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Führt das Vollgeldsystem zu einer besseren Geldordnung?

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Andauernde Finanzkrisen, taumelnde Eurostaaten, stringente Spardiktate, die in vielen Volkswirtschaften zu extremen sozialen Härten führen und immer wieder Turbulenzen rund um den Euro erfordern ein Umdenken hinsichtlich unseres derzeitigen Geldsystems. Immer häufiger im Gespräch ist ein Vollgeldsystem. Wie funktioniert es und kann es dazu beitragen, die derzeitigen Probleme zu lösen? Was bedeutet ein solches System für Banken und Gesellschaft und ist es für alle europäischen Länder tauglich? Prof. Dr. Franz Hörmann stellt sich unseren Fragen. Der Experte, der an der Wirtschaftsuniversität in Wien (WU) lehrt, befasst sich bereits seit geraumer Zeit mit dem Thema Geldsystem.

Herr Prof. Hörmann, unter anderem denkt Island aktuell ernsthaft über ein sogenanntes Vollgeldsystem nach und auch in der Schweiz hat sich hierzu eine Bürgerinitiative gebildet. Wie funktioniert dieses System?

Foto: Franz Hörmann

Foto: Franz Hörmann

In einem Vollgeldsystem wird Geld nicht als Schuldschein einer Geschäftsbank erzeugt („geschöpft“), sondern von einer zentralen Institution (z.B. der Nationalbank) nach gemeinschaftlich bestimmten (Bewertungs-)Regeln. Währungseinheiten „in Vollgeld“ werden daher „als Eigenkapital“ erschaffen, nicht als Schuld (Fremdkapital einer Geschäftsbank).

Heute ist jede Zahlung einer Bank (sowohl bei der Kreditvergabe als auch wenn eine Bank etwas kauft, mietet oder Mitarbeiter bezahlt) in Wahrheit nur ihr ungedeckter Schuldschein, denn sie bucht den Betrag am Girokonto des Zahlungsempfängers und alle Girokonten stehen als Verbindlichkeit auf der Passivseite ihrer Bilanz (sog. Sichteinlagen), daher auch die Bezeichnung „Schuldgeld“ für das heute verwendete Giral- oder Buchgeld, das ca. 95% der gesamten Geldmenge ausmacht.

Bankkunden, die heute ihr Bargeld zur Bank tragen, verlieren damit ihr Eigentum an diesem Geld, übrig bleibt nur eine Forderung gegenüber der Bank, denn die Bank wird zum rechtlichen Eigentümer der Kundengelder. In Zeiten, in denen Staatshaftungen für Sparbücher etc. gerade abgeschafft werden und zugleich Banken immer heftiger in Schieflage geraten, ist daher ein Vollgeldsystem, bei dem die Bank nur mehr die Funktion eines Treuhänders übernimmt und das Eigentum am Geld für den Bankkunden erhalten bleibt, ein notwendiger Schutz für alle Nicht-Banken.

Welche Effekte würden denn aus einem Vollgeldsystem für Banken, aber auch für die Bürger resultieren?

Geschäftsbanken können im Vollgeldsystem durch die Kreditvergabe nicht mehr neues Geld erzeugen („schöpfen“), womit die dadurch immer wieder künstlich erzeugten Preisblasen auf verschiedenen Märkten (zuletzt v.a. bei Immobilien) vermieden werden. Die Geldschöpfung erfolgt zentral (durch die Nationalbank) aufgrund gemeinschaftlich bestimmter, demokratisch legitimierter Regeln. Sowohl die Geldschöpfung als auch die Geldvernichtung sind dann transparent und für alle Menschen gleich verständlich. Heute wird das (Schuld-)Geld bei der Kreditvergabe neu erzeugt und bei der Kreditrückzahlung wieder vernichtet. Dies erzeugt in Phasen des Wirtschaftsaufschwungs unvermeidbare „Übertreibungen“ (Preisblasen), die nach dem Platzen zu einem Wirtschaftsabschwung führen, der durch geringere Kreditvergaben im Abschwung zusammen mit der Geldvernichtung bei Kreditrückzahlungen (Banken stellen ja in der „Krise“ vermehrt ihre Kredite fällig!) automatisch in Finanzkrisen endet.

Diese heute sogenannten Konjunkturzyklen wären in einem Vollgeldsystem weitestgehend vermeidbar. Außerdem wird Missbrauch bei der Kreditvergabe vermieden (sog. Überfinanzierungen), da die Banken dann tatsächlich nur Geld verleihen können, das bereits vorhanden ist. Dies wird auch heute von einigen Bankern behauptet, ist aber nachweislich falsch. Schließlich können in diesem System aber auch die Kreditnehmer (d.h. Privatleute, Unternehmer aber auch ganze Staaten) nicht mehr in Form einer „Schuldenbetreibung bzw. –krise“ erpresst werden, daher sichert es nicht nur den individuellen Lebensstandard sondern auch den Fortbestand der Demokratie.

Das Vollgeldsystem könnte unter dem Strich dann auch bewirken, dass Steuerzahler künftig nicht mehr für die immensen Schieflagen der Banken in Haftung genommen werden?

Der Schutz der Steuerzahler vor sog. Bankenrettungen (also dem Zugriff auf Steuergelder im Interesse der Bankeigentümer) ist auch ohne Vollgeldsystem sofort möglich, wenn man z.B. eine gesetzliche Bestimmung einführen würde, dass Banken bei ausfallenden Krediten nicht nur ihre Forderungen (als Aufwand) sondern zugleich auch die Sichteinlagen (da es für sie Verbindlichkeiten sind daher als Ertrag) in gleicher Höhe auflösen könnten bzw. müssten. Zugleich wird dann in der Bilanz eine „Rücklage zur Umlaufsicherung“ gebildet, sodass dieser Ertrag nicht als Teil eines Gewinnes ausgeschüttet werden kann, sondern an das Unternehmen (hier an den Bankengeldkreislauf) gebunden bleibt. Dann kreist das Giralgeld weiter auf den Bankkonten, ist aber aus Sicht der Bank nicht mehr Fremd- sondern Eigenkapital.

Diese Technik nennt man „Debt-/Equity-Swap“, also die Umwandlung einer Schuld in Eigenkapital, z.B. in eine Unternehmensbeteiligung des Gläubigers, und sie ist Routine im Rahmen von Unternehmenssanierungen. Dieses neue Eigenkapital wäre dann aber eine staatliche Beteiligung an der Bank, d.h. nicht nur wäre die „Rettung“ der Bank kostenlos (per Buchungssatz anstatt durch Steuergeld), der Staat würde sich zugleich (ebenfalls gratis!) an der Bank beteiligen und könnte so politischen Einfluss auf die Bank gewinnen, bis hin zu dem Punkt, dass Banken irgendwann Geld für das bedingungslose Grundeinkommen schöpfen könnten!

Alle Steuergelder, die zur „Bankenrettung“ verwendet wurden, waren daher nicht sinnvoll eingesetzt, denn Schulden, die als Buchungssatz entstehen, können natürlich jederzeit auch als Buchungssatz wieder getilgt werden. Im Vollgeldsystem ist ein solcher Missbrauch der Kreditgeldschöpfung aber schon im Vorfeld unmöglich.

Banken werden als systemrelevant eingestuft. Würde sich dies mit der Einführung eines Vollgeldsystems ändern?

Banken sind schon heute nicht „systemrelevant“, denn die Menschen benötigen nur ein persönliches Konto, das ja z.B. auch die Sozialversicherungen oder die Telefongesellschaften führen können. Würde ein bedingungsloses Grundeinkommen (als soziale Maßnahme) eingeführt, das die Sozialversicherung auf ihren Konten auch gleich verwalten würde, dann wäre der Geldbedarf der Realwirtschaft und der Privathaushalte gesichert, die Geldschöpfung fiele in die Zuständigkeit des Sozialministeriums und das Finanzministerium könnte mangels Zuständigkeiten geschlossen werden.

Banken können aber auch in einer freieren Gesellschaft noch sehr sinnvolle Aufgaben erfüllen, z.B. indem sie die realwirtschaftlichen Produktionsprozesse in kooperativer Form (anstatt als Preiskonkurrenz) vermittels online-Prozessmanagement verwalten und dabei die Kooperationspartner beim gemeinsamen Lernen unterstützen. Solche Ideen sind auf der Website http://www.zukunftsbanken.eu veröffentlicht – jene Banken, die als erste diesen Schritt wagen, werden die Trendsetter im 3. Jahrtausend sein.

Was halten Sie von einem Vollgeldsystem und wäre dies eine Lösung für alle Länder, die dem Euro angeschlossen sind?

Das Vollgeldsystem ist ein wichtiger erster Schritt hin zu einer demokratischen Geldordnung, denn Demokratie beginnt mit einem demokratischen Geldsystem! Freilich bildet das Vollgeldsystem „Geld“ immer noch als Tauschmittel ab, wenngleich eine aufgeschriebene Zahl nur den Wert von etwas anderem darstellen kann und selbst keinen (Tausch)Wert haben kann. Ehrlicher und fortschrittlicher ist aus meiner Perspektive daher das Informationsgeld („InfoMoney“), das ich auf der Website http://www.informationsgeld.info beschrieben habe und dem ich ein sehr positives Entwicklungspotential für eine freiere, friedlichere Gesellschaft zutraue.

Auch das InfoMoney ist eine Vollgeldvariante, nur, dass hier Geld keinen Eigenwert mehr besitzt: wer leistet, erhält frisches Geld geschöpft (Buchung „Kassa an Ertrag“), wer konsumiert, dem wird Geld vernichtet (Buchung „Aufwand an Kassa“). Da Geld in diesem System als Tauschmittel nicht mehr existiert, gibt es auch keine Umverteilung mehr, die Gesellschaft wird vom Nullsummenspiel in ein Plussummenspiel (in dem wir alle ZUGLEICH unseren Wohlstand erhöhen können) transformiert. In dieser Variante liegt daher das höchste positive Veränderungspotential, sie ist aber, zumindest zu Beginn, noch schwerer geistig nachvollziehbar als ein rein elektronisches „Tauschmittel“ (Vollgeld, das nicht als InfoMoney ausgestaltet ist).

Wie hoch schätzen sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass sich das Vollgeldsystem in Europa etabliert?

Ich bin völlig überzeugt davon, dass sich in den nächsten 2-3 Jahren in irgendeiner europäischen Region eine Vollgeldvariante etablieren wird, deren Vorteile aus Sicht der Nicht-Banken so überzeugend nachgewiesen werden können, dass sich dieses Modell danach mit großer Geschwindigkeit nicht nur in Europa sondern sogar global etablieren wird. Einen ersten „Vorgeschmack“ hat ja schon der Siegeszug der BitCoins geboten, wenngleich genau daran (elektronisches Geld in Form eines mit einem Eigenwert versehenen Tauschmittels) auch wieder das nach wie vor vorhandene Missbrauchspotential (Spekulationsexzesse, Betrug mit BitCoin-Börsen etc.) deutlich erkennbar wurde. Informationsgeld (http://www.informationsgeld.info) ist speziell dafür entwickelt worden, solchen Missbrauch in Zukunft nachhaltig zu verhindern und zwar nicht durch ausgeklügelte Verschlüsselungstechnik sondern einfach durch das zugrundeliegende Design, in welchem Gesetze, Verträge, Prozesse und Zahlungsmittel Teile ein- und derselben Datenstruktur sind, diese Komponenten sich daher in Echtzeit laufend selbst überwachen können.

In jedem Fall wird aber die demokratische Veränderung des Geldsystems zugleich zu einem Erwachen der menschlichen Gesellschaft führen, weil Selbstverantwortung und Selbstorganisation schrittweise an die Stelle von Delegation und Fremdbestimmung treten werden.

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„Die Jobcenter übernehmen die Aufgabe eines paternalistischen Staates“

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Inge Hannemmann kämpft seit Jahren gegen Hartz IV in seiner jetzigen Form. (Foto: Peter Wendt)

Inge Hannemmann kämpft seit Jahren gegen Hartz IV in seiner jetzigen Form. (Foto: Peter Wendt)

Sanktionierungen mündiger, erwachsener Menschen seien hier ebenso an der Tagesordnung, wie Verordnungen von Maßnahmen, die streckenweise völlig absurd anmuten. Nur selten mündeten die Bemühungen auch tatsächlich in einem ordentlichen Arbeitsverhältnis, von dem ein Mensch auch leben kann. Kritik am System machte Hannemann bekannt, führte aber auch zu beruflichen Konsequenzen. Wir haben nachgefragt.

Frau Hannemann, wie konnte sich Hartz IV, das ja durchaus ein System der massiven Fremdbestimmung darstellt, in Deutschland etablieren? Gab es zu wenig Gegenwind?

Bereits zu Beginn der Reformpolitik „Agenda 2010“ gab es im Herbst 2003 eine Massendemonstration gegen die Agenda 2010, Hartz III und IV in Berlin, an der sich rund 100.000 Menschen beteiligten. Dies setzte sich 2004 fort. Gleichzeitig formierten sich Erwerbsloseninitiativen, die Montagsdemonstration „Weg mit Hartz IV“ sowie einzelne Gewerkschaften. Leider zogen sich gerade die Gewerkschaften bereits 2004 wieder zurück, da sie keinen Sinn in einem Dauerprotest sahen. Wohlfahrtsverbände kritisieren zwar die Gesetzgebung bis heute, partizipieren jedoch auch von der Einführung der sog. „Ein-Euro-Jobs“, so dass nicht wirklich eine widerstandsfähige Organisation besteht. So gab es zwar zu Beginn reichlich Gegenwind, der sich jedoch bis dato auf eher einzelne Aktivisten und Erwerbsloseninitiativen beschränkt.

Welchen Formen des Widerstands gegen Hartz IV bestehen denn aktuell noch?

Konsequent stehen bis heute bundesweit die Montagsdemonstranten „Weg mit Hartz IV“ in den Groß- und Mittelstädten. Leider muss eingestanden werden, dass sich die Anti-Hartz-IV-Bewegung zersplittert hat. Das liegt u.a. auch daran, dass die Betroffenen mit sich selbst und ihrem Alltag beschäftigt sind. Das kostet Kraft und Nerven. Neben der begleitenden Armut durch die niedrigen Regelsätze, ist es ihnen auch kaum möglich, außerhalb ihrer Stadtgrenzen an Aktionen teilzunehmen. Positiv zu bewerten ist jedoch, dass sich durchaus ein stiller Widerstand in den Gerichtssälen zeigt, in dem die Betroffenen klagen und die Hälfte davon auch gewinnen.

Sie haben als sogenannte „Fallmanagerin“ viele Jahre Erfahrungen gesammelt. Können Sie uns einige krasse Beispiele erläutern, die unter anderem dazu führten, Kritikerin dieses Systems zu werden?

Wenn bewusst Anträge zurückgelegt und somit nicht bearbeitet werden, weil der Antragsteller intern als „Querulant“ gilt oder den Menschen das Nachholen eines Hauptschulabschlusses verwehrt wird, trotz Rechtsanspruch, ist das für mich Willkür. So wurde einer jungen Frau der Hauptschulabschluss von mehreren Sachbearbeitern verwehrt, weil man der Meinung war, diese Frau sei unzuverlässig und sie hätte in ihrer Vergangenheit ja die Hauptschule besuchen können. Weder fand eine wirklich Evaluierung ihrer (Kindheit)-Vergangenheit statt, noch ausführliche Gespräche über ihre Zukunft. Hätte man dieses vollzogen, so hätte das Nachholen des Schulabschlusses viele Jahre zuvor funktioniert. Heute hat diese junge Frau ihren Abschluss, absolviert eine Ausbildung und bezieht kein Hartz IV mehr. Verschenkte Zeit und vor allem jahrelanger Bezug von Arbeitslosengeld II auf Kosten der Steuerzahler.

Es heißt, gelegentlich gehen Anträge Betroffener auf unerklärliche Weise verloren. Ist da etwas dran und welche Konsequenzen resultieren daraus für Betroffene?

Leider habe ich auch immer wieder erlebt, dass Anträge, trotz Einschreiben, anscheinend nicht im Jobcenter angekommen sind. Das führte u.a. dazu, dass die Menschen einen erneuten Antrag oder Weiterbewilligungsbescheid ausfüllen mussten und in manchen Fällen das Recht auf Sozialleistungen erst ab diesem Datum galt. Diese Menschen verloren so Anspruchstage und somit Sozialleistungen. Ebenso empörend empfand ich teilweise die Gutachten des Ärztlichen Dienstes in denen volle Leistungsfähigkeit bescheinigt wurde, obwohl schwerwiegende Erkrankungen vorlagen.

Gerade in diesen Wochen ist mir ein Fall begegnet, wo der Arbeitsvermittler solch ein Gutachten eingeleitet hat, damit der Betroffene aus den Zwängen des Jobcenters herauskommt. Bekannt war eine schwerwiegende Krebsdiagnose. Der Konflikt im System besteht nun darin, dass ohne ärztliche Bescheinigung einer Leistungsunfähigkeit durch eine Behörde die volle Leistungsfähigkeit angenommen werden muss. Also, somit voll vermittelbar. Der Ärztliche Dienst bescheinigte die volle Leistungsfähigkeit unter der Bedingung, dass die Tätigkeit leicht auszuführen sei. Der Mann ist ein paar Tage später seinem Krebsleiden erlegen. So etwas schockiert mich – insbesondere unter dem Blick der absoluten fehlenden Menschlichkeit.

Wenn Sie nach rund zehn Jahren „Hartz IV“ auf dieses Programm schauen, haben sich die Bedingungen dann zum Positiven für Arbeitssuchende verändert?

In kurzen Worten lässt es sich so darstellen: Positiv verändert hat es sich für die Wirtschaftslobbyisten, den Unternehmen sowie die Außendarstellung Deutschland als starker Wirtschaftsstandort. Die Leidtragenden sind die Arbeitsuchenden durch den Zwang jede Tätigkeit anzunehmen. Das öffnete gerade dem Niedriglohnsektor alle Tore. Den Unternehmen ist bekannt, dass Arbeitsuchende, aber auch die „Noch-Beschäftigten“ unter Androhung von Sanktionen oder der Hinnahme und krampfhaftes Festhalten eines unmenschlichen Arbeitsplatzes auch bereit sind zu einem äußerst niedrigen Lohn zu arbeiten. Studien zeigen auf, dass die Zahl der Erwerbstätigen und die Zahl der Arbeitsstunden steigen. Allerdings wird des Öfteren vergessen, zu erwähnen, dass ein Teil der Arbeitsstunden auf jene Menschen verteilt sind, die bereits schon über ihre Kräfte arbeiten. Ebenso verhält es sich bei der Zahl der Erwerbstätigen, die oftmals atypisch beschäftigt sind.

Welche Folgen hat eine solch schieflagige Systematik für Menschen, die arbeitssuchend sind und in Hartz IV geraten?

Menschen in Hartz IV kommen kaum mehr aus der Mühle heraus. Sie sind mit dem ersten Tag stigmatisiert und gelten als „faul“. Ihnen werden die fehlenden Vollzeitstellen und damit die Möglichkeit den Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt als eigene Schuld auferlegt. Ein nicht absolutes „konform laufen“ mit den Ansichten des Jobcenters oder der Sachbearbeitung kann eine Leistungseinschränkung bis hin zur kompletten Leistungseinstellung zur Folge haben. Die Agenda 2010 hat dazu geführt, dass die Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, sich nicht mehr sicher fühlen können, diese auch zu erhalten. Eine ständige Unsicherheit und die dabei entstehenden Existenzängste begleiten diese. Von dem her kann ich nicht sagen, dass sich die Bedingungen der Arbeitsuchenden zum Positiven geändert haben, sondern vielmehr zu vielen menschlichen und rechtlichen Tragödien.

Beklagt werden häufig auch die tiefgreifenden Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte betroffener Menschen, die Arbeit suchen. Geht das nicht viel zu weit und deutlich über die eigentliche Arbeit einer Vermittlung hinaus?

Gerne sage ich: „Schuster, bleib bei deinem Leisten“. Die Jobcenter, aber auch die Arbeitsagenturen sollten dort bleiben, wo ihre eigentliche Aufgabe ist. Das ist die Vermittlung in Arbeit sowie die Berechnung und Auszahlungen der Ansprüche. Nun haben wir nicht mehr ausreichende Arbeitsplätze und es entwickelte sich das, was bereits seit 2005 der Fall ist. Die Jobcenter übernehmen die Aufgabe eines paternalistischen Staates. Damit einhergehend folgen selbstverständlich die Bevormundung aber auch die Befehle eine bestimmte Tätigkeit aufzunehmen, die Chance oder eben „Nicht-Chance“ auf Qualifizierung, die z.T. eingeschränkte Wohnungsfreiheit bis hin zum Zwang, auch eine nicht gewollte Ausbildung und den Fähigkeiten entsprechend bei den jungen Menschen aufzunehmen. Beratungen oder neue Wege suchen, sind nicht per se das Schlechteste. Allerdings muss dieses auf Freiwilligkeit und mit Respekt gegenüber den Arbeitsuchenden erfolgen.

Auffällig sind vor allem auch Wertureile, die offen geäußert und sogar dokumentiert werden. Wenn Menschen etwas als „schwer vermittelbar“, „ungebildet“ und „sozial schwach“ abgeurteilt werden, hat das nicht auch etwas mit offener Diskriminierung zu tun?

Die Aussage „sozial schwach“ wird, gerade von Politikern gern als Bezeichnung verwendet, um Menschen mit wenigen finanziellen Ressourcen zu beschreiben. Diese Verwendung ist diskriminierend und stigmatisierend, da er impliziert, dass ein Mensch mit wenig Geld auch soziale Probleme schürt. So z.B. Alkoholkonsum, Süchte oder mangelnde Sozialkompetenzen. Dass wenig Geld gleich wenig Mensch bedeutet, ist menschenverachtend. Nicht anders stellt es sich bei den Begriffen „schwer vermittelbar“ und „ungebildet“ dar. Hier wird dem Mensch Dummheit oder Inflexibilität unterstellt.

Sozial schwach sind in meinen Augen die Menschen, die diese Begriffe verwenden, da ich hier eine Realitätsverzerrung sehe. Solche Begriffe sind ein offen gelebter Sozialdarwinismus. Sozial heißt in meinen Augen u.a. Fürsorgepflicht, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit und Solidarität. Auf den Staat heruntergebrochen, ist ein Staat dann sozial schwach, wenn er nicht alles tut, um die Menschen aus der Armut herauszuholen, zu stoppen und den Hilfebedürftigen die Hilfe verwehrt, die er benötigt.

Sie mussten damals ihren Platz im Jobcenter räumen. Was war die Begründung und was machen Sie heute beruflich?

Die Begründung meiner Freistellung waren Zitate aus meinem Blog „altonabloggt“, wo ich u.a. schreibe, dass Ein-Euro-Jobs Ausbeuterjobs sind, dass Mitarbeiter in den Jobcentern nicht denken dürfen und man mich gleichzeitig schützen möchte, da ich der Meinung bin, dass das Sozialgesetzbuch II gegen das Grundgesetz verstößt. Das wollte man mir nicht länger zumuten. Auch hat man Angst, dass ich das SGB II intern nicht mehr konform umsetzen werde. Das Verfahren gegen die Freistellung geht am 5. Juni vor dem Arbeitsgericht Hamburg weiter. Hier geht es primär um die Frage, ob mein Blog und die genannten Aussagen eine Freistellung rechtfertigte. Derweil arbeite ich in Teilzeit in der Sozialbehörde im Integrationsamt. Dort bin ich für die Bearbeitung von Anträgen Menschen mit Behinderung oder durch Arbeitgeber z.B. auf behindertengerechte Ausstattung des Arbeitsplatzes zuständig. Es ist eine reine formale Aktentätigkeit und kaum mit menschlichen Kontakten verbunden.

Werden Sie auch künftig an der Hartz IV -Front weiterkämpfen?

Durch den Einzug als Abgeordnete für die Linkspartei in die Hamburger Bürgerschaft ist es mein Ziel, auf Landesebene auf die skandalöse Umsetzung der Agenda 2010 und deren Folgen aufmerksam zu machen. Dieses kann ich durch Anfragen oder Anträge und entsprechende Debatten in der Bürgerschaft umsetzen. Leider ist die Agenda 2010 ein bundespolitisches Gesetz, so dass eine einschneidende positive Änderung für die Betroffenen nur bundespolitisch erreicht werden kann. Auf Landesebene können jedoch durchaus Initiativen ausgehen. Weiterhin werde ich außerparlamentarisch weiter agieren. Ich denke, Aktivitäten müssen politisch aber eben auch außerparlamentarisch erfolgen. Und ein Amt in der Politik heißt für mich nicht, dass ich meinen Überzeugungen nicht mehr treu bleibe. Vielmehr muss es heißen, gerade in der Politik bleibe ich nah bei den Bürgerinnen und Bürgern. Allerdings bräuchte mein Tag mehr als 24 Stunden, um allem gerecht zu werden.

