine Pause.

Die Recherche war sehr aufwendig – zum einen musste ich erst einmal ermitteln, welche Rücktritte es in der Bundesregierung und den Landesregierungen seit 1950 gegeben hat, zum zweiten musste ich für jeden Fall die Fakten zusammentragen, um Abläufe, Ursachen und Hintergründe jeweils zu rekonstruieren. Ich habe wochenlang in Bibliotheken gesessen und aus Biographien, Autobiogra­phien, Epochendarstellungen und Regionalgeschichten Informationen über einzelne Rücktritte geholt. Das war aber nur für die wenigen Dutzend der spektakulären Fälle – wie Franz Josef Strauß, Uwe Barschel, Konrad Adenauer, Willy Brandt – möglich.

Die meisten Rücktritte, vor allem die in Landesregierungen, sind nicht in die Geschichts­schreibung eingegangen, weil sie kaum Aufmerksamkeit erregt hatten, weil sich Skandale rasch erledigt hatten oder weil sie nur von regionaler Bedeutung waren. Die meisten Informationen über solche Rückt­ritte habe ich aus dem Zeitungsausschnittarchiv der Freien Universität Berlin – eine hervorragende Sammlung, die über Jahrzehnte alle Tageszeitungen der Bundesrepublik ausgewertet hat. Nur durch dieses reiche zeitgenössische Quellenmaterial war es möglich, die Fälle detailliert nachzuvollziehen.

Die Materialsuche und -erschließung hat sich jahrelang hingezogen. Die Phase des Schreibens, in der ich nichts anders getan habe, als die gewonnenen Fakten auszuwerten und in eine narrative Struktur zu bringen, hat etwas über anderthalb Jahre gedauert.

Treten Frauen anders zurück als Männer? Oder sind Auswüchse von Eitelkeiten eher geschlechtsneutral?

Bisher hat es zu wenig Rücktritte von Frauen gegeben, um eine fundierte Aussage über geschlechts­spezifisches Verhalten bei Amtsniederlegungen treffen zu können. Die Frage ist aber spannend, weil sie an das grundsätzliche Thema reicht, ob Politikerinnen anders agieren oder ein anderes Amtsverständnis haben als Männer. Das wird sich in Bezug auf Rücktritte vielleicht in einigen Jahren oder Jahrzehnten beantworten lassen.

Auf zwei Aspekte dieses Themas möchte ich aber kurz eingehen. Das ist zum ersten der Umstand, dass Frauen bei einer Skandalisierung anscheinend schneller zurücktreten als Männer – es gibt kein Beispiel, dass eine Politikerin monatelang skandalisiert wurde und ihren Rücktritt hinausgezögert hätte wie es – als Extrembeispiel – Hans Filbinger getan hat. Skandalisierte Politikerinnen treten relativ schnell zurück, etwa die Bundesministerinnen Andrea Fischer oder Herta Däubler-Gmelin. Diese geringe Beharrlichkeit könnten Sie mit mangelnder Widerstandskraft oder zu geringer Verankerung in Partei- und Fraktionsstrukturen erklären. Aber das führt in die Irre. Einer­seits waren gerade diese beiden Fälle durch die aktuelle Situation geprägt, andererseits gibt es hinreichend Beispiele dafür, dass auch bei Männern die Durchhaltekraft nicht eben ausgeprägt sein muss; die prominentesten und tragischsten Beispiele gaben Willy Brandt und Björn Engholm.

Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Beobachtung, dass unter den so wenigen Rücktritten aus Protest immerhin drei von Frauen sind. Die Ministerinnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Marianne Birthler und Christa Thoben haben sich aus Gründen ihrer politischen Ansichten, ihres Verständnisses von politischem Anstand oder ihrer Selbstachtung den Zumutungen ihrer Partei oder ihres Regierungschefs entzogen. Auch hier lässt sich aus den wenigen Fällen noch nicht auf ein besonders von Frauen realisiertes Prinzip schließen, aber vielleicht wird es mal eines.

Welcher Rücktritt hat Sie persönlich – im positiven oder negativen Sinne – am meisten fasziniert und warum? 