Was wünschen Sie sich in Hinblick auf die Hartz IV-Gesetzgebung für die Zukunft?

Für die Zukunft wünsche ich mir, dass statt Hartz IV eine ausgereifte und menschliche Alternative für Arbeitsuchende und arbeitslose Menschen erschaffen wird. Unsere Gesellschaft muss wieder mehr zur Solidarität zurückfinden. Ein derzeitiger Ausschluss aus der gesellschaftlichen Teilhabe der Betroffenen führt schlussendlich zur absoluten Entdemokratisierung, Entsolidarisierung und gefährdet somit den sozialen Frieden. Hier wünsche ich mir ein „Stopp“ und stattdessen z.B. ein Bedingungsloses Grundeinkommen. Auch halte ich es anders als unser Ex-Bundeskanzler Schmidt, der sagte: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Hier bin ich der Meinung: „Wer keine Visionen mehr hat, braucht nicht mehr zum Arzt, der ist schon tot.“ Viele Errungenschaften von heute waren gestern noch Visionen.

  • Am 24. April 2015 ist auch die Publikation „Die Hartz IV-Diktatur“ / Autorin Inge Hannemann erschienen (Rowohlt Verlag).

*Inge Hannemann (*1968 in Hamburg) studierte – nach Ausbildungen zur Speditionskauffrau und Netzwerkadministratorin – Fachjournalistik für Soziales und Arbeitsmarktpolitik sowie Public Relations. Sie arbeitete u.a. als Lehrbeauftragte in der Erwachsenenbildung als auch im Kinder- und Jugendbereich. Zuletzt war sie als Arbeitsvermittlerin für junge Menschen bis 25 Jahre im Jobcenter Hamburg-Altona tätig. 2012 veröffentlichte sie eine qualitative und quantitative Studie über dieNegative psychische Auswirkungen durch den Bezug von Hartz IV. Im April 2015 ist über den Rowohlt Verlag das Buch Die Hartz IV Diktatur erschienen. Sie hat mehrere Fachartikel über Arbeitsmarktpolitik und deren Folgen sowie Verwaltungsethik in Fachbüchern oder Publikationen veröffentlicht.

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„Die Logik der Waffen“– Interview mit Ulrich Tilgner

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Der TV-Journalist Ulrich Tilgner berichtet seit mehr als 30 Jahren aus den Ländern Jordanien, Iran, Irak und Afghanistan. Der Experte, der zunächst viele Jahre als Korrespondent für das ZDF arbeitete, publiziert heute unter anderem für das Schweizer Fernsehen (SRF). Bereits Ende 2012 erschien seine Publikation „Die Logik der Waffen“. Tilgner analysiert dort die Auswirkungen westlicher Politik in den Krisenherden im Nahen und Mittleren Osten. Seine Bilanz fällt düster aus. Wir haben nachgefragt.

Ulrich Tilgner, der Titel Ihrer Publikation „Die Logik der Waffen“ weist in Hinblick auf den Umgang der westlichen Welt mit dem Krisenproblematiken im Orient bereits auf das Kernproblem hin. Welches Resümee ziehen Sie nach elf Jahren Krieg gegen den Terror?

TV-Journalist Ulrich Tilgner

TV-Journalist Ulrich Tilgner (Foto: Elisabeth Stimming)

Dieser Krieg ist gescheitert. Dies hat verschiedenste Ursachen. Militärisch kann man Terror gar nicht begegnen. Entwicklungspolitisch gibt es ebenfalls nur sehr begrenzte Erfolge. Nach weiteren Rückschlägen in Libyen und Syrien wird der Krieg heute geheim und indirekt fortgesetzt.

Um die ungeheuerlichen Ausgaben für Kriege zu sparen, setzen die USA und andere Staaten im Westen auf Professionalisierung und Automatisierung. Zudem verschieben sich im Rahmen der Globalisierung und der anstehenden Veränderungen bei der Gewinnung von Rohstoffen für die Energieerzeugung weltweit die Interessengebiete und Konfliktzonen.

Barack Obama gilt seit langem als Schlüsselfigur für Friedensbemühungen in den Krisenherden des Nahen und Mittleren Osten und wird diesbezüglich sogar als „Friedenspräsident“ gehandelt. Ihre Hoffnungen sehen Sie allerdings enttäuscht?

Der US-Präsident ist kein Präsident des Friedens: Guantanamo, geheime Drohneneinsätze und Cyberkrieg oder auch die Massierung der US-Streitkräfte im pazifischen Raum sprechen eine andere Sprache. Obama modernisiert die US-Politik, aber seine Priorität bildet nicht Frieden, sondern eine andere Nutzung der Ressourcen der Vereinigten Staaten. Leider erfolgt diese Politik indirekt und wird von außen zu oft fehlinterpretiert. In den USA selbst wird die Kritik an dieser Politik immer lauter.

Worin liegen aus Ihrer Sicht die Ursachen für ein derartiges Versagen?

Versagen würde ich es nicht nennen, dieser Begriff wurde im Zusammenhang mit Obamas Amtsvorgänger zu Recht überstrapaziert. Der derzeitige Präsident hat ein Gefühl für das Machbare und dies leitet ihn. Dabei scheint er getrieben von der Idee, den zunehmenden Machtverlust der USA noch aufhalten zu können. Praktisch versucht er, die globale Dominanz der USA mit seiner Politik der „smart power“ aufrechtzuerhalten. Oft wird die Politik indirekt durchgesetzt, indem er andere Staaten für seine Zwecke einsetzt und benutzt.

Sie gehen noch weiter und erläutern, dass unter Obamas Regierung verdeckte Kriege im Vergleich zur Bush-Regierung noch ausgeweitet wurden. Welche Gründe stehen dahinter und zu welchen Konsequenzen kommt es dadurch?

Verdeckte Kriege führen die USA in Pakistan, Jemen und einigen Ländern Afrikas. Die Lehren aus den militärischen Einsätzen in Afghanistans und Irak ist ja, dass derartige Kriege nicht zu bezahlen sind. Nach einer Studie an der Harvard-Universität, die jetzt im März veröffentlicht wurde, belaufen sich die direkten, indirekten und die Folgekosten für diese Kriege auf sechs Trillionen US Dollar (eine US-Trillion ist eine deutsche Billion, also 1000 Milliarden), das sind knapp 5.000 Milliarden Euro. Obama weiß, dass weitere Kriege die USA nicht stärken sondern nur schwächen können und das Land damit um die Fähigkeit bringen würden, machtpolitisch und militärisch mit China zu konkurrieren.

Sie sprechen auch davon, dass die USA „Schattenkriege“ in Drittstaaten führt. Was meine Sie damit und mit welchen (auch unlauteren?) Mitteln wird gekämpft?

Die USA führen einen Schattenkrieg gegen den Iran. Neben der permanenten Verletzung des Luftraumes wird seit 2008 ein Cyberkrieg geführt, indem Teile der iranischen Industrie durch Computerviren lahmgelegt werden. Zudem gehören gezielte Attentate auf Personen, die Unterstützung von nationalen Minoritäten und die Unterwanderung der innenpolitischen Opposition zur Politik der Ausübung von „smart power“, deren Ziel es ist, die islamische Herrschaft im Iran zu stürzen.

Nicht nur Obama setzt weiterhin auf die Macht (bzw. Logik) der Waffen, sondern praktisch der gesamte Westen? Immerhin bleiben Abrüstungskonferenzen bislang ohne nennenswerte Resultate.

Die meisten Politiker in den Staaten des Westens agieren im Kielwasser der US-Politik. Genau dies versucht Obama zu ändern, in dem die Staaten Europas international größere Verantwortung übernehmen sollen. Im Krieg in Libyen wurde dies deutlich. Den schoben die USA an und die England und Frankreich durften und mussten ihn zu Ende führen. Auch bei den Verhandlungen mit Iran über die Nutzung der Atomtechnologie entscheiden die USA. Diese Verhandlungen werden geführt, um den anderen Staaten des Westens im Falle ihres völligen Scheiterns ein militärisches Bündnis aufzwingen zu können.

Warum setzt der Westen noch immer so vehement auf Waffen, anstatt kluge Verhandlungsstrategien zu präferieren?

Weil Krieg als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele immer noch nicht geächtet ist.

In Hinblick auf sogenannte „Cyberkriege“ kommen nun auch Kriegsführungen auf uns zu, die sich vor wenigen Jahren noch niemand so recht vorstellen konnte?

Mit Iran habe ich das Beispiel bereits beschrieben. Cyberkrieg und die Automatisierung des Militärischen mit Robotern und Drohnen werden die Zukunft prägen. Die USA arbeiten daran bis 2035 große Teile der traditionellen Kriegsführung automatisieren zu können. Der Einsatz von Drohnen und Robotern bildet heute erst den Anfang.

Staaten erlauben sich demnach, zu Mitteln zu greifen, die ansonsten in die Abteilung Strafrecht gehören? Lassen sich solche Vorgehensweisen überhaupt legitimieren?

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat möglicherweise bereits den Zeitpunkt verpasst, Regelwerke für die Modernisierung der Kriegsführung zu schaffen. Die Internationale Gemeinschaft besitzt nicht die Kraft, die Schaffung von juristischen Rahmenbedingungen für die Kriege von heute, vor allem die die asymmetrischen, anzumahnen oder sie zu schaffen, weil die USA sich mit ihrer diplomatischen Stärke entsprechenden Bemühungen widersetzen. Die UN-Berichte zum Drohnenkrieg sind ein Beispiel für das Versagen der internationalen Gemeinschaft.

Warum ist es für führende Staaten derart schwierig, glasklare und verbindliche Richtlinien aufzustellen? Immerhin geht es um Kriege, die mit unvorstellbar grausamen Mitteln wie etwa Minen und biologischen Waffen geführt werden können?

Genau diese Staaten verfügen über derartige Waffen.

Deutschland hatte sich nach dem Desaster des Zweiten Weltkriegs über viele Jahrzehnte aus aktiven Kriegsbeteiligungen herausgehalten. Trügt der Anschein, dass diese eiserne Regel nicht nur Risse bekommt sondern bewusst gebrochen wird?

Die Bundeswehr wird zu einer weltweit einsetzbaren Freiwilligenarmee ausgebaut.

Woraus resultiert Ihrer Meinung nach diese eklatante Richtungsänderung in Deutschland?

Bundespräsident Horst Köhler nannte die Gründe. Damals trat er zurück.

Der Einsatz von Drohnen zählt auch in Deutschland zu den Top-Diskussionsthemen. Wenn Kriegsführung vom Menschen auf Technik übertragen wird, besteht dann nicht u.a. auch die Gefahr einer Relativierung der Schrecken?

Drohnen verbilligen die Militärausgaben und erhöhen die Effektivität von Waffensystemen. Die Geschichte der Militärtechnik geht einher mit der Relativierung des Schreckens.

Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass sich Deutschland doch noch rückbesinnt und eine Kehrtwende hinsichtlich der aktuellen Entwicklungen einleitet – auch, um ggf. als Vorbild zu dienen?

Für eine Rückbesinnung fehlen das Bewusstsein und die politischen Kräfte. Leider sind Kriege für die meisten Deutschen ein Phänomen der Geschichte. Die Greuel und das Leid der Kriege geraten immer weiter in Vergessenheit. Und jetzt wird die Kriegführung auch noch Spezialisten übertragen und damit immer weiter aus dem Bewusstsein der Bürger gerückt. Der Staatsbürger in Uniform droht auszusterben und diese Entwicklung wird nicht einmal bedauert.

Das Interview führte Ursula Pidun

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Tilgner, Ulrich
Die Logik der Waffen
Westliche Politik im Orient

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*Horst Köhler-Zitat: „Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“


 

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Foto: Elisabeth Stimming
YouTube-Video: Ulrich Tigner

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„Die Wirtschaft ist für den Menschen da“

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„Gesucht wird nach einer Verbindung des Kapitals mit der sozialen und institutionellen Sphäre, die das Leben des modernen Menschen ausmacht. Anders gesagt: Das Verstehen der Erscheinungsformen, der spannungsreichen Verknüpfungen, aber auch der Widersprüche des Kapitals ist Ausgangspunkt, Ziel und Motiv dieses Buches.“

Herr Prof. Hemel, Ihre Publikation trägt den Titel: „Die Wirtschaft ist für den Menschen da.“ Ist das nicht im Prinzip eine Selbstverständlichkeit?

Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel, Foto: IfS)

Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel, Foto: IfS)

Ja, das ist es, aber diese Selbstverständlichkeit kann wie eine Provokation wirken. Im Alltag erfahren wir oft das Gegenteil: Menschen fühlen sich hilflos und ausgeliefert, sie werden zum austauschbaren Produktionsmittel und nicht in ihrer Würde und Eigenart wahrgenommen. Und dann sieht es so aus, als sei eben der Mensch für die Wirtschaft da und nicht umgekehrt!

Was ist geschehen, wenn sich viele Bürger bzw. Arbeitnehmer in diesen Zeiten so übervorteilt und in Teilen ausgenutzt fühlen und sich die Distanz zum Kapital und zur Wirtschaft deutlich ausweitet?

Überall wo Menschen sich begegnen, gibt es auch Elemente des Marktes. Der Markt ist aber nicht alles, er braucht eine politische und gesellschaftliche Ordnung; er braucht Spielregeln. Ohne solche Spielregeln verkommt die Gesellschaft zur Anstalt für sozialdarwinistische Übungen. Umgekehrt bewirkt die Lähmung von Marktkräften einen riesigen Innovationsstau und allgemein sinkenden Wohlstand. Es geht also um ein Gleichgewicht – und dieses Gleichgewicht haben wir teilweise verloren.

Wer hat versagt? Die Politik, indem sie in den vergangenen Legislaturperioden Maß und Mitte verloren und Lobbyisten aus der Wirtschaft bevorzugt hat?

Es ist zu leicht, hier allein die Politik verantwortlich zu machen. In einer Demokratie kommt diese ja aus der Mitte der Gesellschaft. Und dazu gehört jeder von uns – auch wenn er ökologisch verantwortliche Tierhaltung will und dennoch das billigste Fleisch aus dem Supermarkt kauft. Gerade weil bei jedem einzelnen eine Menge Verantwortung liegt, sehe ich hier auch die Familien und das Bildungssystem in der Pflicht: Denn diese familiären und auch schulischen Prägungen wirken sich letztlich auf jeden Politiker aus!

Der Untertitel Ihrer Publikation lautet: „Vom Sinn und der Seele des Kapitals“. Wie müssen wir uns die Seele des Kapitals vorstellen?

Geld ist eine phantastische Erfindung, um den Tausch von Dienstleistungen und Gütern zu vereinfachen. Kapital ist die geronnene Form von Geld und Vermögen. Weil Geld und Kapital Ausdruck der Symbolfähigkeit des Menschen sind, drücken sie immer auch Beziehungsgeschichten aus: Währungen haben einen Namen, Geld hat eine Geschichte. Kapital gibt es nicht ohne Menschen, die mit ihm umgehen – nach ihren eigenen Bedürfnissen, Ängsten, Zwängen, Lebensgeschichten. Daher gibt es kein „herrenloses“ Kapital – es geht immer auf Beziehungen zurück und ist in sie verstrickt. Diesen Beziehungscharakter des Kapitals meine ich mit dem bildlichen Ausdruck „Seele des Kapitals“.

Sie äußern in Ihrem Buch: „Wertrationale und nutzenrationale Interessen fallen trotz aller Widersprüche langfristig zusammen. Denn Sinn, Bedeutung und soziale Anerkennung sind wesentliche Treiber wirtschaftlicher Tätigkeit, die damit eben immer auch sozial determiniert ist!“

Wertrational geprägt sind Handlungen dann, wenn sie sich vorrangig an unseren Werten ausrichten. Nutzenrational dann, wenn der Nutzen im Vordergrund steht. Menschen wollen aber häufig beides: in Übereinstimmung mit ihren Wertvorstellungen handeln, aber auch den bestmöglichen Nutzen herausschlagen. Kurzfristig kann ich einem Mieter, der mit seinen Zahlungen in Verzug ist, „nutzenrational“ kündigen. Wenn dieser aber selbst nur in einer vorübergehenden Notlage ist, kann es viel besser sein, eine schwere Zeit gemeinsam zu überbrücken und „wertrationa“ Solidarität zu üben. Zahlt der Mieter nach ein paar Monaten seine Mietschulden ab, dann konvergieren „nutzenrationale“ und „wertrationale“ Gründe: Es entsteht kein finanzieller Verlust, und das Mietverhältnis entwickelt sich langfristig. Auch hier kommt die Beziehungsseite von Geld und Kapital zum Ausdruck: Wir wollen mit finanziell geprägten Transaktionen eben sehr häufig auch die soziale Anerkennung durch andere erreichen – sonst gäbe es beispielsweise bestimmte teure Luxusgüter wohl gar nicht.

Ist es in diesen Zeiten nicht eher umgekehrt, indem Wirtschaft sich immer mehr in die Lebensverhältnisse der Menschen drängt, vorschreiben will und das ist alles andere als sozial determiniert?

Das Wort „sozial“ hat hier zwei Bedeutungen. Denn jemand, der reich werden will ohne Rücksicht auf Verluste, sucht nicht zuletzt die „soziale“ Anerkennung durch andere, will dazugehören zum Club der Reichen und Erfolgreichen. Die zweite Wortbedeutung geht in die Richtung guter Lebensverhältnisse für alle. Sie zielt auf politische Gestaltung. Und diese Gestaltung ist häufig nur so gut, wie in der Politik eben auch wirtschaftlicher Sachverstand da ist. Denn nicht jede gut gemeinte Politik führt zu sinnvollen Lösungen: Genau solche Lösungen aber sind einzufordern und im politischen Ringen zu suchen!

Über Jahrzehnte haben wir in Deutschland die soziale Marktwirtschaft präferiert. Praktisch alle Gesellschaftsschichten konnten damit Chancengleichheit genießen und persönlichen Wohlstand erarbeiten. Bricht uns das bewährte Modell zunehmend weg und falls ja, lässt sich das wirklich immer mit zunehmenden Globalisierungsfaktoren begründen?

Die soziale Marktwirtschaft bietet grundsätzlich ein gutes Gleichgewicht zwischen der nötigen Gestaltungsfreiheit in Märkten und dem ebenso nötigen sozialen Ausgleich durch politisch vorgegebene Spielregeln. Die Erschütterung der Glaubwürdigkeit der sozialen Marktwirtschaft ist ein Anzeichen für einen Pendelschlag: Ja, da spielt die Globalisierung sehr wohl eine Rolle.

Mindestens genau so wichtig ist aber eine Besinnung auf die neuen Herausforderungen des 21.Jahrhunderts. Denn im 20.Jahrhundert haben wir letztlich einseitig auf Arbeitseffizienz gesetzt. Nun müssen wir verstärkt auf Ressourceneffizienz achten, also beispielsweise energiesparende Autos, Gebäudedämmung, kreislaufwirtschaftstaugliche Produkte. Gleichzeitig müssen wir die neue soziale Frage auch so nennen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Denn ein Übermaß an Ungleichheit schafft gesellschaftlichen Stress für alle Beteiligten! Gemeint ist letzten Endes die Neugestaltung einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft!

Wirtschaft soll die von einer Gesellschaft gewünschten Bedarfe decken. Stimmen die zur Umsetzung dieses Anspruchs erforderlichen Rahmenbedingungen noch, wenn Ausgrenzungsprojekte wie etwa „Hartz IV“, Dumpinglöhne, Werkverträge und einiges mehr einen Teil der Bürger in die wirtschaftliche Aussichtslosigkeit drängen?

Ob es richtig ist, hier von Ausgrenzungsprojekten zu sprechen, das sehe ich kritisch. Ich bin viel gereist, auch in Afrika, Lateinamerika und den ärmeren Ländern Asiens. Aus diesem Blickwinkel ist unsere Sozialgesetzgebung sehr wohl und immer noch eine soziale Errungenschaft. Problematisch ist aber die bürokratische Ausgestaltung, die häufig ganz zu recht als menschenunwürdig empfunden wird. Wäre es da nicht sinnvoll, den Kommunen wieder stärkere Rechte zu geben? Denn dort sind die Verhältnisse vor Ort bekannt! Es gibt auch Länder, bei denen soziale Hilfen an die Erfüllung der Schulpflicht betroffener Kinder gebunden sind. – All dies rechtfertigt freilich keine Dumpinglöhne; hier sind gesetzgeberische Maßnahmen ja auf dem Weg.

In Ihrer Publikation präferieren Sie den Weg zu einem ganzheitlichen Kapitalbegriff „in Kombination mit der Anerkennung der Herausbildung einer globalen Zivilgesellschaft die Grundlage bieten für eine wahrhaft soziale Marktwirtschaft – auch im moralischen Sinne“. Mit welchen Weichenstellungen und Maßnahmen könnte dies gelingen?

Die Bedeutung der Zivilgesellschaft wird unterschätzt. Wir leben in einer Zeit mit Internet und zugänglicher Telekommunikation praktisch für alle. In den Slums von Kenia ist heute eine Ladestation für das Mobiltelefon wichtiger als Strom für die Beleuchtung der eigenen Hütte. Um dieses Beispiel aufzugreifen: Wenn wir als Verbraucher in Deutschland darauf achten, dass unser Mobiltelefon einen herausnehmbaren Akku hat, dann wirkt sich das unmittelbar auf die Wiederverwendung von Rohstoffen, auf die Gewinnung bestimmter Rohstoffe und damit auf die Lebenswirklichkeit von Menschen in weit entfernten Ländern aus.

Wir brauchen also mit anderen Worten Spielregeln für die globale Zivilgesellschaft, angefangen vom Verbraucherverhalten bis hin zu Vorgaben für das Verhalten von Unternehmen und Regierungen. Solche Vorgaben werden unter dem Begriff der Governance zusammengefasst. Transparenz und soziale Balance spielen hier eine besonders wichtige Rolle. Aufgabe des 21.Jahrhunderts wird es sein, eine solche Global Governance für die Zivilgesellschaft und die Unternehmen als ein Teil der globalen Zivilgesellschaft, aber speziell auch für die Regierungen durchzusetzen.

Sie schreiben auch „Die ursprüngliche kapitalistische Transformation ist der Tausch von Geld gegen Träume“. Träume rund um „die gelingende Gestaltung des sozialen Lebens“ sollten nicht vorschnell aufgegeben werden. Wie lässt sich das realisieren, wenn jene, die aufgrund ihrer Position in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik an einer Umsetzung eines solche Anspruchs gar kein Interesse zeigen?

Wenn wir etwas kaufen, haben wir Erwartungen, die mit uns als Person zu tun haben. Letztlich geht es immer wieder um den Traum vom gelingenden Leben. Und Träume haben einen sozialen Kontext. Wer von 44 Ferraris träumt, darf sich fragen lassen, ob es nicht sinnvollere Träume geben mag. Das wirtschaftliche Geschehen kommt durch diesen Zusammenhang in das Feld der sozialen Gestaltung zurück. Und dies fängt an, Wirkung zu zeigen: Unternehmen sprechen – unterschiedlich glaubwürdig – wieder von „sozialer Verantwortung“.

Fragen der Nachhaltigkeit werden teilweise sogar stärker im Wirtschaftsleben als in der Politik aufgegriffen, auch weil die Politik immer wieder schnell auf das Stimmungsbarometer in der Bevölkerung schielt. Insoweit liegt es schon auch an uns, was in der Politik geschieht. Letztlich ist Politik ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn also die Gesellschaft den Anspruch auf eine menschlich gestaltete ökologische und soziale Marktwirtschaft formuliert, wird das mit einer gewissen Verzögerung auch zum Gegenstand politischen Handelns.

Wo sehen Sie unser Land wirtschaftsethisch in zwei- bis drei Jahrzehnten und woraus schöpfen Sie Ihre diesbezüglich positiven (oder ggf. auch negativen) Ausblicke?

Die Widersprüche werden uns nicht ausgehen, auch im Blick auf globale Herausforderungen etwa in China oder im Mittleren Osten. Ich erlebe aber in so vielen Bereichen eine ernsthafte Suche nach einem neuen Gleichgewicht, dass ich eher optimistisch bin. Rein wirtschaftlich wird sich in Deutschland der Fachkraftmangel als Treiber für eine Humanisierung der Arbeitswelt, aber auch für neue Zuwanderung auswirken. Die demographische Wende wird dadurch abgemildert. Der bevorstehende Klimawandel verstärkt die Nachfrage nach umweltfreundlichen technischen und sozialen Lösungen. Dass beide Hand in Hand gehen, das verstehen wir in Europa und in Deutschland besonders gut.

*Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel ist Theologe, Philosoph, Unternehmensberater und Wirtschaftspraktiker und analysiert in seiner Publikation: „Die Wirtschaft ist für den Menschen da“ sowohl positive als auch wenig erhellende Seiten des Kapitalismus.

Cover: Patmos Verlag

Cover: Patmos Verlag

Die Wirtschaft ist für den Menschen da

Autor: Ulrich Hermel

Gebundene Ausgabe:192 Seiten
Verlag: Patmos Verlag; Auflage: 1 (27. August 2013)

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3843603448
ISBN-13: 978-3843603447

Preis: 19,99 Euro
 
*Vita Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel
Geboren 1956 in Bensheim, Abitur 1974 in Worms, Studium der Kath.Theologie, Philosophie, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Mainz und an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom (lic.rer.soc.), Promotion (1983, „summa cum laude“) und Habilitation (1988) in Regensburg, dort bis heute apl.Prof. für Religionspädagogik; anschließend Tätigkeiten als Unternehmensberater (The Boston Consulting Group), Manager (u.a. Vorstandsvorsitzender Paul Hartmann AG) und Unternehmer (Strategie und Wert GmbH, Rogg Verbandstoffe, Tacon Decor SL).
Seit 2001 Vorstandsvorsitzender „Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover“; 2009 Gründung Institut für Sozialstrategie (Berlin-Jena-Laichingen) mit dem Ziel „Impulse für die globale Zivilgesellschaft mit den Schwerpunkten Bildung, Ernergetische Nachhaltigkeit, Globale Ethik, Migration und Rechte von Minderheiten“. 2003/2004 „Manager des Jahres“ BDU, 2005 „Wirtschaftsbuch des Jahres“ der Financial Times Deutschland für „Wert und Werte- Ethik für Manager“ (München 2005, 2.Aufl.2007).

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„The dimension dissolves every vestige of human individuality“

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The details are simply beyond human imagining. (© H. Wilkes)

The details are simply beyond human imagining. (© H. Wilkes)

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„My goal was and is to reach as many readers as possible so that we shall never forget the way things were or how such things might happen again in another way unless people start thinking seriously and critically and learn the difference between truth and propaganda“.

Dr. Wilkes, your family fled into exile in 1939. Do you remember the mood and incredible circumstances of that period?

No, the only memory that I cannot shake is fear. It has been said that the body remembers what the mind has forgotten, and that children absorb fear with their mother’s milk. Whenever and wherever in the world the bombs start to drop, I panic.

Your new book has just appeared under the title The Worst, however, was the Jew Star: the Fate of my Family. What is the underlying idea of your book and did your research result in new findings?

There is a saying: „Know whence you came, that you may benefit from the experience of those upon whose shoulders you stand.“ Until age 60, when I opened a dusty box containing letters from the family who had not survived, I had no idea upon whose shoulders I stood. I grew up on an isolated farm in Canada with parents who refused to speak of the past. I knew very little of how and why we had fled to a land and a life that was so difficult. When I read those letters, it changed everything. All four of my grandparents sprang to life, along with an assortment of beloved uncles and aunts and cousins. I heard their voices, and I knew that I could not simply fold their letters and silence them a second time. They cried out to live and to speak to the world in their own words.

fled from Nazi-Germany into Canadian exile. (©  H. Wilkes)

The family fled from Nazi-Germany into Canadian exile. (© H. Wilkes)

And that is how this book began. The more I saw each person who wrote to us in Canada as an individual with a very different reaction to events that were unfolding in Europe, the more important it became to give voice to each individual. Six million is a number, and it erases every vestige of human individuality. I wanted Canadians to see whom they had lost by closing their doors to the immigration of Jews. Eventually, I also wanted Germans to see whom they had lost, these ordinary people who had once been their schoolmates, their friends and neighbours upon whom at the very least, they had turned their backs.

How do you account for the hatred against Jewry that in Germany eventually led to the greatest crime in human history?

Letter from  a vanished world. (© H. Wilkes)

Letter from a vanished world. (© H. Wilkes)

I am not a historian, and I am not sure how one can determine which is the “greatest” crime in human history. There have been and there continue to be so many horrendous acts ranging from the slaughter of the Armenians to the massacres in Rwanda, from the actions of Stalin and Mao all the way back to Genghis Khan.
The German situation to me personally is appalling because it was deliberate, calculated and carried out by people who were then among the world’s most educated and „civilized.“

I do not believe that Germans are innately evil, and I greatly admire the current generation of Germans who have looked long and hard at the issues that led to the final tragedy.

I think more than any other nation, Germans have learned from the past and taken steps to ensure that the future will not be a repetition of the past. I also agree with authors who point out that it was in part an unfortunate combination of circumstances, and that the degree of anti-Semitism was even greater in other countries.

When people are demoralized, when they are economically deprived, and when they feel that they have no future as was then the case in Germany and is still the situation in parts of the world today, then people will grasp at straws and they will follow any leader who promises them a better life.

The Waldstein-family in the year 1935 (© H. Wilkes)

The Waldstein-family in the year 1935 (© H. Wilkes)

During the Nazi era, anti-Semitism was largely initiated and legitimized by the state. In your opinion, why did so many citizens jump on the bandwagon of hatred and violence? Could millions of opponents have stopped the Nazis?

Humans love easy answers, and many people are happy when they don’t have to think too much for themselves. Nowadays, neuroscientists have demonstrated that what humans believe is often very different from the actual facts. Instead, there is a strong correlation to influences from childhood to social affiliation and to historical circumstances. „Thanks“ to the early church fathers, medieval Europe had already learned to condemn the Jews as the killers of Christ. Such beliefs do not vanish overnight. Hitler knew how to develop this distrust of the Jews as „Spawn of the Devil“.

As a lifelong educator, what is more difficult for me to understand is how so many highly educated people jumped on the bandwagon. One of my uncles who briefly survived the war describes with utter astonishment the marvels of technology that found their application in Theresienstadt and Auschwitz. Does every scientist have a responsibility to ask how his new findings will be used? A major question for our generation is what and how we should teach students so that past atrocities will never be repeated in any form.

Do you believe the many protestations by Germans of those days that they knew nothing of the extent of Nazi atrocities?

During the First World War. (© H. Wilkes)

During the First World War. (© H. Wilkes)

No, I do not believe they knew nothing. Too many people were involved in the process, and it was hardly a secret that Hitler was seeking to exterminate the Jews. Some Germans were only involved in knocking on doors at midnight or in herding all Jews like cattle onto the trains. It may be true that they did not ask the destination of the train, but they cannot have escaped knowing that these thousands upon thousands of frightened people were not heading for a happy vacation. Other Germans only drove the train, and did not ask what was in the boxcars, while still others merely directed people to the left of to the right upon arrival at the extermination camps.

At the same time, it may be true that few people were aware of „the full extent of the atrocities because I suspect that few people could have born the truth. The details are simply beyond human imagining. We all like to believe that our group does not commit atrocities and is somehow „better“. We still justify the actions of governments on our behalf, often despite evidence to the contrary. None of us wants to know the full extent of torture deemed necessary in Guantanemo by our American allies. Although that does not make it excusable, it is a human trait to not want to know. For ordinary Germans of the Nazi era, it was easier to imagine their suddenly absent schoolmates and neighbours as having gone to America thant to imagine them being gassed at Auschwitz.

Despite their immeasurable suffering, could your family pardon and can you yourself forgive Germany?

My parents probably did not and could not. „Nie wieder nach Europa“ was their invariable comment after the war when friends began to speak of the pleasures of going „home“ where good food and great music were readily available.

Waldstein-Generationen (© H. Wilkes)

Waldstein-generations (© H. Wilkes)

For me, the answer is very different. I had grown up in Canada with my own experiences of anti-Semitism, and I had learned that there were good people and bad people in all parts of the world. Once I was old enough to travel, I was repeatedly drawn to Europe and especially to the German-speaking lands where I met more and more people whose kindness and level of understanding astonished me. I am, of course, speaking largely of a new generation, people who themselves were too young to be direct participants, but who have asked the hard questions. And I must stress again and again that in my experience, more than any other nation, Germans have asked these questions and continue to ask them.

With these forgiving words in mind, do you think of certain individuals and encounters in particular?

When I think of a new generation of Germans, I think of those I have met during the research for this book. I picture the young man who took me up the tower in his home town to show me the remains of a concentration camp. Repeatedly he has wrestled with the issue of how his good and caring parents could have acted as they did. I think of strangers who have become my friends, of people who reached out to me with offers of help in translating the book. I think of Germans who welcomed me to their homes as if I were a long-lost cousin, and who have enabled me to put a real face on German kindness. In turn, I have come here to put a real face on being a Jew of German origin, knowing fully that this makes me a Sondervogel, a rare bird in this land where the only Jews are largely recent arrivals from other lands. But my roots are here.

Is the time ripe for significantly more communication, exchange and talk with fellow Jewish citizens and contemporaries?

Absolutely. More and better communication and mutual understanding are crucial. What other way is there to prevent a repetition of the Third Reich and of other historical horrors?

Transport-card from the year 1943 (© H. Wilkes)

Transport-card from the year 1943 (© H. Wilkes)

What do you wish for in particular with regard to the coexistence of Jewish citizens and contemporaries from other religions and cultures?

I personally think a step in the right direction would be to stop categorizing people according to race or religion or even nationality. I am a Jew, but I no more represent all Jews than you represent all Christians- or all atheists or all members of any group. And certainly, no one of you could claim to speak for all Germans. Jews too have many different opinions on every issue, as do all people.

There are good people and not-so-good people to be found in every family. How much more is that the case in a larger group? There are good people and not so good people to be found in Canada and in Germany and in every other land and in every race and in every culture. No one represents me, and I represent no one else. No one is „typical“, and we must all learn to see each other as individuals rather than as members of a group in whom clever politicians can stir up animosity toward all members of some other group.

References:

„Das Schlimmste aber war der Judenstern. Das Schicksal meiner Familie“

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Der Rücktritt ist ein Ritual

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Die meisten Politiker treten ohne Not nicht zurück. Für den Rest wird das Prozedere zu einem Ritual, glaubt der Historiker Dr. Michael Philipp. Der Experte hat schon 2007 zu diesem Thema eine Publikation zu Verhaltensweisen von Politikern herausgebracht, die entweder gar nicht, nur mit Ach und Krach oder tatsächlich auch einmal mit Würde aus dem Amt geschieden sind. Letztere sind deutlich in der Minderheit. Wir haben nachgefragt. Im Gespräch mit dem Autor der Publikation Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen.

Fotorechte: Dr. Michael Philipp

Fotorechte: Dr. Michael Philipp

Was war der Stein des Anstoßes, Rücktritte hochrangiger Politiker unter die Lupe zu nehmen?

Für meine Beschäftigung mit dem Thema „Rücktritt“ gab es keinen konkreten Anlass, es war nicht ein einzelner spektakulärer Vorfall, der mein Interesse auf dieses Phänomen gelenkt hätte. Als Historiker achte ich auf wiederkehrende Vorgänge und Abläufe, auf Verhaltensmuster und ihre Variationen und irgendwann fiel mir auf, dass politische Rücktritte ein spannendes und überdies aussagekräftiges Beispiel wiederkehrender Vorgänge sind.

Schon beim Vergleich nur weniger Rücktritte habe ich festgestellt, dass die einzelnen Schritte bis zu einem Rücktritt – etwa die Berichterstattung der Medien, das Krisenmanagement bei einer Skandalisierung, das Verhalten der Parteifreunde – fast immer denselben Schemata und Mechanis­men folgen. So ist der Rücktritt ein Ritual, und wie jedes Ritual dient es der gesellschaftlichen Regelung und Kommunikation: Rücktritte und die Diskussionen um ihr Für und Wider sagen viel über die politische Kultur aus.

Wenn ich noch die Zielgruppe meiner Untersuchung präzisieren darf: mein Blick richtete sich nicht primär auf „hochrangige“ Politiker, sondern auf Regierungschefs und -mitglieder in Bund und Ländern, also auf Kanzler, Ministerpräsidenten und Minister, außerdem auf den Bundestags­präsidenten. Das sind Repräsentanten der Verfassung, und während andere politische Posten – etwa der eines Parteivorsitzenden – Vereinsangelegenheiten sind, ist die ordnungsgemäße Führung eines Amtes im Verfassungsrang eine Frage, die an den Bestand der Demokratie rührt.

Ihre Publikation ist auch eine beachtliche Recherchearbeit. Wie lange haben Sie an dem Buch gearbeitet?

Von der ersten Idee zu diesem Buch bis zur Drucklegung sind fünf Jahre vergangen. In diesem Zeitraum habe ich nicht ausschließlich an diesem Projekt gearbeitet, in den Phasen des Recherchierens und Auswertens der Materialien gab es immer mal eine Pause.

Die Recherche war sehr aufwendig – zum einen musste ich erst einmal ermitteln, welche Rücktritte es in der Bundesregierung und den Landesregierungen seit 1950 gegeben hat, zum zweiten musste ich für jeden Fall die Fakten zusammentragen, um Abläufe, Ursachen und Hintergründe jeweils zu rekonstruieren. Ich habe wochenlang in Bibliotheken gesessen und aus Biographien, Autobiogra­phien, Epochendarstellungen und Regionalgeschichten Informationen über einzelne Rücktritte geholt. Das war aber nur für die wenigen Dutzend der spektakulären Fälle – wie Franz Josef Strauß, Uwe Barschel, Konrad Adenauer, Willy Brandt – möglich.

Die meisten Rücktritte, vor allem die in Landesregierungen, sind nicht in die Geschichts­schreibung eingegangen, weil sie kaum Aufmerksamkeit erregt hatten, weil sich Skandale rasch erledigt hatten oder weil sie nur von regionaler Bedeutung waren. Die meisten Informationen über solche Rückt­ritte habe ich aus dem Zeitungsausschnittarchiv der Freien Universität Berlin – eine hervorragende Sammlung, die über Jahrzehnte alle Tageszeitungen der Bundesrepublik ausgewertet hat. Nur durch dieses reiche zeitgenössische Quellenmaterial war es möglich, die Fälle detailliert nachzuvollziehen.

Die Materialsuche und -erschließung hat sich jahrelang hingezogen. Die Phase des Schreibens, in der ich nichts anders getan habe, als die gewonnenen Fakten auszuwerten und in eine narrative Struktur zu bringen, hat etwas über anderthalb Jahre gedauert.

Treten Frauen anders zurück als Männer? Oder sind Auswüchse von Eitelkeiten eher geschlechtsneutral?

Bisher hat es zu wenig Rücktritte von Frauen gegeben, um eine fundierte Aussage über geschlechts­spezifisches Verhalten bei Amtsniederlegungen treffen zu können. Die Frage ist aber spannend, weil sie an das grundsätzliche Thema reicht, ob Politikerinnen anders agieren oder ein anderes Amtsverständnis haben als Männer. Das wird sich in Bezug auf Rücktritte vielleicht in einigen Jahren oder Jahrzehnten beantworten lassen.

Auf zwei Aspekte dieses Themas möchte ich aber kurz eingehen. Das ist zum ersten der Umstand, dass Frauen bei einer Skandalisierung anscheinend schneller zurücktreten als Männer – es gibt kein Beispiel, dass eine Politikerin monatelang skandalisiert wurde und ihren Rücktritt hinausgezögert hätte wie es – als Extrembeispiel – Hans Filbinger getan hat. Skandalisierte Politikerinnen treten relativ schnell zurück, etwa die Bundesministerinnen Andrea Fischer oder Herta Däubler-Gmelin. Diese geringe Beharrlichkeit könnten Sie mit mangelnder Widerstandskraft oder zu geringer Verankerung in Partei- und Fraktionsstrukturen erklären. Aber das führt in die Irre. Einer­seits waren gerade diese beiden Fälle durch die aktuelle Situation geprägt, andererseits gibt es hinreichend Beispiele dafür, dass auch bei Männern die Durchhaltekraft nicht eben ausgeprägt sein muss; die prominentesten und tragischsten Beispiele gaben Willy Brandt und Björn Engholm.

Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Beobachtung, dass unter den so wenigen Rücktritten aus Protest immerhin drei von Frauen sind. Die Ministerinnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Marianne Birthler und Christa Thoben haben sich aus Gründen ihrer politischen Ansichten, ihres Verständnisses von politischem Anstand oder ihrer Selbstachtung den Zumutungen ihrer Partei oder ihres Regierungschefs entzogen. Auch hier lässt sich aus den wenigen Fällen noch nicht auf ein besonders von Frauen realisiertes Prinzip schließen, aber vielleicht wird es mal eines.

Welcher Rücktritt hat Sie persönlich – im positiven oder negativen Sinne – am meisten fasziniert und warum? 

Zu den beeindruckenden und sympathischen Fällen gehören die eben genannten Rücktritte aus Protest. Zu ergänzen sind da noch Gustav Heinemann, der erste Zurücktretende der Bundesrepublik, der 1950 mit seiner Demission gegen Adenauers Wiederbewaffnung protestierte, und Erhard Eppler, der die neue Politik von Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht mittragen konnte, weshalb er 1974 als Minister für Entwicklungshilfe zurücktrat.

An positiven Rücktritten gibt es nicht so viele; zu den gelungenen Fällen gehört der von Hans-Dietrich Genscher als Außenminister: auf der Höhe seines Ansehens, ohne erkennbaren äußeren Anlass. In völliger Freiwilligkeit abzugehen, gelingt den Wenigsten. Diese Leistung ist beeindruckend, weil sie ein Zeichen von Selbstdistanz und Realitätsbewusstsein ist; beides ist unter Politikern nicht eben verbreitet.

Auf der anderen Seite stehen die unangenehmen Beispiele. Am erschreckendsten war der Fall von Hans Filbinger, der sich an Uneinsichtigkeit nicht überbieten lässt; fatal war der Rücktritt von Rainer Barzel, der als Heuchler und Abkassierer dastand; am dringlichsten war der Rücktritt von Uwe Barschel, der in den schmierigsten Skandal der Bundesrepublik, die Aktionen gegen Björn Engholm, verwickelt war. Und dann gibt es noch die unterbliebenen Rücktritte, etwa die Rücktrittsverweigerung von Manfred Wörner. Das war derjenige Minister, der sich trotz gröbsten Fehlverhaltens im Amt halten konnte – das wird immer als Makel der Regierung von Helmut Kohl haften bleiben. Dieser Spezies der ausgebliebenen Rücktritte habe ich ein eigenes Kapitel gewidmet.

Sie mahnen zu einer Rücktritts-Kultur. Sie glauben, dass es sie eines Tages geben kann?

Es gibt ja bereits eine Rücktrittskultur – allerdings in Großbritannien. In meiner Untersuchung habe ich mich auf die Bundesrepublik beschränkt, weil ein internationaler Vergleich ein eigenes Thema wäre, aber bei verschiedenen Gelegenheiten habe ich auch die Verhältnisse in Großbritannien erwähnt. Dort sind Politiker schneller bereit, Verantwortung für einen Missstand zu übernehmen, aus Achtung vor der Demokratie ihr Amt aufzugeben. Ob sich deutsche Politiker ein solches Amtsverständnis zum Vorbild nehmen werden, vermag ich nicht vorherzusagen. Auf absehbare Zeit scheint mir das nicht wahrscheinlich, da müsste sich wohl das Karrieredenken und die stringente Lebensplanung grundlegend ändern. Aber warum sollte es nicht dazu kommen? Es ist nicht verkehrt, in längeren Zeiträumen zu denken. In einem historischen Kapitel meines Buches betrachte ich Amtsniederlegungen vergangener Jahrhunderte – von Sulla und Diokletian in der Römerzeit über Karl V. im 16. Jahrhundert bis zu Christina von Schweden. Deren Abdankungen – alle freiwillig zustande gekommen – sind auch Beispiele für umsichtige Amtsniederlegungen. Im übrigen braucht es für eine Kultur des Rücktritts gar nicht so viele Fälle – schon zwei bis drei gelungene Rücktritte pro Jahr könnten zu einem Imagewandel des Rücktritts führen und langsam zum Wachsen einer Rücktrittskultur beitragen.

Werden Sie zukünftige Rücktritte in einer späteren Auflage ergänzen?

Es ist keineswegs auszuschließen, dass in den kommenden Jahren weitere Fälle das Spektrum der Rücktritte bereichern. Dieses Phänomen ist so vielschichtig, die Varianten im Verhalten der Beteiligten sind so unerschöpflich, dass immer etwas Neues dazukommt. Allerdings gehe ich davon aus, dass ich in meiner Typologie der Rücktrittsgründe die wesentlichen Varianten beschrieben habe – von biographischen und politischen Gründen über Protest bis zu den verschiedenen Möglichkeiten des Fehlverhaltens ist alles systematisch erfasst. Das gilt auch für die Faktoren, die zu einem Rücktritt führen können – von der Bedeutung des Regierungschefs über den Sinn von Rücktritts­forderungen und Drohungen bis zur Rolle der Medien habe ich die wesentlichen Elemente behandelt. Wenn aber ein künftiger Rücktritt nicht nur eine Abwandlung bekannter Muster enthält, wenn er die Geschichte des Rücktritts nicht nur um eine spektakuläre oder kuriose Anekdote bereichert, würde ich ihn sicher in einer späteren Auflage des Buches würdigen.

Fotorechte: Dr. Michael Philipp

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Bedingungsloses Grundeinkommen muss nicht das ganze System „umkrempeln“

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Der Experte hat seit 1995 eine Professur für Volkswirtschaftslehre an der TH Nürnberg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Makroökonomie, insbesondere Geld- und Währungspolitik, Psychologische Ökonomie und Interdisziplinäre Glücksforschung. Er ist Mitautor des Lehrbuchs „Europäische Geldpolitik“ (6. Auflage 2013) und des Fachbuches „Gesundes Führen mit Erkenntnissen der Glücksforschung (2014), das sich insbesondere an Führungskräfte richtet.

Herr Prof. Ruckriegel, Nicht nur zum Jahresauftakt sind die Menschen auf der Suche nach dem Glück. Wie definieren Sie als Volkswirt und Glücksforscher diesen Begriff?

Prof. Dr. Karlheinz Ruckriegel (Foto: K. Ruckriegel)

Prof. Dr. Karlheinz Ruckriegel (Foto: K. Ruckriegel)

Die interdisziplinäre Glücksforschung beschäftigt sich mit Glück im Sinne des Glücklich-Seins, also mit dem subjektiven Wohlbefinden und nicht mit dem Glück-Haben, also dem Zufallsglück (z. B. der Wahrscheinlichkeit eines Lottogewinns). Subjektives Wohlbefinden hat dabei zwei Ausprägungen: „emotionales“ und „kognitives“ Wohlbefinden.

Mit emotionalem Wohlbefinden ist die Gefühlslage im Moment gemeint, wobei es im Wesentlichen auf das Verhältnis zwischen positiven und negativen Gefühlen im Tagesdurchschnitt ankommt. Hier geht es um das Wohlbefinden, das Menschen erleben, während sie ihr Leben leben.

Beim kognitiven Wohlbefinden geht es um den Grad der „Zufriedenheit“ mit dem Leben. Hier findet eine Abwägung zwischen dem, was man will (den Zielen, Erwartungen, Wünschen), und dem, was man hat, statt. Es geht also um das Urteil, das Menschen fällen, wenn sie ihr Leben bewerten, wobei es hier entscheidend auf die Ziele ankommt, die Menschen für sich selbst setzen. Eine glückliche Person erfreut sich häufig (leicht) positiver Gefühle und erfährt seltener negative Gefühle im Hier und Jetzt und sieht einen Sinn in ihrem Leben, verfolgt also sinnvolle (Lebens-) Ziele.

Und welchen Anteil hat die Volkswirtschaftslehre an der Glücksforschung?

Die Glücksforschung ist (auch) ein Teilgebiet der Volkswirtschaftslehre. In der Volkswirtschaftslehre beschäftigen wir uns mit der Frage, wie man mit knappen Ressourcen umgehen soll, um die gesetzten Ziele am besten zu erreichen. Konkret gesprochen geht es also darum, wie wir mit unserer Zeit (Input) umgehen sollen, um ein gelingendes, glückliches, zufriedenes Leben leben zu können (Glücklich-Sein). Und dabei/ dazu ist die Erzielung von Einkommen nur ein Mittel zum Zweck. Einer der weltweit bekanntesten Glücksforscher, der Ökonom Angus Deaton (Princeton University) bekam 2015 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für sein Lebenswerk.