Zu den beeindruckenden und sympathischen Fällen gehören die eben genannten Rücktritte aus Protest. Zu ergänzen sind da noch Gustav Heinemann, der erste Zurücktretende der Bundesrepublik, der 1950 mit seiner Demission gegen Adenauers Wiederbewaffnung protestierte, und Erhard Eppler, der die neue Politik von Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht mittragen konnte, weshalb er 1974 als Minister für Entwicklungshilfe zurücktrat.

An positiven Rücktritten gibt es nicht so viele; zu den gelungenen Fällen gehört der von Hans-Dietrich Genscher als Außenminister: auf der Höhe seines Ansehens, ohne erkennbaren äußeren Anlass. In völliger Freiwilligkeit abzugehen, gelingt den Wenigsten. Diese Leistung ist beeindruckend, weil sie ein Zeichen von Selbstdistanz und Realitätsbewusstsein ist; beides ist unter Politikern nicht eben verbreitet.

Auf der anderen Seite stehen die unangenehmen Beispiele. Am erschreckendsten war der Fall von Hans Filbinger, der sich an Uneinsichtigkeit nicht überbieten lässt; fatal war der Rücktritt von Rainer Barzel, der als Heuchler und Abkassierer dastand; am dringlichsten war der Rücktritt von Uwe Barschel, der in den schmierigsten Skandal der Bundesrepublik, die Aktionen gegen Björn Engholm, verwickelt war. Und dann gibt es noch die unterbliebenen Rücktritte, etwa die Rücktrittsverweigerung von Manfred Wörner. Das war derjenige Minister, der sich trotz gröbsten Fehlverhaltens im Amt halten konnte – das wird immer als Makel der Regierung von Helmut Kohl haften bleiben. Dieser Spezies der ausgebliebenen Rücktritte habe ich ein eigenes Kapitel gewidmet.

Sie mahnen zu einer Rücktritts-Kultur. Sie glauben, dass es sie eines Tages geben kann?

Es gibt ja bereits eine Rücktrittskultur – allerdings in Großbritannien. In meiner Untersuchung habe ich mich auf die Bundesrepublik beschränkt, weil ein internationaler Vergleich ein eigenes Thema wäre, aber bei verschiedenen Gelegenheiten habe ich auch die Verhältnisse in Großbritannien erwähnt. Dort sind Politiker schneller bereit, Verantwortung für einen Missstand zu übernehmen, aus Achtung vor der Demokratie ihr Amt aufzugeben. Ob sich deutsche Politiker ein solches Amtsverständnis zum Vorbild nehmen werden, vermag ich nicht vorherzusagen. Auf absehbare Zeit scheint mir das nicht wahrscheinlich, da müsste sich wohl das Karrieredenken und die stringente Lebensplanung grundlegend ändern. Aber warum sollte es nicht dazu kommen? Es ist nicht verkehrt, in längeren Zeiträumen zu denken. In einem historischen Kapitel meines Buches betrachte ich Amtsniederlegungen vergangener Jahrhunderte – von Sulla und Diokletian in der Römerzeit über Karl V. im 16. Jahrhundert bis zu Christina von Schweden. Deren Abdankungen – alle freiwillig zustande gekommen – sind auch Beispiele für umsichtige Amtsniederlegungen. Im übrigen braucht es für eine Kultur des Rücktritts gar nicht so viele Fälle – schon zwei bis drei gelungene Rücktritte pro Jahr könnten zu einem Imagewandel des Rücktritts führen und langsam zum Wachsen einer Rücktrittskultur beitragen.

Werden Sie zukünftige Rücktritte in einer späteren Auflage ergänzen?

Es ist keineswegs auszuschließen, dass in den kommenden Jahren weitere Fälle das Spektrum der Rücktritte bereichern. Dieses Phänomen ist so vielschichtig, die Varianten im Verhalten der Beteiligten sind so unerschöpflich, dass immer etwas Neues dazukommt. Allerdings gehe ich davon aus, dass ich in meiner Typologie der Rücktrittsgründe die wesentlichen Varianten beschrieben habe – von biographischen und politischen Gründen über Protest bis zu den verschiedenen Möglichkeiten des Fehlverhaltens ist alles systematisch erfasst. Das gilt auch für die Faktoren, die zu einem Rücktritt führen können – von der Bedeutung des Regierungschefs über den Sinn von Rücktritts­forderungen und Drohungen bis zur Rolle der Medien habe ich die wesentlichen Elemente behandelt. Wenn aber ein künftiger Rücktritt nicht nur eine Abwandlung bekannter Muster enthält, wenn er die Geschichte des Rücktritts nicht nur um eine spektakuläre oder kuriose Anekdote bereichert, würde ich ihn sicher in einer späteren Auflage des Buches würdigen.

 
Verweise:

„Der Winter wird vermutlich wieder von Kältetoten geprägt“

$
0
0
Thomas Seerig

Thomas Seerig (FDP), Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses zum Thema

Kälteschutz für Obdachlose (Foto: FDP-Fraktion Berlin)

In diesen Tagen wurde eine Meldung verbreitet, „Berliner Obdachlose dürfen im Winter nicht mehr in U-Bahnhöfen schlafen„. Unsere Nachfrage bei den Berliner Verkehrsbetrieben ergab, dass es sich bisher nicht um eine endgültige Entscheidung, sondern um eine Überlegung handelt. Angesichts des bisher nicht gelösten Problems weiter wachsender Zahlen von Obdachlosen in der Hauptstadt mit der im Winter bestehenden Gefahr des Erfrierens stellt sich die Frage, wie künftig mit dem Problem umgegangen werden soll.

Welche Lösungsansätze ergeben Sinn, gibt es diesbezüglich Pläne des Senats, die zeitnah umsetzbar sind und wie lässt sich die Gesellschaft deutlich stärker für dieses Problem sensibilisieren. Im Gespräch mit Thomas Seerig (FDP), Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Seerig ist unter anderem auch Mitglied im Ausschuss für Integration, Arbeit und Soziales sowie beratendes Mitglied im Ausschuss für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung.

Herr Seerig, die Schätzungen der Wohlfahrtsverbände gehen weit auseinander. Demnach soll es in der Hauptstadt rund 36.000 wohnungslose Menschen geben, davon leben schätzungsweise 4.000 bis 10.0000 Menschen obdachlos auf der Straße. Steht das Problem ganz oben auf der Agenda des Berliner Senats?

Das Thema ist für die Sozialsenatorin schon von Bedeutung und sie bemüht sich um Lösungen. Die Unterstützung aus anderen Verwaltungen und insbesondere aus den Bezirken könnte jedoch besser sein. Hier findet eher ein Abschieben der Probleme statt, als dass koordiniert gearbeitet wird und Frau Breitenbach und Herr von Dassel wollen zudem in ziemlich konträre Richtungen.

Dem Senat fehlt aber vor allem jede Konzeption, um die Probleme nicht nur zu verwalten, sondern zu lösen. Der direkteste Weg gegen Wohnungsnot ist bauen, bauen, bauen. Die Lompscher-Verwaltung setzt aber stattdessen auf Bürgerbeteiligung, Millieuschutz und Investorenfeindlichkeit.

Der Winter naht und regelmäßig in den kalten Jahreszeiten platzen die Unterkünste für Obdachlose in Berlin aus allen Nähten. Alle Hilfeleistungen inklusive der Kältebusse reichen hinten und vorne nicht, um den Bedarf auch nur annähernd zu decken. Gibt es Pläne im Senat, wie sich dieser Kreislauf nachhaltig durchbrechen lässt?

Die Strategiekonferenz des Senats im Oktober kommt viel zu spät, um für den kommenden Winter innovative Lösungen zu ermöglichen. Falls es also tatsächlich konkrete Resultate geben sollte, könnte dies erst ab 2019/2020 helfen.

Der kommende Winter wird daher wieder von Notlösungen, wie Kältehilfe, Kältebus und vermutlich auch Kältetoten geprägt sein. Denn die Probleme (und die Zahl wohnungs- bzw. obdachloser Menschen) wachsen leider schneller als der Senat Lösungen erarbeitet.

Die BVG befasst sich laut unserer Nachfrage ganz intensiv mit der Frage, Berliner U-Bahnhöfe künftig nicht mehr für kälteschutzsuchende Obdachlose zur Verfügung zu stellen. Was halten Sie von dieser Überlegung?