Gehört zu einer zufriedenstellenden subjektiven Befindlichkeit vor allem auch eine ökologische Basis, die Sicherheit vermittelt?

Seit 2011 veröffentlicht die OECD ihren Better Life Index. Zentrale Größe in diesem Index, der insgesamt 11 Indikatoren um fasst, ist das subjektive Wohlbefinden. Ein wichtiger Faktor für das subjektive Wohlbefinden ist in der Tat auch die Qualität der Umwelt.

Nur Wachstum kann den Wohlstand unserer Gesellschaft sichern, hören wir praktisch täglich aus Wirtschaft und Politik. Trifft das überhaupt zu und baut das nicht einen enormen Druck auf, der das Wohlbefinden und damit das Empfinden von Glück erschwert?

Man muss hier zunächst begrifflich zwischen Wohlstand und Wohlbefinden unterscheiden. Mit Wohlstand ist die materielle Güterverfügbarkeit gemeint und Wohlstand und Wohlbefinden korrelieren zur bis zu einem bestimmten Punkt positiv. Wie ich bereits ausgeführt habe, geht es beim Wohlbefinden um viel mehr. Wir wissen aus der interdisziplinären Glücksforschung, dass – nachdem die materiellen Grundbedürfnisse gedeckt sind, mehr Geld/Einkommen (Wohlstand) das subjektive Wohlbefinden nicht mehr erhöht. Es deutet dabei Einiges darauf hin, dass wir diese Situation in (West-) Deutschland im Großen und Ganzen schon in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts erreicht haben. Warum ist das so? Zum einen passen sich die Ansprüche und Ziele an die tatsächliche Entwicklung an, d. h. mit steigendem Einkommen steigen auch die Ansprüche, so dass daraus keine größere Zufriedenheit erwächst (sog. hedonistische Tretmühle), nachdem die materiellen Grundbedürfnisse gedeckt sind.

Zum anderen ist – sofern die materielle Existenz gesichert ist – , weniger das absolute Einkommen, sondern vielmehr das relative Einkommen – das heißt das eigene Einkommen im Vergleich zu anderen – für den Einzelnen entscheidend. Bei einem generellen Einkommensanstieg für alle: Es kommt einfach zu einer Erhöhung der sozialen Norm, so dass die Zufriedenheit nicht steigt, da alle mehr haben. Bei unterschiedlichen Einkommensveränderungen: Die Summe der Rangplätze in einer Volkswirtschaft ist fix – steigt einer auf, muss ein anderer absteigen – ein Nullsummenspiel.

Prekäre Beschäftigungen und Überforderungen im Job zählen sicher nicht zu den Glücksfaktoren. Was müsste sich ändern, um solche Schieflagen, die seit Jahren zunehmen, abzubauen?

Das Bild ist hier gemischt: Zum einen: 2013 kam es zu einer Klarstellung im Arbeitsschutzgesetz. Es wurde klargestellt, dass Unternehmen auch eine psychische Gefährdungsbeurteilung vornehmen müssen. Es gilt psychische Gefährdungen am Arbeitsplatz zu vermeiden. In diesem Zusammenhang spielen natürlich Fragen der Überforderungen eine wichtige Rolle. Andererseits sollten wir uns natürlich auch selbst fragen, ob wir uns nicht zu stark von einem immer Höher, immer Weiter, immer Schneller vereinnahmen lassen. Wir alle haben nur 24 Stunden am Tag. Nutzen wir die 24 Stunden wirklich so, dass unser subjektives Wohlbefinden nicht zu kurz kommt? Sind wir nicht zu stark auf das Materielle fixiert? Wie steht es mit Zeit für unsere sozialen Beziehungen, für unsere Gesundheit? Stehen wir hinter dem was wir tun? Passt also die Zeit, in der wir arbeiten, auch zu unserer work-life-balance oder müssen wir hier selbst aktiv etwas ändern?

Zum anderen: 2015 wurde der Mindestlohn eingeführt. Wir müssen aber noch viel weiter gehen. Es muss darum gehen, Arbeit ganz neu zu bewerten. Dass Arbeitsplätze in der industriellen Fertigung relativ gut entlohnt werden, Arbeitsplätze im Bereich Fürsorge eher schlechter, hat auch etwas mit überkommenen gesellschaftlichen Vorstellungen zu tun. Hier sollte man neu ansetzen. Es geht aber auch ganz generell darum, etwas gegen die Ungleichheit in der Gesellschaft, die in den letzten 20 Jahren insgesamt zugenommen hat, zu tun. Etwa durch gute Löhne, einem fairen Steuersystem, gleichen Bildungschancen für alle und höheren Bildungsinvestitionen.

Vor einhundert Jahren gab es bereits den 8-Stunden-Tag. Es gibt ihn noch heute und dies trotz Computerzeitalter und immenser Rationalisierungserfolge. Warum fällt es so schwer, arbeitsteiliger zu werden und moderne, angepasste Arbeitszeiten einzuführen, die den Menschen dann auch mehr Freiräume lassen?

Wir wissen aus der Glücksforschung, dass uns – nachdem die materiellen Grundbedürfnisse befriedigt sind – mehr Materielles nicht glücklicher/zufriedener macht. Wir brauchen hier deshalb ein Umdenken in der Politik, den Unternehmen, aber auch bei uns selbst. Wir wissen, dass Arbeit wichtig ist. Wir brauchen Arbeit, da wir etwas Sinnvolles mit unserer Zeit anfangen wollen. Wir brauchen Arbeit, um Einkommen zu erwirtschaften. Arbeit schafft Möglichkeiten zur geistigen Weiterentwicklung. Arbeit vermittelt das Gefühl, gebraucht zu werden, stärkt unser Selbstvertrauen, schafft Identität und bietet soziale Kontaktmöglichkeiten. Aber Arbeit ist nur ein Teil. Wir brauchen genauso ein lebbare work-life-balance. Falls die Schieflage beim Einzelnen zu groß ist, sollten auch individuelle Anpassungen, d.h. i.d.R. Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich, kein Tabu sein. Letztlich ist ja entscheidend, wie ich meine 24 Stunden nutze. Und Einkommen ist bekanntlich nur ein Mittel zum Zweck.

Im Gespräch ist immer häufiger ein bedingungsloses Grundeinkommen. Es soll jedem Bürger ohne jegliche Bedingung ein kleines Einkommen pro Monat garantieren und somit eine minimale Basis der ökonomischen Sicherheit bieten. Kann das Bewusstsein, über eine solche Unabhängigkeit deutlich und vor allem langfristig zum Glück beitragen?

Das ist ein überlegenswerter Ansatz. Dazu braucht man aber nicht das ganze System „umkrempeln“. Es genügt m.E. eine bedingungslose Grundabsicherung, falls man sonst kein Einkommen erzielt – ohne Auflage zur Arbeitsaufnahme. Eine solche Auflage ist bisher mit der Inanspruchnahme Arbeitslosengeld II (Stichwort Hartz IV) verbunden. Ich sehe allerdings keinen großen Sinn darin, dass alle Bürger ein solches Einkommen bekommen sollen, unabhängig davon, was sie sonst an Einkommen beziehen. Ich spreche daher lieber von einer bedingungslosen Grundabsicherung.

Skeptiker stellen gerne die Frage, wer dann noch arbeiten möchte? Die Frage impliziert im Prinzip die Erkenntnis, dass noch immer viele Menschen einen eher ungeliebten Job ausführen müssen. Spornt ein BGE als soziales Sicherungssystem aber im Gegenteil nicht eher an und offenbart Talente und Kreativität?

Wieso soll man nicht mehr arbeiten wollen? Die generelle Idee, dass Arbeit Leid verursacht, das
man durch Einkommen kompensieren müsse, findet sich zwar (noch) – zumindest implizit – in vielen volkswirtschaftlichen Lehrbüchern, ist aber realitätsfremd (wie vieles andere in diesen Lehrbüchern). Ich habe bereits darauf hingewiesen, wie wichtig Arbeit für uns, für unser Wohlbefinden ist.

In jedem Fall befreit es vom Zwang zur Aufnahme einer gänzlich unerwünschten Arbeit. Es wäre damit eine der größten Entwicklungsschritte überhaupt und würde zudem auch bisher nicht bezahlte Arbeiten wie etwa Kindererziehung und Pflege von Angehörigen anerkennen?

Der Zwang würde entfallen. Arbeitgeber müssten sich Gedanken machen, wie eine gänzlich unerwünschte Arbeit attraktiver werden könnte, damit sie überhaupt jemand macht.

Welche weiteren Vorteile und ggf. auch Nachteile sehen Sie auf dem Weg zu ein wenig mehr Glück für jeden einzelnen Bürger durch ein BGE?

Die bedingungslose Grundabsicherung könnte das Wohlbefinden Einiger verbessern. Es kommt aber darauf an, wie die freie Zeit verwendet wird. Und da können die Erkenntnisse der interdisziplinären Glücksforschung wichtige Einsichten liefern. Das gilt natürlich auch für die weit überwiegende Mehrheit, die ein solches Grundeinkommen nicht in Anspruch nehmen würde.

Gibt es vom Glücksexperten ein Rezept, was der Einzelne tun kann, um sein Glück und damit das Wohlbefinden festzuhalten, falls er darüber schon verfügt?

Wir können alle an unserem Wohlbefinden arbeiten. Zunächst geht es im Sinne des emotionalen Wohlbefindens darum, sorgsam mit seinen Gefühlen umzugehen. Neuere Forschungsergebnisse aus der Psychologie legen nahe, dass man hier im Tagesdurchschnitt mindestens auf ein Verhältnis von 3:1 (positive Gefühle : negativen Gefühlen) kommen sollte. Und da können wir viel tun. Wir wissen, dass wir eine Art Negativ-Bias haben: Wir nehmen die negativen Dinge weitaus intensiver wahr als die positiven. Wir können dies ändern und die positiven stärker in den Mittelpunkt rücken und dadurch unsere positiven Gefühle stärken.

Wie lässt sich dies praktisch umsetzen?

Dies gelingt etwa, indem man zwei bis drei Mal pro Woche abends ein Dankbarkeitstagebuch schreibt und die drei Dinge aufschreibt, für die man in den letzten 24 Stunden dankbar war. Dies schärft unseren Blick für das Positive. Man sollte dies zwei oder drei Monate tun. Dann ändert sich die Sichtweise auf das Leben. Auf der anderen Seite muss man nicht jedes negative Gefühl haben. Man sollte bewusst mit seinen negativen Gefühlen umgehen. Es macht zu Beispiel keinen Sinn, sich darüber aufzuregen, dass man im Stau steht. Dadurch kann man nichts ändern.

Auf der anderen Seite sollte man sich – bezogen auf das kognitive Wohlbefinden – werthaltige und realistische Ziele setzten. Werthaltige Ziele sind persönliches Wachstum, soziale Beziehungen und Beiträge zur Gesellschaft, da sie uns ermöglichen unsere psychischen Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und Zugehörigkeit am besten zu befriedigen. Ziele wie Geld, Schönheit und Popularität sind hier weniger zielführend und tragen daher weniger zur Lebenszufriedenheit bei. Unsere Ziel sollte aber auch realistisch sein, das heißt, es sollte auch eine Chance bestehen, sie zu erreichen. Wenn ich mir persönlich nun das Ziel setzen würde, ab der nächsten Saison beim 1. FC Bayern in der 1. Mannschaft in der Fußball-Bundesliga mitspielen zu wollen, wäre das ein Ziel, welches (absolut) nicht realistisch wäre. Es kommt also entscheidend darauf an, welche Ziele wir uns setzen.

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Kann man Glück kaufen?

Teil II anschauen

(Header-Foto: Screenshot YouTube / Neothesus)

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Affäre Barschel – ein Kriminalfall der Superlative

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Knauer stellte 2009 mit seiner Veröffentlichung erstmals Originaldokumente der staatlichen Stellen in den wichtigsten Auszügen aus den Ermittlungsakten zur Verfügung. Möglich wurde dies, da die Ermittlungsarbeiten nach vielen Jahren endgültig abgeschlossen wurden. Knauer ist allerdings nicht nur Herausgeber der Dokumente, die er in seiner Publikation unkommentiert präsentiert und Ermittlungsarbeiten, gerichtsmedizinische Fakten, dubiose Waffengeschäfte, zweifelhafte Medienvertreter und das Innenleben einer Politikerfamilie in den Fokus rückt. Vielmehr geriet er auf dem Höhepunkt des Skandals selbst hinein in den Sumpf eines Polit-Thrillers, der eigentlich in die Hände fantasiebegabter Krimiautoren gehört und nicht in die reale Welt politischen und medialen Schaffens. Knauer – damals noch für das Nachrichtenmagazin STERN tätig – war jener Reporter, der am Sonntagmittag des 11. Oktober 1987 im Genfer Hotel Beau Rivage den toten Uwe Barschel auffand.

„Der Versuch, ein Interview mit einem lebenden Barschel zu bekommen, endete vor seiner Leiche“, schreibt der Autor in einem Epilog zu seiner Publikation. Fotos vom toten Barschel, die Knauer damals vor Ort erstellte, gingen um die Welt und gaben Anlass zu heftigsten Diskussionen hinsichtlich der Veröffentlichung und ethischen Aspekten. Wie folgenschwer zudem Knauers Rolle als Zeuge dieser Tragödie wurde, lässt sich nur erahnen, denn er äußert in seinem Schlusswort auch: „Ich erlebte als Journalist, wie es sich anfühlt, selbst Opfer einer unfairen, diffamierenden und schlampig recherchierten Berichterstattung zu sein – eine heilsame Lektion.“ Nachgefragt: Im Gespräch mit Sebastian Knauer, SPIEGEL-Redakteur und Herausgeber der Publikation „Barschel – Die Akte“.

Sebastian Knauer, die Akte Barschel wurde geschlossen, nachdem über einen extrem langen Zeitraum in unzählige Richtungen ermittelt wurde. Leider ohne definitives Ergebnis, so bleibt Raum für weitere Spekulationen. Wie ist Ihre persönliche Einschätzung bezüglich der Todesursache? Deutet eher alles auf Selbstmord oder Mord hin? 

Foto: S. Knauer

Foto: S. Knauer

Beides ist möglich, so wie es auch zutreffend der Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft Lübeck dokumentiert. Allerdings ist schon erstaunlich, dass es in einem so wichtigen Fall den beteiligten Polizeien und Staatsanwaltschaften in Genf und Lübeck auch 22 Jahre nach den Ereignissen nicht gelungen ist, eine definitive Antwort auf diese Frage zu geben. Und darin liegt auch die Tragik für die Familie Barschel.

Der jüngste Sohn Christian Albrecht Barschel, der von einem Mord ausgeht, sagte mir: „Ich könnte mit jedem Ergebnis leben, das Schlimmste ist diese Unklarheit“. Zu einem Mord gehören Täter und Motive, beides liefert auch der leitende Oberstaatsanwalt Heinrich Wille aus Lübeck nicht. Er spricht etwas nebulös von Verstrickungen des Ministerpräsidenten in Waffengeschäften der damaligen US-amerikanischen Iran-Contra-Affäre oder südafrikanischen U-Boot-Geschäfte in den Achtziger Jahre. Allerdings sei Barschel „nur am Rande“ mit Waffengeschäften befasst gewesen, sagt Wille. Diese vage Einschätzung halte ich für unbefriedigend. Denn sollte es ein Mord an einem amtlichen Geheimnisträger im Staatsauftrag gewesen sein, dann haben wir publizistisch noch eine große Enthüllung vor uns.

Wie sehr belastet Sie diese tragische Geschichte noch heute? 

Es ist ein Fall, der mich nicht los lässt. Als Journalisten haben wir auch die Pflicht unaufgeklärte Geschichten zu verfolgen und zu Ende zu recherchieren. Natürlich habe ich mich auch gefragt, ob ich etwas falsch gemacht habe. Wäre ich am Samstagabend in das Zimmer gegangen, hätte ich Barschel möglicherweise retten können. War es ein Suizid, so ist das eine ganz persönliche Entscheidung aus Gründen, die wir wohl nie erfahren werden.

Damals wollte Barschel – laut eigener Aussagen und Notizen – in Genf vermutlich mit einem Zeugen zusammentreffen, der möglicherweise Aufschluss darüber geben konnte, dass Barschel Opfer einer Intrige der übelsten Sorte geworden sei. Eine „raffiniert eingefädelte Intrige zwischen SPD, dem illoyalen, vom Springer-Verlag ausgeliehenen Mitarbeiter Rainer Pfeiffer und dem Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel“. Wäre so etwas überhaupt denkbar? Es hört sich abenteuerlich an. 

Nach neueren Erkenntnissen ist das weniger abenteuerlich als bisher vermutet. Ich verstehe nicht, warum die Staatsanwaltschaft bis heute nicht den bereits sehr gut recherchierten Spuren eines SPIEGEL-Informanten nachgeht. Es geht dabei um einen bislang unbeachteten „dritten Mann“, der bei der Ankunftsszene Barschels am 10. Oktober 1987 auf dem Flughafen Cointrin anwesend war und sogar zufällig fotografiert worden ist. (Anmerkung der Redaktion: Foto auf S. 269 der Dokumentation „Barschel – Die Akte“). Sollte es sich bei diesem Mann im Trenchcoat wirklich um den mutmaßlichen Ministerialdirigenten aus einem damals Bonner Bundesministerium handeln, das auch in den deutsch-deutschen Beziehungen eine wesentliche Rolle spielte, dann ist seine Anwesenheit in Genf aufklärungsbedürftig. Insbesondere, da der Sohn dieses Mannes offenbar in dem sogenannten Bremer Fälschermilieu, zu dem Barschel-Mitarbeiter Reiner Pfeiffer enge Kontakte hatte, bekannt ist.

Sollte sich die Identität des Dritten Mannes bestätigen, haben wir eine neue Situation im Kriminalfall Barschel. Dann könnten die letzten handschriftlichen Notizen des Uwe Barschel in Zimmer 317 über das Treffen mit dem mysteriösen Robert Ro(h)loff am Flughafen Genf doch der Wahrheit entsprechen. Mit einer persönlichen Einschätzung ob Suizid oder Mord halte ich mich zurück. Es kommt auf die belastbaren Beweise und Akten an, deshalb auch dieser Dokumenten-Band.

Für die Bürger dieses Landes wirkt ein solcher Skandal, wie es ihn um die Person Barschel gab, völlig abstrus. Dennoch passieren politische Skandale durchaus immer wieder. Ist das einer mangelnden Transparenz geschuldet, die wir hier in der BRD traditionsbedingt noch immer ziemlich ausschweifend pflegen?

Was ist ein politischer Skandal? Es geht immer um Macht, Einfluss und meistens um Geld, vor allem aber darum, die Öffentlichkeit über bestimmte Regelverstöße zu täuschen. Transparenz ist eben nicht gewünscht bei den Akteuren. Deshalb ist eine starke unabhängige Presse, die von den Verlegern entsprechend ausgestattet wird, für die Demokratie überlebenswichtig. Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat dem Thema „Skandale in Deutschland seit 1945“ eine ganze Ausstellung gewidmet. Danach bezeichnet das griechische „skándalom“ ein unter Spannung stehendes Stellhölzchen für eine Tierfalle. Die Spitzbuben müssen wissen, dass sie in die Falle gehen können. Der Barschel-Pfeiffer-Skandal hat sicher politisches Vertrauen dauerhaft beschädigt. Aber die heutigen Skandale um das Verhalten von Landes.- sowie Immobilienbanken und ihrer Manager in der Wirtschaftskrise oder die Korruptionsaffäre bei Siemens beschädigen ebenso das Gemeinwesen.

Es wird wohl nicht möglich sein, jemals zu erfahren, was damals zwischen SPD und CDU tatsächlich alles abgelaufen und passiert ist. Die Rolle des vom Springer-Verlag ausgeliehen Medien-Referenten Pfeiffer wirft allerdings ziemlich unbequeme Fragen auf. Wurden die damals überhaupt in ausreichendem Maße gestellt und zu welchen Konsequenzen kam es denn besonders auch in Hinblick auf die Rolle der Medien? 

Wie gehen Sie als Journalist mit einem Informanten um, der Ihnen ungeheuerliche Dinge erzählt? Sie prüfen die Quellen, versuchen weitere Quellen ausfindig zu machen, checken seine Angaben vorbehaltlos mit allen möglichen Mitteln. Im Fall Pfeiffer haben die SPIEGEL-Kollegen alles mögliche getan um in einer sehr frühen Phase unter hohem Zeitdruck seine Angaben zu überprüfen. Pfeiffer legte vor einem Notar Eidesstattliche Versicherungen zu seinem Behauptungen ab. Er hat auch ein stattliches Honorar bekommen, da seine berufliche Existenz als illoyaler Verräter am Ende war. Alles keine Garantie, dass seine Erzählungen stimmten. Aber der damalige SPIEGEL-Chefredakteur Erich Böhme entschied unter sorgfältiger professioneller Abwägung des Risikos: drucken. Ich denke zurecht.

In vielem wurde Pfeiffer bestätigt, in manchem widerlegt. Dass er selbst ein Mit-Täter der schmutzigen Tricks war und es unbekannte Verbindungen zur SPD gab, ist durch die Untersuchungsausschüsse belegt worden. Aber die politische Verantwortung in der Staatskanzlei lag letztendlich bei Barschel. Konsequenzen für die Medien: der Wettlauf um exklusive Informationen und Informanten ist härter geworden. Gutes journalistische Handwerk ist deshalb -mehr denn je- gefragt.

Damals, am 11. Oktober 1987, hat sich Ihr Leben völlig verändert? Sie wollten Barschel interviewen, stattdessen fanden Sie seine Leiche. Und sie fotografierten den toten Barschel. Jeder waschechte Journalist hätte es wohl getan. Man hat Ihnen die Fotos später allerdings im Sinne eines unethischen Verhaltens vorgeworfen. Obwohl Sie ja für die Veröffentlichung der Fotos selbst gar nicht zuständig waren? 

Es gab vor Drucklegung in der STERN-Redaktion natürlich heftige Debatten: darf man das oder nicht. Der damalige Chefredakteur Heiner Bremer hat schon angesichts der Falschmeldungen, dass Barschel sich erschossen habe, für eine Veröffentlichung aus Gründen der journalistischen Aufklärung entschieden. Es wäre heuchlerisch nicht auch zu sagen, dass damit der STERN gute Auflage machte, es wurde mit 1,8 Millionen der am besten verkaufte Titel. Dem Vorwurf unethischen Verhaltens muss ich mich stellen und habe auch Verständnis für die Kritik. Nur: was wüssten wir heute über die Abläufe am 10/11. Oktober in Genf, wenn nicht Journalisten recherchiert hätten? Zudem ist das Todesbild aus Zimmer 317 aus meiner Sicht das Dokument eines tragisch aus dem Leben geschiedenen Menschen und Politiker in friedlicher Position. Die später von der Familie herausgegebenen Fotos aus der Obduktionsakte sind viel schrecklicher. Ich hätte sie im Interesse der Familie sicher unter Verschluss gehalten.

In Ihrer Dokumentation führen Sie an erlebt zu haben, wie es sich anfühlt, selbst Opfer einer unfairen, diffamierenden und schlampig recherchierten Berichterstattung zu sein. Was genau ist vorgefallen? 

„Widerlich, abscheulich, kriminell, unmenschlich“, waren einige der Attribute, die ich auch in renommiertesten Wochenzeitungen über mich lesen musste. Trotz besseren Wissens aus den Ermittlungsakten wurde meine Rolle bei der Recherche im Hotel Beau Rivage von Kollegen bösartig verdreht. So lauteten die Vorwürfe, dass ich nicht rechtzeitig die Hotelleitung über die Entdeckung der Leiche informiert hätte, dass ich keine erste Hilfe geleistet hätte, dass ich den Telefonapparat in Zimmer 317 benutzt hätte und es den Ermittlern verschwiegen hätte. Am gravierendsten war der öffentlich geäußerte Vorwurf ich hätte die Lage der Leiche verändert und aus dem Wasser gezogen, um sie besser fotografieren zu können. Als Beweis wurden die nassen Haare Uwe Barschels angeführt. In den Ermittlungsakten steht, dass in den Lungen kein Wasser gefunden wurde, insofern war der Kopf zu keinem Zeitpunkt unter Wasser.