Ich verstehe, dass die BVG darauf hinweist, dass die Lösung sozialer Probleme in Berlin nicht ihre Aufgabe sei. Andererseits ist die BVG Empfänger umfangreicher Zuwendungen der öffentlichen Hand, was sie meiner Meinung nach zu einem besonderen gesellschaftlichen Engagement verpflichtet. Ich kann nicht verstehen, wenn Banken in ihren Kassenautomaten-Vorräumen Obdachlose übernachten lassen, die BVG aber ihre Bahnhöfe und Vorhallen verschließt.

Ich hoffe daher, dass es hier noch zu einer Einigung zwischen Senat und BVG kommt. Wobei man diese Diskussion nutzen könnte, um auch die Deutsche Bahn, sprich die S-Bahn, an ihre gesellschaftliche Verpflichtung als Notfallort für extreme Kälteperioden zu erinnern, denn es ist unverständlich, warum bisher nur die BVG hier offene Türen hatte.

Die Pressestelle der BVG sprach anlässlich unserer Nachfrage von schweren Sicherheitsbedenken, sollte die derzeitige Praxis der Öffnung für Obdachlose in dieser Form beibehalten werden. Teile Sie diese Ansicht?

Ich kann diese Vorbehalte nicht wirklich verstehen. Denn Stromleitungen und Drogenkonsum der Obdachlosen gab es schon immer und trotzdem wurden die Bahnhöfe bisher geöffnet. Bisher wohl ohne große Probleme in Sachen Sicherheit. Warum nimmt die BVG nun bei quasi unveränderter Situation einen Meinungswechsel vor? Die BVG sollte bedenken, dass eine coole Werbekampagne Engagement beim Vermeiden von Kältetoten nicht ersetzen kann.

Laut BVG sei die Zahl der Schutzsuchenden enorm gestiegen, hinzu kämen massive Alkohol- und Drogenprobleme sowie Sprachbarrieren zwischen dem BVG Personal und den Obdachlosen. Gewichtige Argumente also, doch reichen sie aus, um den Schutz von Menschenleben aufzuheben?

Ich frage mich, ob die Veränderungen zu den Vorjahren wirklich so gravierend sind, dass die BVG keine Alternative hat, als die Solidarität aufzukündigen. Die Zunahme von Bürgern aus Osteuropa ist seit vielen Jahren ein Problem und wahrlich kein neues Phänomen. Im Gegenteil: Es gibt erstmals sogar Engagement aus Polen sich seiner Landsleute in Berlin durch eigene Sozialarbeiter anzunehmen.

Zudem: Mit Sprachbarrieren hat es die BVG in einer internationalen Metropole wie Berlin sowieso Tag und Nacht zu tun. Ebenso mit Alkoholgenuss. Daher vermag mich die Argumentation der BVG nicht zu überzeugen. Ich denke, dass die Gespräche von Sozialsenat und BVG zu einer Lösung führen werden, mit der die BVG weiterhin Solidarität üben kann.

BVG-Bedienstete seien zudem keine Sozialarbeiter, heißt es weiter. Könnte der Senat ggf. im Rahmen einer Erste-Hilfemaßnahme diesbezüglich geschultes Personal zur Verfügung stellen, bis eine andere, tragfähige Lösung gefunden wird?

Es ist richtig, dass BVG Mitarbeiter meistens keine Sozialarbeiter sind, da ihre Aufgabe eine andere ist. Es wird aber bei der Nothilfe für Obdachlose in extremen Kältenächten auch keine Therapie oder Lebensassistenz erwartet, sondern nur die Gewährleistung eines warmen Freiraums.

Zudem gehört eine grundsätzliche Sensibilität bei ihnen auch zum Job, denn Touristen und Fahrgäste mit getrübtem Bewusstsein gehören zu allen Tageszeiten zu den Anforderungen des Jobs – bei Tag und insbesondere in den Nachtstunden.

Obdachlose zählen zu den vermeintlichen Schlusslichtern der Gesellschaft. Die Fähigkeit zur Empathie, also sich in diese Menschen einfühlen zu können, nimmt erkennbar deutlich weiter ab. Wie lässt sich eine solche, gesellschaftliche Entwicklung stoppen?

Diese Frage lässt sich nur schwer in kurzen Worten beantworten. Außerdem ist hier die gesamte Gesellschaft gefordert und nicht nur die Politik. Es geht um die Vermittlung grundlegender gesellschaftlicher Normen im Elternhaus. Ich spreche bewusst vom Elternhaus, denn die Schule muss viel zu oft die Erziehungsmängel ausgleichen bzw. es zumindest versuchen. Es ist in erster Linie die Aufgabe der Eltern ihren Kindern Werte und Normen zu vermitteln. Der Verzicht auf Erziehung und auf das Setzen von Grenzen ist keine gute Pädagogik.

Wir haben es mit einer formal immer größeren Sensibilität für Diversity zu tun und gleichzeitig mit einer immer schlimmeren Brutalität. Offensichtlich verhindert der Sprachkonsens von „Dunkelhäutigen Menschen“ oder „Starkpigmentierten“ statt von N*gern zu sprechen keine rassistischen Übergriffe. Im Gegenteil?

Die öffentliche Forderung nach Solidarität und die gesellschaftliche Realität eines extremen Individualismus fallen immer öfter auseinander. Offensichtlich bricht der gesellschaftliche Konsens zum Gleichklang von Rechten und Pflichten immer stärker auseinander. Wer Rechte in Anspruch nimmt, „erwirbt“ damit auch Pflichten gegenüber der Gemeinschaft; z. B. Respekt, Unterstützung oder Toleranz.

Neben dem Mangel an Empathiefähigkeit ist auch eine aggressive und ausgrenzende Grundstimmung gegenüber vermeintlichen Randgruppen wie etwa Obdachlosen spürbar. Schlimmer noch: Hass und Aggressionen bahnen sich den Weg. Ich erinnere an den noch relativ aktuellen Fall in Oberschöneweide, als Obdachlose mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Auch hier sollte es doch unbedingt Stop-Linien geben. Wie könnten sie aussehen?

Ich denke, dass Stop-Linien im Rahmen der Erziehung ebenso erlernt werden müssen wie der generelle Umgang mit Aggression. Frühere Generationen waren bestimmt nicht weniger aggressiv, aber es gab gesellschaftlich akzeptierte Grenzen, die im Alltag nicht überschritten wurden: Wenn bei einer Keilerei einer auf dem Boden lag, war der Kampf entschieden und beendet, ohne dass man noch das Opfer trat oder ihm sogar auf Kopf / Leib sprang.

Dieser Prozess betrifft quasi alle Kreise der Gesellschaft, wie der genannte Fall zeigt. Dort war es keine Gewalt gegen Minderheiten oder Schwächere (die es viel zu oft gibt), sondern wohl Streit innerhalb des Milieus.

Statt Hass und Ausgrenzung: Was kann aus Ihrer Sicht – realistisch betrachtet – der ganz „normale“ Bürger dazu beitragen, menschliche Tragödien wie den Kältetod von Obdachlosen zu verhindern?

Ich denke, hier geht es um eine Vielzahl von eigentlich kleinen Dingen, die in der Summe zu einer Verbesserung führen können: Direkt mal Lebensmittel oder Geld an Obdachlose geben, Sachspenden für soziale Träger, nicht Wegsehen bei Gewalt. Aber auch die offensive Unterstützung für die Reintegration in einen Beruf oder in eine Wohnung anstatt latent abzulehnen, mit dem „Penner“ zusammenzuarbeiten oder zusammenzuleben.

Ich denke, dass der Umgang mit Obdachlosen, Behinderten oder Flüchtlingen nur ein Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Problems ist. Ein Desinteresse am Mitmenschen und an der eigenen Verantwortung nach dem Motto: Ich zahle schließlich genug Steuer, da soll sich mal der Staat drum kümmern. Die berechtigte Klage über die Abgabenlast befreit aber nicht von der eigenen Verantwortung, selbst aktiv zu werden.

Verweise:

 
 

Wohnraumnot: „Berlin kann nicht einzig ein riesiges Finanzprodukt sein!“

$
0
0
Enteignen

Am 6. April 2019 startet ein Volksbegehren zur Enteignung privater Wohnungsunternehmen.