Sich presserechtlich gegen solche interressengeleiteten Falschaussagen zu verteidigen ist aufwendig und teuer. Deshalb war ich heilfroh mit Gruner +Jahr , in dem der STERN erscheint, eine großes, potentes Haus hinter mir zu haben, das meine rechtlichen Interessen wahr nahm.

Und welche heilsame Lektion haben Sie daraus gewonnen?

Presse hat eine große Macht. Damit ist sorgfältig umzugehen.

Ist Ihre Dokumentation „Barschel – Die Akte“ für Sie auch eine Form der weiteren Abarbeitung der Geschehnisse, die vermutlich extrem einschneidend waren?

Wenn das Buch einen Beitrag dazu leistet den Fall Barschel doch noch aufzuklären, wäre ich zufrieden.

Sie möchten damit auch die Menschen im Land erreichen, die fassungslos vor solchen Auswüchsen stehen, wie sie die Barschel-Affäre geboten hat? Sozusagen als Beweis dafür, dass zumindest alles getan wurde in Sachen Aufklärung, wenn die hinter der Tragödie stehende Geschichte schon eine glatte Zumutung ist? 

Aufklärung: ja – neue Verschwörungstheorien: nein.

+++++++++++++++

Barschel – Die Akte
Originaldokumente eines ungelösten Kriminalfalls
Sebastian Knauer

ca. 480 Seiten
15 x 23 cm, Broschur
ISBN: 978-3-936962-56-7
Euro 24,80 / SFr 40,00

Fotoquelle: Sebastian Knauer
Header-Foto: B & S Siebenhaar Verlag OHG

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Katja Kipping: „Ich streite schon über 15 Jahre für ein Grundeinkommen“

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Seit 2012 führt sie gemeinsam mit Bernd Riexinger die Partei DIE LINKE. Sie ist seit 2005 Mitglied des Bundestages, dort sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. Zwischen 2004 und 2008 war sie Mitbegründerin und Sprecherin beim bundesweiten Netzwerk Grundeinkommen. Katja Kipping publizierte u.a. zum Grundeinkommen. Im Februar 2016 erschien mit „Wer flüchtet schon freiwillig? Die Verantwortung des Westens oder warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss“ ihr Buch, das sich der Flüchtlingsthematik widmet.

Frau Kipping, das Thema „Bedingungsloses Grundeinkommen“ war in Politik und Medien lange Zeit nicht wirklich ein Thema. Nun kommt es mehr und mehr in Fahrt. Wie ist Ihre persönliche Haltung zu einem kleinen, aber garantierten monatlichen Einkommen für jedermann ohne Gegenleistung?

(Foto: Anke Illing, Photocultur)

(Foto: Anke Illing, Photocultur)

Ich streite schon über 15 Jahre für ein Grundeinkommen, das die Existenz und Teilhabe eines jeden Menschen individuell, ohne eine Bedürftigkeitsprüfung und ohne einen Zwang zur Arbeit oder Gegenleistung, sichert – und zwar in ausreichender Höhe, das also über 1000 Euro netto liegt.

Faktisch würde ein solches Grundeinkommen die Faktoren Arbeit und Einkommen voneinander trennen und damit den Zwang zur Arbeitsaufnahme aufheben. Ist die Umsetzung dieses Anspruchs in einer modernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht längst überfällig?

Das Grundeinkommen entkoppelt auf individueller Ebene die Erwerbsarbeit und die grundlegende Existenz- und Teilhabesicherung eines jeden Menschen. Der Wert des Menschen ist in seiner Würde begründet, nicht durch seinen Wert auf dem Arbeitsmarkt. Zwang zur Arbeit ist völkerrechts- und grundrechtswidrig. Mit dem Grundeinkommen werden Gewerkschaften und Individuen in ihrer Verhandlungsmacht gestärkt. Damit und mit ordentlichen Tarif- und Mindestlöhnen ist schlecht bezahlte Erwerbsarbeit Vergangenheit.

Statt existenziell unsicher, also prekär leben zu müssen, eröffnet das Grundeinkommen die Möglichkeit, kollektiv und individuell Arbeits- und Lebenszeit tatsächlich zu gestalten, Zeitsouveränität zu erlangen. Wie formulierte es André Gorz, dessen Geburtstag sich jüngst jährte? Statt fremdbestimmter Prekarität ermöglicht das Grundeinkommen selbstbestimmte Multiaktivität, also die Möglichkeit sich in vielfältige kulturelle, soziale und politische Bereiche einzubringen. Dazu gehören neben dem Grundeinkommen die Aneignung der Produktivmittel und die Ausweitung des öffentlichen Raumes für solidarische Kooperation – gegen die Vermarktlichung der Lebensräume und -zeiten.

Warum gibt es dennoch und insbesondere auf Seiten der Politik so viel Widerstand gegen ein BG?

Es gibt viele Politikerinnen und Politiker, die sich grundsätzlich für das Grundeinkommen aussprechen – wenn auch unterschiedliche Vorstellungen über die konkrete Ausgestaltung bestehen. Beachtet werden muss, dass das Grundeinkommen ein anderes Menschen- und Gesellschaftsbild erfordert. Dies muss – wie von allen Menschen – auch von Politikerinnen und Politikern erarbeitet werden.

Wie sieht es bei den Linken – also innerhalb Ihrer Partei – mit Widerstand gegen ein BG aus?

In der Partei DIE LINKE wird das Grundeinkommen genauso kontrovers diskutiert wie in der Gesellschaft. Ich sehe aber Fortschritte. Nach der anregenden Diskussion auf dem letzten Bundesparteitag in Bielefeld ist das Interesse gestiegen.

Viele Politiker und Politikerinnen Ihrer Partei engagieren sich in gewerkschaftlichen Bereichen. Gerade hier aber gibt es noch viel Ablehnung?

In den Gewerkschaften wird das Grundeinkommen natürlich auch kontrovers diskutiert. Bemerkenswert ist die hohe Zustimmung an der Basis der Gewerkschaften, siehe die IG-Metall-Umfrage oder die Anträge zum Grundeinkommen von der Hälfte aller ver.di-Landesbezirke auf dem letzten Bundeskongress (mehr dazu auf grundeinkommen.de). Sehr interessant ist auch die Initiative Gewerkschafterdialog Grundeinkommen.

Wie kommt es, dass sich viele Volksvertreter so schwer tun, die drastisch veränderte Arbeitswelt wahrzunehmen und umzusteuern? Wir halten beispielsweise trotz massiver Rationalisierungen vehement an einem 8-Stunden-Tagen fest und sehen Zeitersparnis nicht als Fortschritt, der auch an Arbeitnehmer weitergegeben wird.

Konservative und marktliberale Politikerinnen und Politiker verstehen nicht, dass die Ökonomie für den Menschen da ist, und nicht umgekehrt. Es geht eigentlich um eine menschenwürdige und vernünftige Organisation der gesamten notwendigen Arbeit – dazu gehört auch die unbezahlte Sorgearbeit. Wie viel Zeit mehr könnten wir für diese Arbeit oder für die Muße verwenden, wenn wir überflüssige, sinnlose, sogar schädliche Produktion unterlassen würden.

Anstatt authentisch zu sein und Lösungen wie etwa ein BG zur Einkommenssicherung der Bürger in einer veränderten und digitalisierten Arbeitswelt zu erarbeiten, halten viele Politiker am umstrittenen Bürokratiemonster Hartz IV fest. Kann eine derart rückwärtsgewandte Haltung künftig noch zu Wahlsiegen führen?

Kann sie. Und zwar so lange die Bürgerinnen und Bürger nicht mehrheitlich erkennen, dass Hartz IV alle angeht, für alle eine Bedrohung darstellt: Seht her, so geht es euch, wenn ihr unser Spiel nicht mitspielt. Erich Fromm, ein weiterer Streiter für das Grundeinkommen, schrieb: Es gibt zwei Formen menschlicher Gewaltandrohung – die Androhung direkter physischer Gewalt oder die Androhung des Entzugs der lebensnotwendigen Existenzmittel. Hartz IV ist Gewalt gegen Menschen – um Menschen gefügig zu machen für die Kapitalverwertungsmaschine, die immer neue Gebiete für Profitmacherei kolonialisiert.

Wenn wir einmal viel größer denken, etwa in Hinblick auf weltweite Verteilungsdefizite, so könnte ein grenzüberschreitender Anspruch auf ein BG weltweit die Lebensverhältnisse verbessern, Konflikte befrieden und damit u.a. auch Fluchtursachen bekämpfen. Fließen solche Aspekte in politischen Diskussionen überhaupt ausreichend und parteiübergreifend ein?

Es gibt seit Jahren die Diskussion um das Thema globale soziale Rechte. Das Grundeinkommen ist ein globales soziales Recht, wie das Recht auf Freizügigkeit, auf Bildung, Gesundheitsversorgung usw. Progressive Grundeinkommensbefürworterinnen und -befürworter verstehen das Grundeinkommen als Menschenrecht, das jedem Menschen an seinem Lebensort zusteht. Der Netzwerkrat des Netzwerk Grundeinkommen, die Attac Arbeitsgruppe Genug für alle und die Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und bei der Partei DIE LINKE, um nur einige zu nennen, haben dazu eine klare, begrüßenswerte Position – die auch vor dem Hintergrund der Bekämpfung von Fluchtursachen zu beachten ist.

In meinem eben erschienen Buch „Wer flüchtet schon freiwillig?“ bin ich auf die Problematik eingegangen. Klar muss auch sein: Es muss die imperiale Ökonomie des globalen Nordens in eine solidarische Ökonomie für alle Menschen der Welt gewandelt werden – nur so können sehr viele Ursachen für eine unfreiwillige Migration beseitigt werden. Das Grundeinkommen als globales soziales Recht gehört zu diesem umfassenden Ansatz.

Noch bleibt der Gedanke eines grenzüberschreitenden Grundeinkommens Zukunftsmusik. Für wie wahrscheinlich halten Sie die Umsetzung eines BGs hierzulande und zwar innerhalb eines Zeitrahmens von etwa zwei Legislaturperioden?

Das Grundeinkommen wir dann eingeführt, wenn die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dies wollen. Sie sind der Souverän.

Und welchen Rat geben Sie Zweiflern und Zauderern, die in einem BG – und damit dem wohl größten zivilisatorischer Fortschritt – noch immer ein ideologisches Feindbild sehen?

Ich glaube weniger an Feindbilder, die hinter einer Ablehnung stehen. Mal abgesehen von den Menschen, die meinen, Menschen mit Gewalt nötigen zu müssen, damit sie funktionieren, wie sie es gern hätten. Ich möchte auch keinen Rat geben, sondern einfach anregen, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der die freie Entwicklung eines jeden einzelnen Menschen die Bedingung für die freie Entwicklung aller Menschen ist. Dieser sehr schöne Satz von Karl Marx regt an, über eine solidarische Welt nachzudenken, die keine Gewalt gegenüber Menschen kennt. Da kommt man sicher auch auf die Idee des Grundeinkommens.

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Grundeinkommen wird spätestens 2021 wahlentscheidendes Thema

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Das Netzwerk will dazu beitragen, das Grundeinkommen in Deutschland und in anderen Ländern einzuführen. Mit mehr als 4.000 persönlichen Mitgliedern und über 100 Mitgliedsorganisationen – darunter BDKJ, KAB, AWO-Jugend mit jeweils mehr als 100.000 Mitgliedern – ist es die weltweit größte Grundeinkommensorganisation. Das Netzwerk ist die deutsche Vertretung des weltweiten Basic Income Earth Network (BIEN) und Mitglied im europäischen Netzwerk Unconditional Basic Income Europe (UBIE). Zusammen mit den österreichischen und schweizerischen Grundeinkommensnetzwerken hat es bereits drei deutschsprachige Kongresse veranstaltet und organisierte 2012 in München den im zweijährigen Intervall stattfindenden BIEN-Kongress, an dem 450 Wissenschaftler, Politiker und Aktivisten aus aller Welt teilnahmen.

Herr Acker, Sie sind gewähltes Ratsmitglied des Netzwerks Grundeinkommen. Seit wann engagieren Sie sich für dieses Thema und mit welchem Erfolg?

Reimund Acker, Netzwerk Grundeinkommen

Reimund Acker, Netzwerk Grundeinkommen

Seit 2008 arbeite ich hauptehrenamtlich im Netzwerkrat, einer Art Bundesvorstand des Netzwerks. Damals konnten nur einige Experten mit dem Begriff „Grundeinkommen“ etwas anfangen. Inzwischen ist das Grundeinkommen schon so bekannt, dass es in den Medien oft ohne Erläuterung verwendet wird. Diese Bekanntheit verdankt das Grundeinkommen in Deutschland neben wichtigen Akteuren wie Götz Werner, Susanne Wiest und Michael Bohmeyer vor allem auch der Arbeit des Netzwerks, das im Herbst bereits 12 Jahre alt wird.

Die Parteien nähern sich trotz wachsender Befürwortung auch durch namhafte Experten dem Thema Grundeinkommen weiterhin sehr zögerlich. Worin liegen die Ursachen und wie ist der derzeitige Status bei den Parteien?

In linken Kreisen hatte das Grundeinkommen einen schlechten Start, weil es früher verdächtigt wurde, ein neoliberales Konzept zu sein. Inzwischen hat sich aber herumgesprochen, dass diese Annahme für ein partielles Grundeinkommen zutreffen würde – also allenfalls bei einem BGE, das zu niedrig ist, um davon leben zu können.

Die Grünen hatten das Grundeinkommen in den 80er Jahren noch im Repertoire. Ich habe es z.B. dort kennengelernt. Es ist dann auf dem Weg zur Macht vorübergehend verloren gegangen. Die Sozialdemokraten haben Angst, dass ihr goldenes Kalb „Arbeit“ durch das Grundeinkommen Schaden nimmt. Als würde der Wert der Arbeit größer, wenn sie erzwungen wird! Altgediente Grüne und Sozis zeigen zudem oft eine gewisse Loyalität zu ihren Hartz-Gesetzen: „Wir haben es doch nur gut gemeint“.

Bei den Konservativen scheint das Grundeinkommen einem Skiunfall zum Opfer gefallen zu sein. Den erlitt weiland Dieter Althaus, ehemaliger Ministerpräsident von Thüringen, der ein eigenes Grundeinkommensmodell entworfen hat und von der Konrad-Adenauer-Stiftung prüfen ließ, um es dann seiner Partei zur Aufnahme ins Programm anzudienen. Althaus verschwand damals von der politischen Bühne und mit ihm sein Projekt.

Das bisher tragischste Schicksal erlitt das Grundeinkommen aber in der Partei, die die Freiheit im Namen trägt. Geht es doch beim BGE in erster Linie um Freiheit und nicht etwa um Geld vom Staat: das gibt es ja auch heute schon. Die heute nur noch Neoliberalen wollten mit ihrem so genannten „Bürgergeld“ auf den BGE-Zug aufspringen, das jedoch eine Art „Hartz V“ war. Daran konnte auch der große Liberale Ralf Dahrendorf nichts ändern, der anlässlich einer Jubiläumsfeier der Friedrich-Naumann-Stiftung seinen dort versammelten Parteifreunden samt der kompletten FDP-Führungsriege ins Stammbuch schrieb, dass das Grundeinkommen – und nicht ihr albernes Bürgergeld – auf jede liberale Agenda gehört. Alle haben brav geklatscht.

Bei so viel Diskussion in praktisch allen maßgeblichen Parteien müsste sich aber doch langsam etwas mehr bewegen?

Inzwischen gibt es in der Linkspartei und den Grünen immerhin starke Minderheiten für das Grundeinkommen. Die Piraten haben es als einzige nicht ganz kleine Partei sogar im Programm stehen. Alle drei Parteien haben in ihren letzten Bundestagswahlprogrammen jeweils die Einrichtung einer Enquete-Kommission zum Grundeinkommen versprochen. Leider haben die Grünen inzwischen einen Rückzieher gemacht. Die öffentliche Zurückhaltung von Politikern beim Thema Grundeinkommen spiegelt nicht unbedingt die wahren Mehrheitsverhältnisse unter ihnen wider, solange die Befürwortung des Grundeinkommens ihrer Karriere schaden könnte.

Im Wesen geht es beim BGE um eine Trennung von Arbeit und Einkommen. Das Grundeinkommen kann damit u. a. auch die Position der Arbeitnehmer deutlich stärken. Ist das nicht lange überfällig im 21. Jahrhundert?

Ja, wobei die Trennung von Arbeit und Einkommen auf das Existenzminimum begrenzt wird. Es besteht also weiterhin ein Anreiz zur Erwerbsarbeit, sogar stärker als bei Hartz IV. Die Möglichkeit durch ein Grundeinkommen eher auch einmal Nein zu einem Jobangebot zu sagen, dürfte zu einem Machtzuwachs der Arbeitnehmer führen, verstärkt durch gewerkschaftliche Organisation. Eine sehr wichtige Wirkung des Grundeinkommens sehe ich auch in der Schwächung des durch das Arbeitsplatzargument gegebenen Erpressungspotentials. Heute braucht doch nur jemand „Arbeitsplätze“ zu rufen, schon sind alle guten Vorsätze vergessen. In dem Maße, in dem durch das Grundeinkommen Existenzängste abnehmen würden, wären die Arbeitnehmer, die Politiker und letztlich die gesamte Gesellschaft weniger erpressbar.

Teile der Wirtschaft befürchten einen eklatanten Wettbewerbsnachteil. Ist diese Sorge aus Ihrer Sicht berechtigt?

Nein, im Gegenteil. Ich glaube, dass jedes Land durch die Einführung des Grundeinkommens im Wettbewerb mit anderen Ländern eher besser dastehen würde. Allerdings hängt die Wirkung auch vom gewählten Finanzierungskonzept für das BGE ab. Wenn durch das Grundeinkommen Menschen besser in der Lage wären, beruflich ihren Neigungen und Fähigkeiten zu folgen, wäre nicht wie heute jeder Dritte Arbeitnehmer unzufrieden mit seinem Arbeitsplatz. Wenn ein Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz besetzt, den er hasst, kann der andere, der ihn lieben würde, ihn nicht bekommen. Was für eine Verschwendung von Talenten und Lebenszeit!

Wäre es nicht auch wesentlich effizienter, wenn Menschen einen Job ausführen, den sie mögen, anstatt prekär zu arbeiten, um überhaupt wirtschaftlich überleben zu können?

Natürlich wäre es effizienter, wenn Menschen arbeiten würden, weil sie es wollen, anstatt es zu müssen: Bessere Qualität, weniger Ausschuss, mehr Engagement zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und betrieblichen Abläufe, weniger Krankheit. Eine motivierte Belegschaft ist unbezahlbar. Denkbar wäre, dass viele Arbeitnehmer sich mit weniger Lohn zufrieden gäben, solange sie durch das Grundeinkommen unter dem Strich mehr Geld in der Tasche hätten.
Andererseits wollen einige BGE-Modelle weiteres Lohndumping in Deutschland verhindern, indem sie an einem gesetzlichen Mindestlohn trotz Grundeinkommen festhalten.

Welche weiteren wirtschaftlichen Vorteile können sich aus einem mit Vernunft angelegten BGE ergeben?

In jedem Fall kann das Grundeinkommen zu Einsparungen bei der Renten- und der Arbeitslosenversicherung führen, weil nur noch die Differenz zwischen dem bisherigen Leistungsniveau und dem Grundeinkommen versichert werden muss. Wer also ein Alterseinkommen möchte, das 500 Euro über dem Grundeinkommen liegt, muss nur Beiträge für eine Rente von 500 Euro zahlen, da er das Grundeinkommen ja ohne Beitragszahlungen bekommt. Aber durch das BGE sind noch weitere Vorteile für die Wirtschaft zu erwarten, die ebenfalls zu Wettbewerbsvorteilen führen würden. So dürfte es zu mehr Innovationen und Unternehmensgründungen kommen, da das Grundeinkommen zinsloses und nicht rückzahlbares Risikokapital darstellt. Viele Geschäftsideen, Forschungs- und Entwicklungsvorhaben oder Kunstprojekte scheitern ja bereits in der Planungsphase daran, dass sie nicht sofort die Miete einspielen. Wer dagegen durch das BGE seine Miete und Lebenshaltung gesichert weiß, kann seine Ideen in Ruhe entwickeln, testen und realisieren.

Wir rationalisieren immer weiter, bleiben aber gleichzeitig an alten Strukturen wie etwa dem 8-Stunden-Arbeitstag hängen, den es schon vor 100 Jahren gab. Welche Bedeutung kann ein BGE in Hinblick auf die Erwerbseinkommen in unseren modernen Zeiten haben?

Unternehmer dürften im Grundeinkommen den Vorteil sehen, dass sie nicht mehr die ungeliebte Arbeitgeberrolle erfüllen müssten, sondern sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren könnten: Güter und Dienste möglichst effizient zu produzieren, also mit minimalem Ressourceneinsatz. Und menschliche Lebenszeit ist eine kostbare Ressource. Götz Werner wird nicht müde zu betonen, dass niemand ein Unternehmen gründet, um Arbeitsplätze zu schaffen. Das Grundeinkommen könnte also auch dazu führen, dass Sozialpolitik wieder von jenen gemacht wird, die wir dafür wählen, und Unternehmer sich nicht entschuldigen müssen, wenn sie Arbeitsplätze einsparen.

Durch das Grundeinkommen nimmt die Bedeutung von Erwerbsarbeit ab. Ich hoffe, dass es uns dadurch gelingt, vom pervertierten Begriff der Arbeit als Selbstzweck und Einkommensquelle zur ursprünglichen Bedeutung von Arbeit zurückzufinden: Der Aufwand von Mühe, um Notwendiges oder Sinnvolles zu bewirken. Dann werden wir es wieder als Fortschritt ansehen können, wenn es gelingt, das Gleiche mit weniger Arbeit zu produzieren: Maschinen nehmen uns die Arbeit weg? Endlich!

Die Wirtschaft wäre gezwungen, prekäre Jobs deutlich attraktiver zu gestalten. Ein Anspruch, der zu mehr Einkommensgerechtigkeit und damit zu einem gesamtgesellschaftlichen Mehrwert führt?

Ja, wenn Arbeitssuchende nicht mehr jeden Job akzeptierten, müssten Arbeitgeber sich überlegen, wie sie jemanden überzeugen können, für sie zu arbeiten; insbesondere wenn die angebotene Tätigkeit selbst eher unbeliebt ist, z. B. sogenannte „Dreckarbeit“. Damit auch solche Arbeit erledigt wird, gibt es genau vier Möglichkeiten: Zwang, Automatisierung, bessere Bezahlung oder Selbermachen. Wenn durch das BGE die Option Zwang wegfällt, bleiben die übrigen drei. Zweifellos werde ich meinen Arbeitslohn als gerechter empfinden, wenn ich ihn frei ausgehandelt habe, ohne die Drohung einer Arbeitsagentur im Nacken, mir die Leistungen zu kürzen. Das heißt aber nicht, dass so entstehende Einkommen auch gesamtgesellschaftlich als gerecht angesehen werden können. Es bleibt ja die skandalös extreme Ungleichheit von Einkommen und Vermögen. Daran kann auch das Grundeinkommen erst mal nicht viel ändern.

Könnte das BGE auch dazu beitragen, die Schere zwischen Arm und Reich zumindest etwas abzumildern?

Das Grundeinkommen ist von sich aus zunächst mal kein Instrument zur Umverteilung, auch wenn es durch geeignete Finanzierung dazu werden kann. Dann verstärkt es den Umverteilungseffekt sogar dadurch, dass es nicht nur auf der Einnahmenseite (Steuern), sondern auch auf der Ausgabenseite (BGE) wirkt. Indirekt könnte eine weniger eingeschüchterte Gesellschaft politisch natürlich mehr Verteilungsgerechtigkeit durchsetzen. Dazu müsste allerdings auch im Bildungsbereich etwas geschehen. Das Grundeinkommen ist eben kein Allheilmittel: Es löst nicht alle Probleme, erleichtert aber oft deren Lösung.

Stichwort Bürokratieabbau: Bei der Zahlung eines allgemeinen BGE könnten unzählige Sozialleistungen inklusive aufwändiger Antragsstellungen und Bedürftigkeitsprüfungen wegfallen. Gibt es im öffentlichen Sektor Ängste vor dem Arbeitsplatzabbau?