(Foto: https://www.dwenteignen.de)

Enteignung ist ein scharfes Schwert, das in Ausnahmefällen auch hierzulande zur Anwendung kommen kann. Doch ist das in diesem Fall überhaupt zulässig, worum geht es tatsächlich, gibt es Alternativen und was ist geschehen, dass es überhaupt zu solchen Aktivitäten kommt? Nachgefragt: Im Gespräch mit Sebastian Roos, Gründungsmitglied der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“. Roos ist 41 Jahre alt und von Beruf Arzt. Als Mieter der Deutsche Wohnen ist er selbst von Modernisierung betroffen.

Herr Roos, im April soll das von Ihrem Verein initiierte Volksbegehren starten. Bleibt es bei diesem Termin? Immerhin rüsten die Wohnungsunternehmen zum Gegenangriff und haben ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Es soll die Zulässigkeit eines solchen Volksbegehrens überprüfen.

Foto: Sebastian Roos

Ja, der Termin steht. Beginn ist der 6. April, der Tag, an dem auch die große Mietendemo stattfinden wird. In der Amtssprache heißt das „Antrag auf Einleitung des Volksbegehrens“; hierzu sind 20.000 Unterstützerunterschriften nötig. Ich denke, dass die Mietendemo da ein guter Startpunkt sein kann. Von dem Gutachten, das Frau Kern in Auftrag geben will, habe ich gelesen.

Anders als oft in den Medien dargestellt ist die Vergesellschaftung nach Art 15 GG etwas völlig anderes als eine Enteignung nach Art 14 GG. Während Art 14 regelhaft zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben angewandt wird, z.B. im Straßenbau, ist der Art 15 GG eine eigenständige Rechtsnorm. Hier ist die Vergesellschaftung der Zweck an sich. Der Sinn und Zweck lässt sich besonders gut verstehen, wenn man sich mit dem historischen Kontext beschäftigt, in dem das Gesetz entstanden ist. Wir denken, dass eine Vergesellschaftung möglich ist, wenn man sie politisch will.

Was hat das Fass derart zum Überlaufen gebracht, dass aus der Sicht der Mitglieder Ihres Vereins ein Volksbegehren erforderlich wird?

Die Wohnungspolitik der letzten Jahrzehnte ist eine lange Misere. Dabei hätten auch hier der Blick in die Geschichtsbücher helfen können. Ein Freund hat neulich seine Wohnung renoviert und Spuren eines Vorhangs gefunden, der einst sein Wohnzimmer in der Mitte teilte und dort hing, als wohl noch zwei Parteien diesen Raum bewohnten. Natürlich ist die Vergesellschaftung nicht aller Probleme Lösung und natürlich sind auch wir für den Neubau. Ganz entscheidend ist jedoch, wer baut und was er baut: wenn erst ein spekulativer Marktpreis entstanden ist, wird dort am Ende keine leistbare Wohnung stehen.

Stark renditeorientierte Unternehmen wie Deutsche Wohnen nehmen eine besonders schlimme Rolle ein. Deren Bestand sind fast ausschließlich ehemalige städtische Wohnungen mit günstigen Mieten, die aggressiv gesteigert werden sollen. Der Geschäftsbericht spricht dann von einem „Portfolio mit gutem Wertschöpfungspotenzial“. Ganz abgesehen von der unterlassenen Instandhaltung, mit der sich die Mieter herumschlagen müssen, wenn beispielsweise die Heizung wochenlang nicht geht.

Das heißt dann ganz konkret?

Die Deutsche Wohnen hat angekündigt 30.000 Wohnungen zu modernisieren. So schnell, wie der bezahlbare Wohnraum schwindet, kann kein Mensch neu bauen. Diese Unternehmen haben gar kein Interesse an einer guten Wohnraumversorgung, sind sie doch selbst die größten Profiteure der Knappheit. Renditedruck und Spekulation auf der einen Seite und Grundbedürfnis Wohnen auf der anderen – das passt einfach nicht zusammen. Der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup, der sich eingehend mit der Deutschen Wohnen beschäftigt hat, nannte das Unternehmen „zum Wachstum verdammt“. Das bringt es auf den Punkt. Diese Unternehmen sind nicht reformierbar und als Marktteilnehmer auf dem Wohnungsmarkt völlig ungeeignet. Sie gehören abgeschafft.

Die Politik hat mit den zurückliegenden Privatisierungsmaßnahmen und den damit einhergehenden Verkäufen von Wohnraum maßgeblich zu dem Desaster beigetragen. Wird dies ausreichend aufgearbeitet und kritisiert – auch, um künftig solche Fehlentscheidungen zu vermeiden?

Der Umgang seitens der Politik mit den Investoren finde ich geradezu naiv. Wer das Geschäftsmodell verstanden hat, kann die Probleme vorhersehen. Es gab ja auch warnende Stimmen – die waren aber in der Minderheit. Wir haben uns lange Gedanken gemacht, wie wir dem Vergangenen Rechnung tragen können und dafür sorgen können, dass der vergesellschaftete Bestand nicht in der nächsten Krise veräußert wird. Deshalb sollen die Immobilien in einer Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR) verwaltet werden. Dem Senat räumen wir dort Mitbestimmungsrecht, aber keine alleinige Entscheidungsgewalt ein. Ich finde, das trifft den Kern des Gemeineigentums oder der Gemeinwirtschaft, die in Art 15 gefordert ist, sehr gut.

Welchen Zeitraum würde denn ein solches Prozedere der Vergesellschaftung in Anspruch nehmen? Kurzfristige Entspannung am Mietmarkt ist doch auch damit nicht zu erwarten.

Mit einer Vergesellschaftung nach Art 15GG betreten wir juristisches Neuland und schreiben Rechtsgeschichte. Die Gegenseite wird natürlich Rechtsmittel einlegen. Der Ausgang ist offen. Aber paradoxerweise hilft uns das: für Anleger bedeutet dies ein schlecht kalkulierbares Risiko. Neulich gab es einen Artikel im Handelsblatt der sich mit den Problemen beschäftigt, vor dem Anleger in Berlin stehen. Zuvorderst werden das Volksbegehren und der Mietendeckel der Arbeitsgruppe um Eva Högl genannt. Der Analystenkommentar schließt mit der Empfehlung, nach dem ersten Quartal auszusteigen. Und das ist ein Novum. Die Stakeholder Befragung vor wenigen Wochen reflektierte das schlechte Image der Deutschen Wohnen als zentrales Problem. Wir helfen, die Schandtaten der Deutschen Wohnen sichtbar zu machen.

Wären drastische Mietobergrenzen, eine Stärkung der Mieterrechte sowie klare rechtliche Regelungen für Entschädigungen der Mieter, die mit eklatanten Wohnraum-Mängeln alleingelassen werden, nicht eine effektivere Hilfe?

Der Wohnungsmarkt ist ja insgesamt eine komplexe Angelegenheit mit vielen Stellschrauben. Das, was Sie nennen, wären alles sinnvolle Maßnahmen. Nur wer soll das denn bitte durchsetzen, wenn nicht die Politik?

Haben Sie es versucht und falls ja, mit welchem Erfolg?

Ich habe mich schon mit einigen Politikerinnen und Politkern unterhalten. Und das einhellige Fazit? Dass man im Prinzip nichts machen könne! Die Modernisierungsumlage, letztes Jahr noch bei 11%, ist ein Bundesgesetz (BGB) und für die Berliner Politik nicht änderbar. Für eine Bundesratsinitiative gab es keine Mehrheit, denn in vielen Gegenden Deutschlands gibt es diese Probleme, wie wir sie in Berlin kennen, nicht. Die Mietpreisbremse? Viele Ausnahmen, keine Sanktionen für Vermieter und in der retrospektiven Beurteilung bei Weitem nicht ausreichend.

Ich war bei einer SPD Veranstaltung, wo wir zusammen mit dem Staatssekretär für Stadtentwicklung und Wohnen über die Einführung einer Berlin weiten, kostenlosen Mietrechtsberatung als momentan mögliche Gegenmaßnahme gesprochen haben. Natürlich ist so eine Mietrechtsberatung was Gutes, aber ehrlich gesagt, habe ich da schon gedacht: draußen brennt’s und die Feuerwehr kratzt sich am Kopf… Ich rechne Herrn Scheel hoch an, dass er überhaupt gekommen ist.