Sicher gibt es bei den Beschäftigten im sozialen Bereich Befürchtungen, das Grundeinkommen könne ihren Arbeitsplatz überflüssig machen. Andererseits sind viele unserer Mitglieder in diesem Bereich beschäftigt, kennen die Probleme des jetzigen Systems und wissen daher um die Notwendigkeit eines Systemwechsels. Soweit diese Arbeitsplätze mit der Berechnung und Auszahlung von Leistungen zu tun haben, werden sie nicht erst durch das BGE verschwinden, sondern bereits durch die auf uns zu rollende gigantische Automatisierungswelle. Andererseits werden wir uns Schuldnerberatung, Jugendhilfe, Arbeitsvermittlung etc. auch nach Einführung des Grundeinkommens leisten. Und wer beispielsweise heute seine Brötchen mit Nachforschungen über verheimlichte Einnahmen von Leistungsempfängern verdient, könnte künftig gewinnbringender in der chronisch unterbesetzten Steuerfahndung eingesetzt werden. Die Zeit für die nötige Umschulung wäre jedenfalls vorhanden, da niemand das Grundeinkommen über Nacht in voller
Schönheit einführen will, sondern von einer längeren Übergangsphase auszugehen ist.

Kommen wir einmal zu den Gewerkschaften, die sich hinsichtlich eines bedingungslosen Grundeinkommens sträuben bzw. sogar vehement dagegen aussprechen. Was könnten die Gründe sein?

In den Gewerkschaften scheint die Zustimmung zum Grundeinkommen – wie in den Parteien – an der Spitze geringer zu sein als an der Basis. Auch hier vermute ich als Grund die Angst, das Grundeinkommen könne den Wert der Arbeit beschädigen (was immer das genau bedeuten mag). Andererseits findet zum Grundeinkommen seit einiger Zeit ein Umdenken in den Gewerkschaften statt. So gibt es inzwischen Beschlüsse bei Verdi und der IG Metall, das Grundeinkommen zu diskutieren. BGE-freundliche Gewerkschafter betreiben eine eigene Website zum Grundeinkommen. Insgesamt aber kann ich die Widerstände in den Gewerkschaften gegen das Grundeinkommen nicht recht nachvollziehen. Hat sich denn dort noch niemand überlegt, was das BGE allein für die Streikkasse bedeuten würde?

Wie groß schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Deutschland in absehbarer Zeit – also innerhalb weniger Jahre – ein Grundeinkommen einführt?

Bei der letzten Bundestagswahl war das Grundeinkommen zum ersten Mal Thema, was sich z. B. daran zeigt, dass ihm erstmals eine Frage des Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung gewidmet war. Bei der nächsten Bundestagswahl wird das Grundeinkommen ein wichtiges Thema sein. Dafür wird das Netzwerk Grundeinkommen mitsorgen, und ich erhoffe mir von der Volksabstimmung über das Grundeinkommen im Juni in der Schweiz und den dadurch ausgelösten Debatten erheblichen Rückenwind für unsere Arbeit. Spätestens bei der übernächsten Bundestagswahl wird das Grundeinkommen ein wahlentscheidendes Thema sein und ab da können wir jederzeit mit einer Mehrheit im Bundestag für das Grundeinkommen rechnen.

Welche Kriterien müssten erfüllt werden, damit es in diesem Bereich maßgeblich vorangeht?

Ich denke dazu brauchen wir vor allem eine seriöse, überparteiliche und flächendeckende Organisation mit guter Medienpräsenz, die das Thema Grundeinkommen beharrlich und mit zunehmender Intensität unter die Leute bringt. Und ich hoffe es gelingt uns, das Netzwerk zu einer solchen Organisation auszubauen. Bereits heute ist es mit mehr als 4.000 Mitgliedern die weltweit größte Grundeinkommensorganisation.

Ferner müssen wir verhindern, dass das Grundeinkommen in der öffentlichen Wahrnehmung mit einer bestimmten politischen Partei identifiziert wird. Dann geriete es zum Spielball von Parteipolitik und das wäre vermutlich das Ende der Mehrheitsfähigkeit der Idee. Das ist in den USA z. B. mit dem Thema Klimawandel passiert, den inzwischen viele konservative Wähler dort für einen Trick der Demokraten halten, um ihnen ihre politischen Ziele unterzujubeln. Deshalb ist es günstiger, wenn sich die Unterstützung des Grundeinkommens in möglichst vielen Parteien zugleich ausbreitet.

Wichtig für die weitere Ausbreitung der Grundeinkommensidee ist schließlich, dass es nicht zu einer starken Gegenwehr der Wirtschaft kommt. Leider ist ja der Zustand unseres demokratischen Systems heute derart miserabel, dass die Wirtschaft ihren Willen ohne weiteres gegen den Willen des Volkes durchsetzen kann. Deshalb ist es so wichtig, dass Persönlichkeiten aus der Wirtschaft wie Götz Werner oder neuerdings der Telekom-Chef sich für das Grundeinkommen aussprechen. Denn dann besteht Hoffnung, dass eine möglicherweise entstehende Ablehnungsfront gegen das BGE in der Wirtschaft zumindest geschwächt wäre. Aber vielleicht findet ja auch ein Umdenken bei den Wirtschaftslenkern statt, ähnlich wie bei den Gewerkschaften.

Rückblick: 14. Kongress des Basic Income Earth Network:

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Götz Werner (dm): Grundeinkommen ist eine Frage des Menschenbildes

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„Es geht darum, dass der Einzelne bescheiden, aber menschenwürdig im Sinne des Artikels 1 unserer Verfassung leben kann. Damit ist alles erklärt. Dass die Verfassungsrechtler Hartz IV zulassen, ist ein Beweis dafür, dass sie ihre eigene Verfassung nicht anerkennen. Oder ihr begrifflich noch nicht gewachsen sind.“

*Zitat Götz W. Werner

Herr Werner, Diskussionen um die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens gibt es schon lange. Können Sie einmal zusammenfassen, welche Vorteile Sie darin sehen?

dm-Gründer Götz W. Werner (Bildquelle: dm/Alex Stiebritz)

dm-Gründer Götz W. Werner
(Bildquelle: dm/Alex Stiebritz)

Prof. Götz W. Werner: „Wesentlich ist, dass wir Arbeit und Einkommen voneinander trennen würden. Wir erliegen heute immer noch dem Irrtum, dass Einkommen die Bezahlung für Arbeit ist. Wenn wir aber genau hinschauen, müssen wir erkennen, dass ein Einkommen die Ermöglichung von Arbeit ist. Wir alle brauchen in unserer heutigen, fremdversorgten Welt ein Einkommen, um leben zu können. Erst dann können wir für andere tätig werden.“

Gegner des BGE werfen gerne die mangelnde Finanzierung in die Waagschale. Mit welchen Argumenten kontern Sie?

Werner: „Dass wir nicht vom Geld leben, sondern von den Gütern und Dienstleistungen, die wir hervorbringen. Und es kann niemand ernsthaft bezweifeln, dass wir im Überfluss an materiellen Gütern leben.

Wir waren noch nie so reich wie heute. Geld ist ein probates Hilfsmittel aber davon kann doch niemand leben. Schon der bekannte Ökonom Oswald von Nell-Breuning sagte: ‚Alles, was sich güterwirtschaftlich erstellen lässt, das lässt sich auch finanzieren – vorausgesetzt, wir haben den ehrlichen Willen dazu’. Die Frage ist, ob wir es finanzieren wollen; wenn ja, dann finden wir auch Wege.“

Als Unternehmer stehen Sie mit Ihrer Überzeugung zum BGE noch recht allein in der deutschen Wirtschaftslandschaft. Worin liegen die Gründe, dass bisher nicht viele Unternehmer mitziehen?

Werner: „Viele Unternehmer, mit denen ich spreche, wissen, dass Menschen arbeiten wollen und erkennen an, dass sie in der heutigen Gesellschaft zunächst ein Einkommen brauchen.“

Politiker melden immer wieder große Bedenken an. So auch Kanzlerin Angela Merkel, die vor der letzten Bundestagswahl im Rahmen eines Bürgerforums die Frage stellte, wer dann noch zusätzlich arbeiten wolle. Wird das Prinzip BGE nicht richtig verstanden?

Werner: Es ist eine Frage des Menschenbildes. Wenn ich Menschen frage, ob sie noch arbeiten würden, sagen alle: ‚Ja, aber die anderen nicht.’ Wenn wir von ‚den Anderen’ sprechen, meinen wir, wir müssten denen ‚die Hammelbeine langziehen’ oder ‚sie auf Trab bringen’. Merken Sie das? Wir haben zwei Menschenbilder: ein edles von uns und ein tierisches von unseren Mitmenschen. Davon sollten wir uns lösen.“

Die Kanzlerin verwies damals auf die bereits bestehende Grundsicherung, womit das sog. Hartz IV-System gemeint ist. Abgesehen davon, dass es sich hier nicht um ein bedingungsloses Einkommen handelt – wie denken Sie über die vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder (SPD) eingeführte Arbeitsmarktreform?

Werner: „Dass wir Hartz IV zulassen, ist ein Skandal. Eigentlich müsste ein Aufschrei durch die Gesellschaft gehen: Wie kann es sein, dass wir zulassen, dass ein Teil unserer Mitbürger ausgegrenzt und stigmatisiert wird? Die Verhältnisse müssen doch so sein, dass jeder eine Lebensperspektive hat.“

Das BGE würde Abhängigkeiten und staatliche Überwachung zurückdrängen, andererseits auch die Position von Arbeitnehmern stärken. Ist das eventuell der Grund der starken Abwehrhaltung?

Werner: „Unsere Gesellschaft würde sich verändern: Vom Sollen zum Wollen. Die Menschen würden sich fragen, ob es Sinn macht, was sie tun. Das ist für einige Unternehmen eine große Herausforderung. Die Verantwortlichen müssen Rahmenbedingungen schaffen, so dass die Menschen sagen, das macht Sinn, hier steige ich ein und bringe meine Talente und Fähigkeiten zur Wirkung.“

Trauen Sie der derzeitigen Regierung zu, das BGE in absehbarer Zeit einzuführen, oder bedarf es einer ganz neuen Politikergeneration, um so etwas durchzusetzen?

Werner: „Wir erwarten zu viel von unseren Politikern, die weniger Macht haben, als wir meinen. Wir haben uns an eine Opferrolle gewöhnt und schimpfen darüber. Dabei ist es doch offensichtlich, dass viele Politiker wie Segler sind. Sie spüren, wenn der Wind sich dreht, dann ändern sie den Kurs. Aber der Wind muss aus der Gesellschaft wehen.“

Was wünschen Sie sich für Ihren persönlichen „Kampf“ um die Einführung eines BGEs und wie optimistisch sind Sie, dass sich dieser Wunsch auch tatsächlich erfüllt?

Werner: „Mit Wünschen ist das so eine Sache. Als Unternehmer bin ich grundsätzlich optimistisch und ich beobachte, dass immer mehr Menschen die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, zu ihrer persönlichen ergebnisoffenen Forschungsfrage machen. Das bringt uns voran.“

Mehr Gerechtigkeit durch Grundeinkommen:

Verweis: Schwerpunktthema Bedingungsloses Grundeinkommen –
alle Beiträge auf einen Blick

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Katja Kipping: „Ich streite schon über 15 Jahre für ein Grundeinkommen“

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Seit 2012 führt sie gemeinsam mit Bernd Riexinger die Partei DIE LINKE. Sie ist seit 2005 Mitglied des Bundestages, dort sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. Zwischen 2004 und 2008 war sie Mitbegründerin und Sprecherin beim bundesweiten Netzwerk Grundeinkommen. Katja Kipping publizierte u.a. zum Grundeinkommen. Im Februar 2016 erschien mit „Wer flüchtet schon freiwillig? Die Verantwortung des Westens oder warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss“ ihr Buch, das sich der Flüchtlingsthematik widmet.

Frau Kipping, das Thema „Bedingungsloses Grundeinkommen“ war in Politik und Medien lange Zeit nicht wirklich ein Thema. Nun kommt es mehr und mehr in Fahrt. Wie ist Ihre persönliche Haltung zu einem kleinen, aber garantierten monatlichen Einkommen für jedermann ohne Gegenleistung?

(Foto: Anke Illing, Photocultur)

(Foto: Anke Illing, Photocultur)

Ich streite schon über 15 Jahre für ein Grundeinkommen, das die Existenz und Teilhabe eines jeden Menschen individuell, ohne eine Bedürftigkeitsprüfung und ohne einen Zwang zur Arbeit oder Gegenleistung, sichert – und zwar in ausreichender Höhe, das also über 1000 Euro netto liegt.

Faktisch würde ein solches Grundeinkommen die Faktoren Arbeit und Einkommen voneinander trennen und damit den Zwang zur Arbeitsaufnahme aufheben. Ist die Umsetzung dieses Anspruchs in einer modernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht längst überfällig?

Das Grundeinkommen entkoppelt auf individueller Ebene die Erwerbsarbeit und die grundlegende Existenz- und Teilhabesicherung eines jeden Menschen. Der Wert des Menschen ist in seiner Würde begründet, nicht durch seinen Wert auf dem Arbeitsmarkt. Zwang zur Arbeit ist völkerrechts- und grundrechtswidrig. Mit dem Grundeinkommen werden Gewerkschaften und Individuen in ihrer Verhandlungsmacht gestärkt. Damit und mit ordentlichen Tarif- und Mindestlöhnen ist schlecht bezahlte Erwerbsarbeit Vergangenheit.

Statt existenziell unsicher, also prekär leben zu müssen, eröffnet das Grundeinkommen die Möglichkeit, kollektiv und individuell Arbeits- und Lebenszeit tatsächlich zu gestalten, Zeitsouveränität zu erlangen. Wie formulierte es André Gorz, dessen Geburtstag sich jüngst jährte? Statt fremdbestimmter Prekarität ermöglicht das Grundeinkommen selbstbestimmte Multiaktivität, also die Möglichkeit sich in vielfältige kulturelle, soziale und politische Bereiche einzubringen. Dazu gehören neben dem Grundeinkommen die Aneignung der Produktivmittel und die Ausweitung des öffentlichen Raumes für solidarische Kooperation – gegen die Vermarktlichung der Lebensräume und -zeiten.

Warum gibt es dennoch und insbesondere auf Seiten der Politik so viel Widerstand gegen ein BG?

Es gibt viele Politikerinnen und Politiker, die sich grundsätzlich für das Grundeinkommen aussprechen – wenn auch unterschiedliche Vorstellungen über die konkrete Ausgestaltung bestehen. Beachtet werden muss, dass das Grundeinkommen ein anderes Menschen- und Gesellschaftsbild erfordert. Dies muss – wie von allen Menschen – auch von Politikerinnen und Politikern erarbeitet werden.

Wie sieht es bei den Linken – also innerhalb Ihrer Partei – mit Widerstand gegen ein BG aus?

In der Partei DIE LINKE wird das Grundeinkommen genauso kontrovers diskutiert wie in der Gesellschaft. Ich sehe aber Fortschritte. Nach der anregenden Diskussion auf dem letzten Bundesparteitag in Bielefeld ist das Interesse gestiegen.

Viele Politiker und Politikerinnen Ihrer Partei engagieren sich in gewerkschaftlichen Bereichen. Gerade hier aber gibt es noch viel Ablehnung?

In den Gewerkschaften wird das Grundeinkommen natürlich auch kontrovers diskutiert. Bemerkenswert ist die hohe Zustimmung an der Basis der Gewerkschaften, siehe die IG-Metall-Umfrage oder die Anträge zum Grundeinkommen von der Hälfte aller ver.di-Landesbezirke auf dem letzten Bundeskongress (mehr dazu auf grundeinkommen.de). Sehr interessant ist auch die Initiative Gewerkschafterdialog Grundeinkommen.

Wie kommt es, dass sich viele Volksvertreter so schwer tun, die drastisch veränderte Arbeitswelt wahrzunehmen und umzusteuern? Wir halten beispielsweise trotz massiver Rationalisierungen vehement an einem 8-Stunden-Tagen fest und sehen Zeitersparnis nicht als Fortschritt, der auch an Arbeitnehmer weitergegeben wird.

Konservative und marktliberale Politikerinnen und Politiker verstehen nicht, dass die Ökonomie für den Menschen da ist, und nicht umgekehrt. Es geht eigentlich um eine menschenwürdige und vernünftige Organisation der gesamten notwendigen Arbeit – dazu gehört auch die unbezahlte Sorgearbeit. Wie viel Zeit mehr könnten wir für diese Arbeit oder für die Muße verwenden, wenn wir überflüssige, sinnlose, sogar schädliche Produktion unterlassen würden.

Anstatt authentisch zu sein und Lösungen wie etwa ein BG zur Einkommenssicherung der Bürger in einer veränderten und digitalisierten Arbeitswelt zu erarbeiten, halten viele Politiker am umstrittenen Bürokratiemonster Hartz IV fest. Kann eine derart rückwärtsgewandte Haltung künftig noch zu Wahlsiegen führen?

Kann sie. Und zwar so lange die Bürgerinnen und Bürger nicht mehrheitlich erkennen, dass Hartz IV alle angeht, für alle eine Bedrohung darstellt: Seht her, so geht es euch, wenn ihr unser Spiel nicht mitspielt. Erich Fromm, ein weiterer Streiter für das Grundeinkommen, schrieb: Es gibt zwei Formen menschlicher Gewaltandrohung – die Androhung direkter physischer Gewalt oder die Androhung des Entzugs der lebensnotwendigen Existenzmittel. Hartz IV ist Gewalt gegen Menschen – um Menschen gefügig zu machen für die Kapitalverwertungsmaschine, die immer neue Gebiete für Profitmacherei kolonialisiert.

Wenn wir einmal viel größer denken, etwa in Hinblick auf weltweite Verteilungsdefizite, so könnte ein grenzüberschreitender Anspruch auf ein BG weltweit die Lebensverhältnisse verbessern, Konflikte befrieden und damit u.a. auch Fluchtursachen bekämpfen. Fließen solche Aspekte in politischen Diskussionen überhaupt ausreichend und parteiübergreifend ein?

Es gibt seit Jahren die Diskussion um das Thema globale soziale Rechte. Das Grundeinkommen ist ein globales soziales Recht, wie das Recht auf Freizügigkeit, auf Bildung, Gesundheitsversorgung usw. Progressive Grundeinkommensbefürworterinnen und -befürworter verstehen das Grundeinkommen als Menschenrecht, das jedem Menschen an seinem Lebensort zusteht. Der Netzwerkrat des Netzwerk Grundeinkommen, die Attac Arbeitsgruppe Genug für alle und die Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und bei der Partei DIE LINKE, um nur einige zu nennen, haben dazu eine klare, begrüßenswerte Position – die auch vor dem Hintergrund der Bekämpfung von Fluchtursachen zu beachten ist.

In meinem eben erschienen Buch „Wer flüchtet schon freiwillig?“ bin ich auf die Problematik eingegangen. Klar muss auch sein: Es muss die imperiale Ökonomie des globalen Nordens in eine solidarische Ökonomie für alle Menschen der Welt gewandelt werden – nur so können sehr viele Ursachen für eine unfreiwillige Migration beseitigt werden. Das Grundeinkommen als globales soziales Recht gehört zu diesem umfassenden Ansatz.

Noch bleibt der Gedanke eines grenzüberschreitenden Grundeinkommens Zukunftsmusik. Für wie wahrscheinlich halten Sie die Umsetzung eines BGs hierzulande und zwar innerhalb eines Zeitrahmens von etwa zwei Legislaturperioden?

Das Grundeinkommen wir dann eingeführt, wenn die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dies wollen. Sie sind der Souverän.

Und welchen Rat geben Sie Zweiflern und Zauderern, die in einem BG – und damit dem wohl größten zivilisatorischer Fortschritt – noch immer ein ideologisches Feindbild sehen?

Ich glaube weniger an Feindbilder, die hinter einer Ablehnung stehen. Mal abgesehen von den Menschen, die meinen, Menschen mit Gewalt nötigen zu müssen, damit sie funktionieren, wie sie es gern hätten. Ich möchte auch keinen Rat geben, sondern einfach anregen, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der die freie Entwicklung eines jeden einzelnen Menschen die Bedingung für die freie Entwicklung aller Menschen ist. Dieser sehr schöne Satz von Karl Marx regt an, über eine solidarische Welt nachzudenken, die keine Gewalt gegenüber Menschen kennt. Da kommt man sicher auch auf die Idee des Grundeinkommens.

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Der Rücktritt ist ein Ritual

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Die meisten Politiker treten ohne Not nicht zurück. Für den Rest wird das Prozedere zu einem Ritual, glaubt der Historiker Dr. Michael Philipp. Der Experte hat schon 2007 zu diesem Thema eine Publikation zu Verhaltensweisen von Politikern herausgebracht, die entweder gar nicht, nur mit Ach und Krach oder tatsächlich auch einmal mit Würde aus dem Amt geschieden sind. Letztere sind deutlich in der Minderheit. Wir haben nachgefragt. Im Gespräch mit dem Autor der Publikation Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen.

Fotorechte: Dr. Michael Philipp

Fotorechte: Dr. Michael Philipp

Was war der Stein des Anstoßes, Rücktritte hochrangiger Politiker unter die Lupe zu nehmen?

Für meine Beschäftigung mit dem Thema „Rücktritt“ gab es keinen konkreten Anlass, es war nicht ein einzelner spektakulärer Vorfall, der mein Interesse auf dieses Phänomen gelenkt hätte. Als Historiker achte ich auf wiederkehrende Vorgänge und Abläufe, auf Verhaltensmuster und ihre Variationen und irgendwann fiel mir auf, dass politische Rücktritte ein spannendes und überdies aussagekräftiges Beispiel wiederkehrender Vorgänge sind.

Schon beim Vergleich nur weniger Rücktritte habe ich festgestellt, dass die einzelnen Schritte bis zu einem Rücktritt – etwa die Berichterstattung der Medien, das Krisenmanagement bei einer Skandalisierung, das Verhalten der Parteifreunde – fast immer denselben Schemata und Mechanis­men folgen. So ist der Rücktritt ein Ritual, und wie jedes Ritual dient es der gesellschaftlichen Regelung und Kommunikation: Rücktritte und die Diskussionen um ihr Für und Wider sagen viel über die politische Kultur aus.

Wenn ich noch die Zielgruppe meiner Untersuchung präzisieren darf: mein Blick richtete sich nicht primär auf „hochrangige“ Politiker, sondern auf Regierungschefs und -mitglieder in Bund und Ländern, also auf Kanzler, Ministerpräsidenten und Minister, außerdem auf den Bundestags­präsidenten. Das sind Repräsentanten der Verfassung, und während andere politische Posten – etwa der eines Parteivorsitzenden – Vereinsangelegenheiten sind, ist die ordnungsgemäße Führung eines Amtes im Verfassungsrang eine Frage, die an den Bestand der Demokratie rührt.

Ihre Publikation ist auch eine beachtliche Recherchearbeit. Wie lange haben Sie an dem Buch gearbeitet?

Von der ersten Idee zu diesem Buch bis zur Drucklegung sind fünf Jahre vergangen. In diesem Zeitraum habe ich nicht ausschließlich an diesem Projekt gearbeitet, in den Phasen des Recherchierens und Auswertens der Materialien gab es immer mal eine Pause.

Die Recherche war sehr aufwendig – zum einen musste ich erst einmal ermitteln, welche Rücktritte es in der Bundesregierung und den Landesregierungen seit 1950 gegeben hat, zum zweiten musste ich für jeden Fall die Fakten zusammentragen, um Abläufe, Ursachen und Hintergründe jeweils zu rekonstruieren. Ich habe wochenlang in Bibliotheken gesessen und aus Biographien, Autobiogra­phien, Epochendarstellungen und Regionalgeschichten Informationen über einzelne Rücktritte geholt. Das war aber nur für die wenigen Dutzend der spektakulären Fälle – wie Franz Josef Strauß, Uwe Barschel, Konrad Adenauer, Willy Brandt – möglich.

Die meisten Rücktritte, vor allem die in Landesregierungen, sind nicht in die Geschichts­schreibung eingegangen, weil sie kaum Aufmerksamkeit erregt hatten, weil sich Skandale rasch erledigt hatten oder weil sie nur von regionaler Bedeutung waren. Die meisten Informationen über solche Rückt­ritte habe ich aus dem Zeitungsausschnittarchiv der Freien Universität Berlin – eine hervorragende Sammlung, die über Jahrzehnte alle Tageszeitungen der Bundesrepublik ausgewertet hat. Nur durch dieses reiche zeitgenössische Quellenmaterial war es möglich, die Fälle detailliert nachzuvollziehen.

Die Materialsuche und -erschließung hat sich jahrelang hingezogen. Die Phase des Schreibens, in der ich nichts anders getan habe, als die gewonnenen Fakten auszuwerten und in eine narrative Struktur zu bringen, hat etwas über anderthalb Jahre gedauert.