Seit klar ist, dass es ein Volksbegehren geben wird und die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner für uns ist, hat sich der Diskurs ganz deutlich verschoben. Und das war mehr als überfällig. Katrin Schmidberger bezeichnete das Volksbegehren jüngst als „Notwehr der Mieter“. Eine ziemlich treffende Bezeichnung, wie ich finde.

Für Menschen, die aktuell keinen Wohnraum finden, bieten Aktionen, die viele Jahre dauern, keine Hilfestellung aus Notsituationen. Auch das Volksbegehren kann da keine schnelle Hilfe bieten…?

Man darf die Bestandsmieter nicht gegen die Menschen ausspielen, die eine Wohnung suchen. Und obwohl das Volksbegehren in erster Linie dem Bestandsschutz dient, profitieren doch beide Gruppen davon: Erstens dadurch, dass geplante Luxussanierungen verhindert werden, die das ohnehin schon knappe Angebot an bezahlbaren Wohnungen noch verkleinern. Günstiger Wohnraum bleibt somit erhalten. Zweitens: Wenn der Staat deutlich macht, dass er regulierend in den Markt eingreift, wird das die Goldgräberstimmung dämpfen.

Und generiert nachhaltig positive Effekte?

Ja, denn damit sinken auch die Grundstückspreise. Grundstücke, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Erwartung stetig steigender Preise noch zurückgehalten werden, würden eher verkauft und könnten zu moderaten Preisen vom Land Berlin gekauft durch landeseigene Unternehmen bebaut werden. Wenn der Quadratmeter Bauland 3000€ kostet, steht der Investor unter extremem Verwertungsdruck. Dort wird am Ende keine Sozialwohnung stehen.

Beschäftigen Sie sich abseits des geplanten Volksbegehrens mit weiteren Überlegungen und Aktionen, wie sich die Wohnraumsituation in Berlin schnell und mittels ganz konkreter Maßnahmen entspannen lässt?

Wir sind natürlich offen für Neues. Der Mietendeckel klingt ebenfalls interessant, wird aber keinen gemeinnützigen Wohnungssektor schaffen, der dauerhaft dämpfend auf die Mietpreise wirkt. Das ist der große Nachteil. Ich finde aber das wir etwas sehr Konkretes machen: Ein Volksbegehren mit dem Ziel der Vergesellschaftung nach Art 15GG – dazu gibt es ein klar geregeltes Verfahren mit definierten Stufen. Es liegt am Ende beim Senat ein entsprechendes Gesetz zu machen. Da wird der Senat Farbe bekennen müssen.

Wer sich die Eckdaten der Wohnungsnot ansieht, der muss doch schockiert sein: In einer Millionenstadt, in der 85% der Menschen Mieterinnen und Mieter sind, hat die Hälfte Angst sich die eigene Wohnung aufgrund von Mietsteigerungen innerhalb der nächsten 2 Jahre nicht mehr leisten zu können. Fast 80% haben Angst in Armut zu geraten. Ich habe das Gefühl, dass das gesamte Leben in der Stadt abgewürgt wird. Egal ob Kleingewerbe, Jugendklubs oder Kleingärtner – alle haben Angst. Eine Stadt, die so vielfältige Bedürfnisse erfüllen soll, kann nicht einzig ein riesiges Finanzprodukt sein!

Gibt es Parteien, die Ihr Vorhaben zum Volksbegehren der Enteignung großer Wohnungsgesellschaften begrüßen und unterstützen und falls ja, welche?

Grundsätzlich sind wir ein überparteiliches Bündnis von ganz verschiedenen Leuten und mittlerweile gibt es eine sehr große Anzahl von Organisationen und Verbänden sowie auch Einzelpersonen, die uns unterstützen und konkret mithelfen wollen. Prominentestes Beispiel ist wohl die Linkspartei. Viele Gruppen, von denen wir teilweise noch nie zuvor gehört haben, schreiben uns an und bieten ihre Hilfe beim Unterschriften sammeln an. Das finde ich einerseits toll, ist aber letztendlich auch Indikator für Ausmaß und Größe des gesamten Problems.

Verweise:
Weitere Interviews zu Gesellschaftsthemen
 
 
 

Viewing all 89 articles
Browse latest View live


Latest Images