Treten Frauen anders zurück als Männer? Oder sind Auswüchse von Eitelkeiten eher geschlechtsneutral?

Bisher hat es zu wenig Rücktritte von Frauen gegeben, um eine fundierte Aussage über geschlechts­spezifisches Verhalten bei Amtsniederlegungen treffen zu können. Die Frage ist aber spannend, weil sie an das grundsätzliche Thema reicht, ob Politikerinnen anders agieren oder ein anderes Amtsverständnis haben als Männer. Das wird sich in Bezug auf Rücktritte vielleicht in einigen Jahren oder Jahrzehnten beantworten lassen.

Auf zwei Aspekte dieses Themas möchte ich aber kurz eingehen. Das ist zum ersten der Umstand, dass Frauen bei einer Skandalisierung anscheinend schneller zurücktreten als Männer – es gibt kein Beispiel, dass eine Politikerin monatelang skandalisiert wurde und ihren Rücktritt hinausgezögert hätte wie es – als Extrembeispiel – Hans Filbinger getan hat. Skandalisierte Politikerinnen treten relativ schnell zurück, etwa die Bundesministerinnen Andrea Fischer oder Herta Däubler-Gmelin. Diese geringe Beharrlichkeit könnten Sie mit mangelnder Widerstandskraft oder zu geringer Verankerung in Partei- und Fraktionsstrukturen erklären. Aber das führt in die Irre. Einer­seits waren gerade diese beiden Fälle durch die aktuelle Situation geprägt, andererseits gibt es hinreichend Beispiele dafür, dass auch bei Männern die Durchhaltekraft nicht eben ausgeprägt sein muss; die prominentesten und tragischsten Beispiele gaben Willy Brandt und Björn Engholm.

Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Beobachtung, dass unter den so wenigen Rücktritten aus Protest immerhin drei von Frauen sind. Die Ministerinnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Marianne Birthler und Christa Thoben haben sich aus Gründen ihrer politischen Ansichten, ihres Verständnisses von politischem Anstand oder ihrer Selbstachtung den Zumutungen ihrer Partei oder ihres Regierungschefs entzogen. Auch hier lässt sich aus den wenigen Fällen noch nicht auf ein besonders von Frauen realisiertes Prinzip schließen, aber vielleicht wird es mal eines.

Welcher Rücktritt hat Sie persönlich – im positiven oder negativen Sinne – am meisten fasziniert und warum? 

Zu den beeindruckenden und sympathischen Fällen gehören die eben genannten Rücktritte aus Protest. Zu ergänzen sind da noch Gustav Heinemann, der erste Zurücktretende der Bundesrepublik, der 1950 mit seiner Demission gegen Adenauers Wiederbewaffnung protestierte, und Erhard Eppler, der die neue Politik von Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht mittragen konnte, weshalb er 1974 als Minister für Entwicklungshilfe zurücktrat.

An positiven Rücktritten gibt es nicht so viele; zu den gelungenen Fällen gehört der von Hans-Dietrich Genscher als Außenminister: auf der Höhe seines Ansehens, ohne erkennbaren äußeren Anlass. In völliger Freiwilligkeit abzugehen, gelingt den Wenigsten. Diese Leistung ist beeindruckend, weil sie ein Zeichen von Selbstdistanz und Realitätsbewusstsein ist; beides ist unter Politikern nicht eben verbreitet.

Auf der anderen Seite stehen die unangenehmen Beispiele. Am erschreckendsten war der Fall von Hans Filbinger, der sich an Uneinsichtigkeit nicht überbieten lässt; fatal war der Rücktritt von Rainer Barzel, der als Heuchler und Abkassierer dastand; am dringlichsten war der Rücktritt von Uwe Barschel, der in den schmierigsten Skandal der Bundesrepublik, die Aktionen gegen Björn Engholm, verwickelt war. Und dann gibt es noch die unterbliebenen Rücktritte, etwa die Rücktrittsverweigerung von Manfred Wörner. Das war derjenige Minister, der sich trotz gröbsten Fehlverhaltens im Amt halten konnte – das wird immer als Makel der Regierung von Helmut Kohl haften bleiben. Dieser Spezies der ausgebliebenen Rücktritte habe ich ein eigenes Kapitel gewidmet.

Sie mahnen zu einer Rücktritts-Kultur. Sie glauben, dass es sie eines Tages geben kann?

Es gibt ja bereits eine Rücktrittskultur – allerdings in Großbritannien. In meiner Untersuchung habe ich mich auf die Bundesrepublik beschränkt, weil ein internationaler Vergleich ein eigenes Thema wäre, aber bei verschiedenen Gelegenheiten habe ich auch die Verhältnisse in Großbritannien erwähnt. Dort sind Politiker schneller bereit, Verantwortung für einen Missstand zu übernehmen, aus Achtung vor der Demokratie ihr Amt aufzugeben. Ob sich deutsche Politiker ein solches Amtsverständnis zum Vorbild nehmen werden, vermag ich nicht vorherzusagen. Auf absehbare Zeit scheint mir das nicht wahrscheinlich, da müsste sich wohl das Karrieredenken und die stringente Lebensplanung grundlegend ändern. Aber warum sollte es nicht dazu kommen? Es ist nicht verkehrt, in längeren Zeiträumen zu denken. In einem historischen Kapitel meines Buches betrachte ich Amtsniederlegungen vergangener Jahrhunderte – von Sulla und Diokletian in der Römerzeit über Karl V. im 16. Jahrhundert bis zu Christina von Schweden. Deren Abdankungen – alle freiwillig zustande gekommen – sind auch Beispiele für umsichtige Amtsniederlegungen. Im übrigen braucht es für eine Kultur des Rücktritts gar nicht so viele Fälle – schon zwei bis drei gelungene Rücktritte pro Jahr könnten zu einem Imagewandel des Rücktritts führen und langsam zum Wachsen einer Rücktrittskultur beitragen.

Werden Sie zukünftige Rücktritte in einer späteren Auflage ergänzen?

Es ist keineswegs auszuschließen, dass in den kommenden Jahren weitere Fälle das Spektrum der Rücktritte bereichern. Dieses Phänomen ist so vielschichtig, die Varianten im Verhalten der Beteiligten sind so unerschöpflich, dass immer etwas Neues dazukommt. Allerdings gehe ich davon aus, dass ich in meiner Typologie der Rücktrittsgründe die wesentlichen Varianten beschrieben habe – von biographischen und politischen Gründen über Protest bis zu den verschiedenen Möglichkeiten des Fehlverhaltens ist alles systematisch erfasst. Das gilt auch für die Faktoren, die zu einem Rücktritt führen können – von der Bedeutung des Regierungschefs über den Sinn von Rücktritts­forderungen und Drohungen bis zur Rolle der Medien habe ich die wesentlichen Elemente behandelt. Wenn aber ein künftiger Rücktritt nicht nur eine Abwandlung bekannter Muster enthält, wenn er die Geschichte des Rücktritts nicht nur um eine spektakuläre oder kuriose Anekdote bereichert, würde ich ihn sicher in einer späteren Auflage des Buches würdigen.

Fotorechte: Dr. Michael Philipp

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Ex-„Stern“-Reporter Gerd Heidemann: „Journalisten sind immer nur so gut wie ihre letzte Geschichte“ (4/4)

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Foto: Gerd Heidemann

Foto: Gerd Heidemann

Ex-„Stern“-Reporter Gerd Heidemann, der in den 1950er Jahren als freier Fotoreporter begann und fast drei Jahrzehnte für das Nachrichtenmagzin „Stern“ tätig war, fasste nach dem Desaster um die Hitler-Tagebücher bis auf wenige, einzelne Aufträge als Freier Journalist beruflich nie wieder Fuß.

Im letzten Teil unseres vierteiligen Interviews erzählt Gerd Heidemann, womit er sich seit dem Medienskandal befasst, welche Pläne er derzeit hegt und was er vom heutigen Journalismus hält.

Nach dem Mega-Flop mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern, der als einer der größten Medienskandale in die deutsche Geschichte einging, gab es für Ihr Leben eine tiefe Zäsur. Hat sie niemals mehr ein Verlag gefragt, ob sie wieder als Reporter tätig werden wollen? Oder haben Sie von sich aus damals sofort einen beruflichen Schlußstrich gezogen?

Nach der Tagebuch-Pleite war ich erst noch eine zeitlang als freier Journalist tätig und arbeitete für einen befreundeten Pressefotografen und auch für „BILD“. Außerdem lieferte ich dem „SPIEGEL“ und anderen Blättern Fotos aus meinem zeitgeschichtlichen Fotoarchiv.

Für die Hamburger Kriminalpolizei konnte ich einen Fall lösen und dafür eine sehr hohe Belohnung einstreichen. Um eine Festanstellung habe ich mich allerdings nie mehr bemüht. Wegen meiner Schulden beim Finanzamt, den Rechtsanwälten, der Gerichtskasse und den Werften wäre mir dann auch kaum etwas von meinem Gehalt geblieben.
 

Alle Fotorechte:
Gerd Heidemann; Animation: U. Pidun/SPREEZ.

Womit haben Sie sich dann in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigt und was tun Sie heute? 

Meine Hauptarbeit gilt seit vielen Jahren und bis heute meinem historischen und zeitgeschichtlichen Archiv, das immer mehr Studenten, Historiker und Journalisten in Anspruch nehmen. Ich hatte mir nach dem Erlebnis mit den falschen Tagebüchern vorgenommen, niemals wieder auf Fälschungen hereinzufallen. Darum versuchte ich, mit Dokumenten und Fotos fast jeden Tag der jüngsten Geschichte zu dokumentieren. So umfasst das Archiv heute über 7000 Ringordner mit über hunderttausend Fotos und sicher mehr als eine Million Dokumente.

Gerd HeidemannWenn Sie heute Nachrichtenmagazine lesen – print und/oder online – was geht Ihnen durch den Kopf? Hat der Journalismus an substantiellen Inhalten gewonnen oder befindet er sich auf dem direkten Weg in die Selbstzertrümmerung?

Von dem heutigen Journalismus halte ich nicht mehr viel. Ich weiß ja am Besten, welche Lügen diese Schreiberlinge über mich verbreitet haben. Mir wurde von solchen Leuten sogar vorgeworfen, ich hätte die damalige „Stern“-Veröffentlichung dazu benutzt, den Nationalsozialismus zu rechtfertigen.

In Wirklichkeit hatte ich mit der Veröffentlichung der Geschichte über die Tagebücher gar nichts zu tun, bekam den Artikel vor dem Druck nicht einmal zu lesen. Es wurde immer so berichtet, als würde ein Reporter entscheiden, welche Serie im Stern erscheinen würde. Aber das ist doch wohl Entscheidung der Chefredaktion. Früher hieß es: „Es waren einmal zwei Redakteure, die hatten nur eine Schere. Der andere, aus Not getrieben, hat endlich was geschrieben.“ Das bezog sich darauf, dass man sich die Agenturmeldungen für das Layout der Zeitung zurecht schnippelte.

 

Alle Fotorechte:
Gerd Heidemann; Animation: U. Pidun/SPREEZ.

 

Gerd Heidemann

Journalisten sind immer nur so gut wie ihre letzte Geschichte. Das betrifft ja nicht nur mich. Doch heute holen sich die Reporter und Redakteure ihre Informationen hauptsächlich aus dem Internet und übernehmen dabei alle Fehler und Lügen ihrer lieben Kollegen.

Es gibt nur noch wenige Journalisten in Deutschland, die fähig zu guten Recherchen sind. Man kann sie an einer Hand abzählen und im jugendlichen Alter sind sie auch nicht mehr. Wenn an den Journalistenschulen nicht mehr Wert auf gute Ausbildung auf diesem Gebiet gelegt wird, sehe ich schwarz.

Da ich aber inzwischen kaum noch Magazine und Illustrierte lese, kann ich letztendlich nicht gut beurteilen, ob diese Blätter an substantiellen Inhalten gewonnen oder verloren und damit neben dem Internet und Fernsehen noch eine Zukunft haben.

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Das Gespräch führte Ursula Pidun
Alle Fotorechte: Gerd Heidemann;
Fotobearbeitung und Flashanimationen: up/SPREEZEITUNG.de

Der Beitrag Ex-„Stern“-Reporter Gerd Heidemann: „Journalisten sind immer nur so gut wie ihre letzte Geschichte“ (4/4) erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

Götz Werner (dm): Grundeinkommen ist eine Frage des Menschenbildes

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„Es geht darum, dass der Einzelne bescheiden, aber menschenwürdig im Sinne des Artikels 1 unserer Verfassung leben kann. Damit ist alles erklärt. Dass die Verfassungsrechtler Hartz IV zulassen, ist ein Beweis dafür, dass sie ihre eigene Verfassung nicht anerkennen. Oder ihr begrifflich noch nicht gewachsen sind.“

*Zitat Götz W. Werner

Herr Werner, Diskussionen um die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens gibt es schon lange. Können Sie einmal zusammenfassen, welche Vorteile Sie darin sehen?

dm-Gründer Götz W. Werner (Bildquelle: dm/Alex Stiebritz)

dm-Gründer Götz W. Werner
(Bildquelle: dm/Alex Stiebritz)

Prof. Götz W. Werner: „Wesentlich ist, dass wir Arbeit und Einkommen voneinander trennen würden. Wir erliegen heute immer noch dem Irrtum, dass Einkommen die Bezahlung für Arbeit ist. Wenn wir aber genau hinschauen, müssen wir erkennen, dass ein Einkommen die Ermöglichung von Arbeit ist. Wir alle brauchen in unserer heutigen, fremdversorgten Welt ein Einkommen, um leben zu können. Erst dann können wir für andere tätig werden.“

Gegner des BGE werfen gerne die mangelnde Finanzierung in die Waagschale. Mit welchen Argumenten kontern Sie?

Werner: „Dass wir nicht vom Geld leben, sondern von den Gütern und Dienstleistungen, die wir hervorbringen. Und es kann niemand ernsthaft bezweifeln, dass wir im Überfluss an materiellen Gütern leben.

Wir waren noch nie so reich wie heute. Geld ist ein probates Hilfsmittel aber davon kann doch niemand leben. Schon der bekannte Ökonom Oswald von Nell-Breuning sagte: ‚Alles, was sich güterwirtschaftlich erstellen lässt, das lässt sich auch finanzieren – vorausgesetzt, wir haben den ehrlichen Willen dazu’. Die Frage ist, ob wir es finanzieren wollen; wenn ja, dann finden wir auch Wege.“

Als Unternehmer stehen Sie mit Ihrer Überzeugung zum BGE noch recht allein in der deutschen Wirtschaftslandschaft. Worin liegen die Gründe, dass bisher nicht viele Unternehmer mitziehen?

Werner: „Viele Unternehmer, mit denen ich spreche, wissen, dass Menschen arbeiten wollen und erkennen an, dass sie in der heutigen Gesellschaft zunächst ein Einkommen brauchen.“

Politiker melden immer wieder große Bedenken an. So auch Kanzlerin Angela Merkel, die vor der letzten Bundestagswahl im Rahmen eines Bürgerforums die Frage stellte, wer dann noch zusätzlich arbeiten wolle. Wird das Prinzip BGE nicht richtig verstanden?

Werner: Es ist eine Frage des Menschenbildes. Wenn ich Menschen frage, ob sie noch arbeiten würden, sagen alle: ‚Ja, aber die anderen nicht.’ Wenn wir von ‚den Anderen’ sprechen, meinen wir, wir müssten denen ‚die Hammelbeine langziehen’ oder ‚sie auf Trab bringen’. Merken Sie das? Wir haben zwei Menschenbilder: ein edles von uns und ein tierisches von unseren Mitmenschen. Davon sollten wir uns lösen.“

Die Kanzlerin verwies damals auf die bereits bestehende Grundsicherung, womit das sog. Hartz IV-System gemeint ist. Abgesehen davon, dass es sich hier nicht um ein bedingungsloses Einkommen handelt – wie denken Sie über die vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder (SPD) eingeführte Arbeitsmarktreform?

Werner: „Dass wir Hartz IV zulassen, ist ein Skandal. Eigentlich müsste ein Aufschrei durch die Gesellschaft gehen: Wie kann es sein, dass wir zulassen, dass ein Teil unserer Mitbürger ausgegrenzt und stigmatisiert wird? Die Verhältnisse müssen doch so sein, dass jeder eine Lebensperspektive hat.“

Das BGE würde Abhängigkeiten und staatliche Überwachung zurückdrängen, andererseits auch die Position von Arbeitnehmern stärken. Ist das eventuell der Grund der starken Abwehrhaltung?

Werner: „Unsere Gesellschaft würde sich verändern: Vom Sollen zum Wollen. Die Menschen würden sich fragen, ob es Sinn macht, was sie tun. Das ist für einige Unternehmen eine große Herausforderung. Die Verantwortlichen müssen Rahmenbedingungen schaffen, so dass die Menschen sagen, das macht Sinn, hier steige ich ein und bringe meine Talente und Fähigkeiten zur Wirkung.“

Trauen Sie der derzeitigen Regierung zu, das BGE in absehbarer Zeit einzuführen, oder bedarf es einer ganz neuen Politikergeneration, um so etwas durchzusetzen?

Werner: „Wir erwarten zu viel von unseren Politikern, die weniger Macht haben, als wir meinen. Wir haben uns an eine Opferrolle gewöhnt und schimpfen darüber. Dabei ist es doch offensichtlich, dass viele Politiker wie Segler sind. Sie spüren, wenn der Wind sich dreht, dann ändern sie den Kurs. Aber der Wind muss aus der Gesellschaft wehen.“

Was wünschen Sie sich für Ihren persönlichen „Kampf“ um die Einführung eines BGEs und wie optimistisch sind Sie, dass sich dieser Wunsch auch tatsächlich erfüllt?

Werner: „Mit Wünschen ist das so eine Sache. Als Unternehmer bin ich grundsätzlich optimistisch und ich beobachte, dass immer mehr Menschen die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, zu ihrer persönlichen ergebnisoffenen Forschungsfrage machen. Das bringt uns voran.“

Mehr Gerechtigkeit durch Grundeinkommen:

Verweis: Schwerpunktthema Bedingungsloses Grundeinkommen –
alle Beiträge auf einen Blick

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Hausgeld-Vergleich e.V.: Klimaschutz als Abzocker-Methode

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Kostspielige Sanierungen gemäß EnEV zu Lasten von Wohnungseigentümern und Mietern? (Foto: Photodune-Lizenz)

Sanierungen gemäß EnEV einseitig zu Lasten von Wohnungseigentümern und Mietern? (Foto: Photodune)

Norbert Deul ist 1. Vorstand im Verein Schutzgemeinschaft für Wohnungs-Eigentümer und Mieter e.V. und betreibt neben dem Portal www.hausgeld-vergleich.de auch die Internetportale www.buergerschutz-tag.de und www.urteils-check.de und bietet damit Wohnungseigentümern und Mietern mit vielfältigen Aktivitäten kompetente Unterstützung und eine Vielzahl an Informationen. Wie wichtig dies ist, beweisen auch die immensen Kosten, die durch die von Kanzlerin Merkel maßgeblich initiierte Wende im Energiebereich und beim Klimaschutz verursacht werden.

Das teure Unterfangen betrifft vor allem auch Hausbesitzer und Wohnungseigentümer. Sie müssen sich laut Gesetzgebung an klar definierte Vorgaben halten, kostspielige und durchaus auch fragwürdige Dämmungen und energieeffiziente Sanierungsmaßnahmen durchführen, Heizungen austauschen und Vorschriften zum Thema CO2-Ausstoß beachten. Auch Mieter werden für Modernisierungen nach einem bestimmten Kostenschlüssel anteilig zur Kasse gebeten. Derzeit handelt es sich dabei um 11 Prozent der Investitionskosten des Vermieters pro Jahr und auch über das 9. Jahr hinaus, obwohl die Kosten über die erhöhte Miete vom Mieter bereits komplett abbezahlt wurden.

Herr Deul, seit wann gibt den Verein „Schutzgemeinschaft für Wohnungs-Eigentümer und Mieter e.V“ und was bieten Sie Ihren Mitgliedern konkret?

Norbert Deul, Hausgeld-Vergleich e.V. (Foto: buergerschutztag.de)

Norbert Deul, Hausgeld-Vergleich e.V. (Foto: buergerschutztag.de)

Der Verein wurde Ende 2005 gegründet, weil es damals weder regionale Vergleichszahlen für die Wohnnebenkosten noch eine systematische Kontrolle von Immobilienverwaltern (Hausverwaltern) gab, die einen erheblichen Teil der Wohnnebenkosten sowohl für den selbstnutzenden Wohnungseigentümer als auch für den Mieter beeinflussen können.

Es wurde zwar allgemein über die rasant gestiegene „zweite Miete“ geschimpft, aber niemand der von den Kosten Betroffenen konnte im Detail beurteilen, ob sich die einzelnen Positionen der Nebenkosten in einem überhöhten oder normalen Rahmen bewegen. Seitdem bieten wir als einziger Verbraucherschutzverein Wohnungseigentümern und Mietern jeweils gegen Ende Juni regionale Vergleichszahlen für die Wohnnebenkosten an, derzeit für 15 Regionen.

Mit unseren Vergleichszahlen lässt sich seitdem erkennen, in welchen Kostenbereichen Einsparpotential vorhanden ist. Wir unterstützen unsere Vereinsmitglieder dann auch mit Vorschlägen, auf welche Weise überhöhte Kosten zu reduzieren sind. In der Folge ergibt sich daraus die Kontrolle der Arbeitsweise von Hausverwaltern. Auch hier bieten wir zusätzlich Hilfen an.

Klimaschutz und Energiewende sind aufwändig und teuer zugleich. Doch ist das, was die Politik hier abverlangt, auch immer gerechtfertigt?

Es ist richtig, es sind große Herausforderungen, die Klimaschutz und Energiewende gebracht haben. Die Kostenentwicklung wird heute jedoch maßgeblich durch die Politik beeinflusst. Man denke nur an die erheblichen Erhöhungen im Strombereich, bei Steuern und Abgaben und an die Fülle neuer Verordnungen, hier besonders die sogenannte Energieeinsparverordnung (EnEV). Deren Zielsetzung ist nicht etwa die wirtschaftlich durchgeführte Energieeinsparung, gegen die niemand etwas einzuwenden hat, sondern das angebliche „klimaneutrale Wohngebäude“. Konkret heißt das: Unsere Politiker gaukeln uns vor, wir könnten mit kostenaufwändig plastikverpackten Gebäuden und Voltaik-Anlagen auf dem Dach das Klima beeinflussen. Daher bieten wir unseren Mitgliedern Aufklärung und Transparenz an. Die größten Kostenbelastungen drohen Wohnungseigentümern und Mietern heute tatsächlich von den Verantwortlichen in der Energie- und Umweltpolitik.

Die Bereitschaft der Bevölkerung ist allerdings groß, hohe Kosten für Klimaschutz und Energiewende in Kauf zu nehmen. Oder täuscht dieser Eindruck?

Fast jeder Bürger ist bereit, auch große Vorhaben zu schultern, wenn sie gerechtfertigt sind und Sinn machen. Probleme gibt es jedoch immer dann, wenn die Forderungen sachlich nicht zu begründen sind. Derzeit kenne ich keinen Experten oder Politiker, der mir erklären konnte, dass der Mensch in der Lage sei, mit der Reduzierung des menschlichen Anteils an CO2 das Klima verändern zu können. Eine Forderung kann sich aber doch nur mit einer sachgerechten Begründung rechtfertigen. Wir sind erwachsene Bürger, denen man die Notwendigkeit etwas zu tun oder zu unterlassen, plausibel und schlüssig erklären sollte.

In welchen Bereichen gibt es besonders große Defizite hinsichtlich der politischen Kommunikation?

Da wäre beispielsweise die bisher unbeantwortete Frage nach einer sachlichen Begründung zur Beseitigung einer zuverlässigen Energieversorgung, die wir zu verbraucher- und wirtschaftsgerechten Preisen jahrzehntelang hatten? Niemand aus der Politik konnte mir bisher erklären, wie man mit wetterabhängigem Strom aus Sonne und Wind einen zuverlässigen Stromfluss über 24 Stunden je Tag zustande bringen kann, wie er benötigt wird. Ich kann daher keine Rechtfertigung für die heutige Politik zum Klimaschutz und zur Energiewende erkennen. Stellen Sie sich vor, jemand käme auf die Idee, die gesamte Transport-Schifffahrt wieder mit Segelschiffen zu organisieren. Man würde sich an die Stirn tippen. Und wie lassen sich die beweisbaren Klimaveränderungen der Vorzeit erklären, als es kein menschenverursachtes CO2 gab? Der Argumentation der heutigen Politik kann doch so niemand folgen, der seine Sinne noch beisammen hat und dem die Gabe zum logischen Denken gegeben wurde.

Und welche Fehlentscheidungen erfordern Ihrer Meinung nach eine sofortige Änderung?

Rund neun Millionen Wohnungseigentümer-Haushalte werden aktuell durch die Auflagen der Energieeinsparverordnung (EnEV) wegen des unsinnigen Ziels der CO2-Reduzierung und Schaffung von “klimaneutralen Gebäuden bis 2050” gegängelt und in Zwangssanierungen und Zwangsnutzungen der alternativen (unzuverlässigen) Energiearten gedrängt. Aufgrund der damit verbundenen Sonderzahlungen kann dies wenig betuchte Wohnungseigentümer in den wirtschaftlichen Ruin treiben mit allen daraus resultieren Folgen wie etwa auch den Verlust von Wohnungen.

20 Millionen Mieter-Haushalte müssten die Kosten der voraussehbar unwirtschaftlichen energetischen Sanierungen der Mietshäuser tragen. Die Mieter haben nach solchen Sanierungen derzeit satte 11 Prozent der Investitionssumme pro Jahr durch erhöhte Mieten zu zahlen und das auf Dauer. So bestimmt es § 559 BGB und die daraus abgeleitete Rechtsprechung. Die 11-prozentigen Mieterhöhungen laufen derzeit selbst nach der kompletten Abzahlung der gesamten Investitionen weiter bis in alle Ewigkeit. Ich nenne deshalb § 559 BGB den “Goldenen-Nasen-Paragraph” für jeden Vermieter. Wer sonst kann nach dem 9. Jahr auch weiterhin eine 11-prozentige Rendite auf seinen Kapitaleinsatz rechtssicher erwirtschaften?

Es gibt keine Partei in der politischen Landschaft, die Einspruch gegen dieses Prozedere erhebt?

Nein, dieses Unrecht wird von allen alten Parteien gestützt. Zwar werden im Bundesministerium von Heiko Maas derzeit Abmilderungen dieser unhaltbaren Situation ausgearbeitet. Eventuell soll die 11-prozentige Umlage auf acht, bzw. neun Prozent gesenkt werden. Dabei handelt es sich aber wohl nur um kleinste Beruhigungspillen für die inzwischen berechtigt aufgebrachten Mieter, deren Mieten wegen der angestrebten CO2-Reduzierung und der darauf basierenden EnEV inzwischen explodieren.

Könnte man sagen, dass die Verordnungen zu Umweltschutz und Energiewende kopflos und im Hauruck-Verfahren auf den Weg gebracht wurden und falls ja, aus welchen Gründen?

Hauruck-Verfahren ist der richtige Ausdruck für die Energiewende. Da wurde nichts durchdacht, nichts wissenschaftlich abgesichert und auch nichts öffentlich mit Fachleuten diskutiert, wie es bei solchen einschneidenden Veränderungen wie der Energiewende und dem Klimaschutz erforderlich gewesen wäre. Zu den Gründen, warum hier kein Widerstand in den maßgeblichen Kreisen wegen der angestrebten CO2-Reduzierung aufkam, darf ich die Meinung von Diplom-Meteorologe Dr. phil. Wolfgang Thüne zitieren:

„Die russischen, chinesischen und indischen Klimaorganisationen, vom westlichen Klimaestablishment finanziell unabhängig, zeigen sich alle skeptisch. Genauso wie viele Wissenschaftler aus anderen Zweigen der Wissenschaft, aber auch viele pensionierte Klimawissenschaftler (welche ohne negative Konsequenzen für ihre Karriere offen sprechen können).”

Seine Erklärung erscheint mir plausibel.

Nun ist das Geschäft mit dem Klimawandel äußerst lukrativ. Wer sind die tatsächlichen Gewinner – ökonomisch betrachtet?

Verlierer sind auf jeden Fall die Wohnungseigentümer, die dem „Druck und der „Verführung“ geschickt agierender Hausverwalter, fragwürdiger Energieberater und dem System angepasster Architekten und Ingenieuren nicht gewachsen sind. Verlierer sind auch die Mieter, die der Gesetzgeber zudem noch gemäß § 559 BGB profitgierigen Vermietern ausgeliefert hat. Verlierer sind auch selbstnutzende Hausbesitzer, die energetisch unwirtschaftliche Auflagen zu erfüllen haben und denen eine Befreiung von den EnEV-Auflagen verweigert wird. Gewinner hingegen sind z.B. die Dämmstoff-, Baustoff- und Anlagenhersteller, Handwerker, Architekten, Bauingenieure und auch Hausverwalter, die in ihren Verwalterverträgen für solche Sanierungen Sonderhonorierungen basierend auf der Geldausgabenhöhe durchdrücken können.

Der ökologische Gewinn wird von vielen Bürgern praktisch nicht angezweifelt, Kritik allenfalls gedämpft geäußert. Kein Wunder, entwerfen Klimaexperten inzwischen Horrorszenarien hinsichtlich des CO2-Austoßes. Wird das Thema künstlich aufgeplustert?

Einen ökologischen Nutzen einer mit Plastik verpackten luftdichten Wohnung – wie sie bautechnisch angeordnet wurde – kann ich nicht erkennen. Im Gegenzug ist dann nämlich ein Lüftungskonzept erforderlich, das die Innenraumfeuchte, die durch das Bewohnen entsteht, nach außen befördert. So kommen beispielsweise auch stromfressende Lüftungsanlagen zum Einsatz, um Schimmelbildung in den Wohnungen zu vermeiden. Ich kann auch keinen ökologischen Nutzen in Windkrafträdern erkennen, die die Landschaft verschandeln, die Vogelwelt dezimieren und die Anwohner im nahen Umkreis gesundheitlich beeinträchtigen. Und welche ökologischen Folgen die Windparks im Meer haben werden, bleibt abzuwarten. Denn die sog. Umweltschützer haben ihren ureigensten Job in diesem Bereich bisher nicht erledigt, um bei der Politik nicht anzuecken.

Sie haben im Interesse der Bürger konkrete Anfragen an Politiker und Ministerien gestellt. Was haben Ihre Nachfrage ergeben?

Das ist richtig. Meine einfachen Fragen nach dem Klimagipfel in Paris lauteten:

„Welche wissenschaftlichen Beweise können Sie uns als in der Verantwortung stehender Politiker vorlegen,

a) dass das von Menschen verursachte CO2 verantwortlich für eine negative Entwicklung unseres Klimas ist und

b) dass die Reduzierung von CO2 folgenlos für die Produktion von Nahrungsmitteln für die wachsende Bevölkerung ist?“

Keine dieser Fragen wurde konkret beantwortet. Stattdessen wurde auf das wissenschaftliche Gremium des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change / Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen) verwiesen. Daraus war zu schließen, dass sich unsere Politiker der Meinung des IPCC ohne eigene wissenschaftliche Untersuchung anschließen. Erforderlich wäre jedoch eine eigene wissenschaftlich neutrale Untersuchung, nachdem bekannt wurde, dass bei der IPCC fragwürdige Vorkommnisse aufgedeckt wurden.

Auf unseren Hinweis, dass in den bisher fünf IPCC-Berichten zur Klimaerwärmung und deren Ursachen und Folgen kein einziger Beleg, nicht eine einzige Beobachtung und auch keine einzige begutachtete wissenschaftliche Studie existiert, die einen Einfluss des vom Menschen emittierten CO2 auf die Temperatur der Atmosphäre untermauert, kamen auch aus den Ministerien in Bayern und Baden-Württemberg keinerlei Reaktionen. Weitere Adressaten haben komplett geschwiegen, darunter auch die Bundesministerien für Wirtschaft und Umwelt. Möglicherweise wurde erkannt, dass präzise Antworten auf die einfachen Fragen den ganzen derzeitigen Schwindel um die CO2-Hysterie aufdecken würden.

Hierzu darf ich eine Meinung von Meteorologen Prof. Klaus Hager aus Augsburg zitieren, der ich mich anschließe:

„Wissen Sie, ich prüfe gerne Fakten und will zum Nachdenken anregen, nicht alles ungefiltert zu schlucken, nur weil es dem Zeitgeist entspricht. Der Motor jeden Wettergeschehens ist die Sonne. Der vom Menschen verursachte Klimawandel wird sich als Klimablase herausstellen. Sie platzt wie das Waldsterben, wenn die Temperaturen, allein von der Natur so gewollt – und damit meine ich die Sonnenaktivität – wieder sinken.“

Es besteht also weiterhin noch Klärungsbedarf. Wer sich dafür und für den Verein Hausgeld-Vergleich e.V. bzw. das gebotene Themenspektrum interessiert, kann sich jederzeit bei Ihnen melden und genießt dann eine Vielzahl an Vorteilen?

Ja, das ist richtig. In dem Moment, wo ein Wohnungseigentümer oder Mieter Probleme hat,
ist eine Kontaktaufnahme mit uns sinnvoll. Es gibt keine Wartezeit, wie sie bei Rechtschutzversicherungen üblich sind. Neben der Schaffung von Transparenz, Vergleichbarkeit und Ordnungsmäßigkeit der Wohnnebenkostenabrechnungen vermitteln wir Wohnungseigentümern und Mietern die Kenntnisse zur richtigen eigenen Kontrolle und zeigen Möglichkeiten zu Einsparungen auf, insbesondere auch im Energiebereich.

Ferner unterstützen wir Mitglieder, sich vor unnötigen Kosten zu schützen, z.B. gegen unwirtschaftliche Maßnahmen, die sich aus der Energieeinsparverordnung ergeben können. Der Verein wirkt auch vermittelnd im Sinne einer friedlichen Konfliktbewältigung speziell zwischen Vermietern und Mietern, die ja beide gleichermaßen von Kostensteigerungen betroffen sind. Daneben gibt es viele weitere Leistungen, die auf unserer Webseite www.hausgeld-vergleich.de aufgeführt sind.

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Ex-„Stern“-Reporter Gerd Heidemann: „Journalisten sind immer nur so gut wie ihre letzte Geschichte“ (4/4)

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Foto: Gerd Heidemann

Foto: Gerd Heidemann

Ex-„Stern“-Reporter Gerd Heidemann, der in den 1950er Jahren als freier Fotoreporter begann und fast drei Jahrzehnte für das Nachrichtenmagzin „Stern“ tätig war, fasste nach dem Desaster um die Hitler-Tagebücher bis auf wenige, einzelne Aufträge als Freier Journalist beruflich nie wieder Fuß.

Im letzten Teil unseres vierteiligen Interviews erzählt Gerd Heidemann, womit er sich seit dem Medienskandal befasst, welche Pläne er derzeit hegt und was er vom heutigen Journalismus hält.

Nach dem Mega-Flop mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern, der als einer der größten Medienskandale in die deutsche Geschichte einging, gab es für Ihr Leben eine tiefe Zäsur. Hat sie niemals mehr ein Verlag gefragt, ob sie wieder als Reporter tätig werden wollen? Oder haben Sie von sich aus damals sofort einen beruflichen Schlußstrich gezogen?

Nach der Tagebuch-Pleite war ich erst noch eine zeitlang als freier Journalist tätig und arbeitete für einen befreundeten Pressefotografen und auch für „BILD“. Außerdem lieferte ich dem „SPIEGEL“ und anderen Blättern Fotos aus meinem zeitgeschichtlichen Fotoarchiv.

Für die Hamburger Kriminalpolizei konnte ich einen Fall lösen und dafür eine sehr hohe Belohnung einstreichen. Um eine Festanstellung habe ich mich allerdings nie mehr bemüht. Wegen meiner Schulden beim Finanzamt, den Rechtsanwälten, der Gerichtskasse und den Werften wäre mir dann auch kaum etwas von meinem Gehalt geblieben.
 

Alle Fotorechte:
Gerd Heidemann; Animation: U. Pidun/SPREEZ.

Womit haben Sie sich dann in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigt und was tun Sie heute? 

Meine Hauptarbeit gilt seit vielen Jahren und bis heute meinem historischen und zeitgeschichtlichen Archiv, das immer mehr Studenten, Historiker und Journalisten in Anspruch nehmen. Ich hatte mir nach dem Erlebnis mit den falschen Tagebüchern vorgenommen, niemals wieder auf Fälschungen hereinzufallen. Darum versuchte ich, mit Dokumenten und Fotos fast jeden Tag der jüngsten Geschichte zu dokumentieren. So umfasst das Archiv heute über 7000 Ringordner mit über hunderttausend Fotos und sicher mehr als eine Million Dokumente.

Gerd HeidemannWenn Sie heute Nachrichtenmagazine lesen – print und/oder online – was geht Ihnen durch den Kopf? Hat der Journalismus an substantiellen Inhalten gewonnen oder befindet er sich auf dem direkten Weg in die Selbstzertrümmerung?

Von dem heutigen Journalismus halte ich nicht mehr viel. Ich weiß ja am Besten, welche Lügen diese Schreiberlinge über mich verbreitet haben. Mir wurde von solchen Leuten sogar vorgeworfen, ich hätte die damalige „Stern“-Veröffentlichung dazu benutzt, den Nationalsozialismus zu rechtfertigen.

In Wirklichkeit hatte ich mit der Veröffentlichung der Geschichte über die Tagebücher gar nichts zu tun, bekam den Artikel vor dem Druck nicht einmal zu lesen. Es wurde immer so berichtet, als würde ein Reporter entscheiden, welche Serie im Stern erscheinen würde. Aber das ist doch wohl Entscheidung der Chefredaktion. Früher hieß es: „Es waren einmal zwei Redakteure, die hatten nur eine Schere. Der andere, aus Not getrieben, hat endlich was geschrieben.“ Das bezog sich darauf, dass man sich die Agenturmeldungen für das Layout der Zeitung zurecht schnippelte.

 

Alle Fotorechte:
Gerd Heidemann; Animation: U. Pidun/SPREEZ.

 

Gerd Heidemann

Journalisten sind immer nur so gut wie ihre letzte Geschichte. Das betrifft ja nicht nur mich. Doch heute holen sich die Reporter und Redakteure ihre Informationen hauptsächlich aus dem Internet und übernehmen dabei alle Fehler und Lügen ihrer lieben Kollegen.

Es gibt nur noch wenige Journalisten in Deutschland, die fähig zu guten Recherchen sind. Man kann sie an einer Hand abzählen und im jugendlichen Alter sind sie auch nicht mehr. Wenn an den Journalistenschulen nicht mehr Wert auf gute Ausbildung auf diesem Gebiet gelegt wird, sehe ich schwarz.

Da ich aber inzwischen kaum noch Magazine und Illustrierte lese, kann ich letztendlich nicht gut beurteilen, ob diese Blätter an substantiellen Inhalten gewonnen oder verloren und damit neben dem Internet und Fernsehen noch eine Zukunft haben.

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JA zu Integration: Motivierende Vision vs. „Wir schaffen das“ -Floskel

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v.l.n.r: Marcel Randermann, Julie Liu, Julia Kozubek, Martin Kulik, Maria Frick, Jan Scherpinski (Foto: JA zu Integration)

v.l.n.r: Marcel Randermann, Julie Liu, Julia Kozubek, Martin Kulik,
Maria Frick, Jan Scherpinski (Foto: JA zu Integration)

Jan Scherpinski, Sie sind Leiter der Initiative „JA zu Integration“. Können Sie kurz umreißen, um was es Ihnen geht und welche Ziele Sie und Ihr Team verfolgen?

Die Initiative „JA zu Integration“ sieht ihr Kernthema in der Einbindung von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt. Wir sind davon überzeugt, dass Arbeit einer der wichtigsten Faktoren für eine nachhaltige Integration in die Gesellschaft ist. Ankommen bedeutet für viele Menschen, sich eine berufliche Perspektive aufzubauen.

Dazu wird die tatkräftige Mitwirkung der Wirtschaft benötigt. Wie entschlossen zeigt sie sich, hier eine besondere Schlüsselposition einzunehmen?

Auch bei Arbeitgebern ist die Einstellung von Geflüchteten aktuell ein Thema. Aber leider fühlen sich vor allem mittelständische Unternehmen noch eingeschüchtert. Es gibt viele Unsicherheiten hinsichtlich fehlender Deutschkenntnisse, geringer Planungssicherheit, dem bürokratischen Aufwand und dem täglichen Umgang mit den potentiellen neuen Mitarbeitern. Unser Ziel ist es, diese Unsicherheiten, die oft durch fehlenden Kontakt mit dem relativ „frischen“ Thema entstehen, abzubauen und Unternehmen dabei zu unterstützen, Integration durch ein starkes Partner- und Informationsnetzwerk erfolgreich umzusetzen. Durch die Öffnung des Arbeitsmarktes helfen wir so auch Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund, auf eigenen Beinen zu stehen.

Die Entwicklung mittel- und langfristiger Perspektiven setzt voraus, dass der überwiegende Teil der Geflüchteten auch tatsächlich bleibt. Gibt es belastbare Studien, die Hinweise darauf geben?

Jan Scherpinski (Foto: JA zu Integration!)

Jan Scherpinski
(Foto: „JA zu Integration“)

Um Ihre spezifische Frage zu beantworten, beziehe ich mich nur auf die Situation der Geflüchteten, möchte aber darauf hinweisen, dass diese nur einen Teil der 2,1 Millionen Zuwanderer im letzten Jahr ausmachten. Der mittel- bzw. langfristige Verbleib von Geflüchteten hängt meiner Einschätzung nach von mindestens zwei Faktoren ab. Der erste Faktor ist mit Sicherheit der Wunsch der geflüchteten Menschen, dauerhaft in Deutschland zu verbleiben. Nach Angaben einer Flüchtlingsstudie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geben rund 85% der Befragten an, für immer in Deutschland bleiben zu wollen. Für mich ist das ein klares Bekenntnis zur Langfristigkeit.

Der zweite Faktor betrifft die rechtliche Möglichkeit der Geflüchteten, ein Bleiberecht zu erhalten. Hier ist zumindest mittelfristig auf die aktuellen Asylgeschäftsstatistiken des BAMF zu verweisen, die bisher im Jahr 2016 eine Gesamtschutzquote von 61,5% ausweist – das heißt, dass allein für das Jahr 2016 bis Mai bereits etwa 140.000 Geflüchteten ein Bleiberecht von ein bis drei Jahren zugesagt wurde.

Perspektivisch macht natürlich für beide Seiten vor allem eine sehr langfristige Planung Sinn. Wie sieht es denn hinsichtlich des dauerhaften Bleiberechts für Betroffene aus?

Ob auch über einen mittelfristigen Zeitraum hinaus ein dauerhafter Aufenthalt möglich wird, hängt von den wechselhaften politischen Debatten in Deutschland, etwa um ein Einwanderungsgesetz, ab. Dies wird auch durch die unsichere Entwicklung der politischen und humanitären Situation in den Herkunftsländern beeinflusst. Das Zusammenspiel eines ausgeprägten Wunsches der Geflüchteten in Deutschland zu bleiben und eines mindestens mittelfristig gesicherten Bleiberechts, zeigt für mich ganz klar, dass auch für die Gruppe der Geflüchteten eine Perspektive in Deutschland geschaffen werden muss. Eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt fördert dabei nicht nur den sozialen Zusammenhalt, sondern hilft den ankommenden Menschen finanziell, selbstbestimmt ihre eigene Zukunft zu gestalten. Das vermindert darüber hinaus Sozialausgaben und stärkt die Wirtschaft.

Viele Geflüchtete aus Kriegs- und Krisengebieten sind oftmals schwer traumatisiert mit allen daraus resultierenden Folgen. Wie lässt sich sicherstellen, dass Betroffene diesbezüglich zunächst professionelle Hilfestellung erfahren bzw. ein mögliches posttraumatisches Belastungssyndrom überhaupt erst einmal erkannt wird, bevor eine Integration in Arbeit stattfindet?

Ich finde, dass Sie hier ein enorm wichtiges Thema ansprechen. Wir müssen als Gesellschaft für die sehr individuellen und prägenden Erlebnisse der Geflüchteten sensibler werden, um gezielt Hilfestellungen anzubieten. Dabei übernehmen vor allem Erstaufnahmelager und Asylbewerberheime eine große Verantwortung, da sie den ersten, längerfristigen Bezugsrahmen darstellen. In diesem Bereich, aber auch bei der nachfolgenden psychologischen Betreuung, sind bereits zahlreiche Initiativen und Vereine aktiv und bemühen sich um eine gute Betreuung. Ich bin aber auch der Überzeugung, dass es für den Heilungsprozess von essentieller Bedeutung ist, den Blick nach vorne richten zu können. Sich selbst diese Perspektive zu erarbeiten, hilft den Betroffenen, wieder mehr Kontrolle über das eigene Leben zu erhalten – und das funktioniert am besten durch eine geregelte Tätigkeit.

Genau hier kommt die bedeutende Rolle der Wirtschaft ins Spiel?

Ja, richtig! Wir halten es für sehr wichtig, dass auch auf Seiten der einstellenden Unternehmen eine Sensibilisierung für die spezielle Situation der Geflüchteten erfolgt. Das versuchen wir als Initiative zu ermöglichen, indem wir u. a. sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeiter in speziellen Workshops auf dieses Thema aufmerksam machen, aber auch praktische Hinweise zum Umgang miteinander geben. Integration ist ein wechselseitig ablaufender Prozess, bei dem wir alle mit neuen Perspektiven vertraut werden müssen.

In welcher Form sind die betroffenen Menschen mit Migrationshintergrund selbst – also aktiv und im Sinne von Mitbestimmung – an den Prozessen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt beteiligt?

Ich bin davon überzeugt, dass Menschen ihr volles Potential nur dann ausschöpfen können, wenn sie sich mit ihrer Arbeit wohlfühlen. Das bedeutet auch, dass sie getreu ihrer Qualifikation, ihrer Stärken und Schwächen, Einschränkungen und Bedürfnisse eingesetzt werden. Um Geflüchteten zügig eine Arbeit anzubieten, die diese Kriterien auch erfüllt, bedarf es meiner Meinung nach einer frühzeitigen Aufnahme der Qualifikationen, aber auch Erwartungen. Je nach Wunsch und Bedarf sollten dann ebenso schnell Fördermaßnahmen – auch im Verbund mit der aufnehmenden Wirtschaft – ermöglicht werden. Nur dann ist es realistisch, eine Berufsvermittlung oder eigenständige Bewerbung vorzunehmen, die den persönlichen Bedürfnissen auch gerecht wird.

Sie bieten auch hier wesentliche Unterstützung und verknüpfen beteiligte Stellen effizient und sinnvoll. Worauf kommt es noch an, um dann auch die Wirtschaft nachhaltig und verlässlich mit ins Boot zu bekommen?

Meines Erachtens ist es erforderlich, dass Unternehmen gerade für die Einstellung von Geflüchteten und Menschen mit Migrationshintergrund nicht nur sensibilisiert, sondern auch entsprechend ausgerüstet werden. Oft fehlt das Wissen zu Fragen wie: Was muss ich als Unternehmen bei der Integration beachten? Inwieweit ist die Tätigkeit mit der kulturellen Identität, den Bedürfnissen und Erwartungen vereinbar? Wie kann ich eventuell fehlende Qualitäten oder das benötigte Sprachniveau mit einem Übergangsmanagement aufbauen? Wie kann ich eine reibungslose Einbindung des neuen Mitarbeiters in sein Arbeitsumfeld gewährleisten? Genau zu solchen Fragen bedarf es praxisnaher Antworten.

Welche Angebote bietet Ihre Initiative, damit sich Integration dann auch praktisch umsetzen lässt?

Praktische Antworten auf wichtige Integrationsfragen liefern wir beispielsweise im Rahmen von Seminaren durch Fachexperten sowie einer Erstberatung und einer Aufbereitung der wesentlichen Informationen. Wir haben im Team auch lange überlegt, wie wir eine gegenseitige Sensibilisierung von Geflüchteten und Arbeitgebern zusätzlich unterstützen können und sie dabei authentisch einbinden. Unsere Entscheidung fiel darauf, eine für jeden zugängliche Video-Plattform „#neufuermich“ aufzubauen. Auf dieser sollen einerseits alle Personen zu Wort kommen, die bei der Arbeitseinbindung beteiligt sind. Andererseits erhält jeder somit die Chance, dem anderen in Ruhe zuzuhören. Denn gerade das gegenseitige Zuhören ist aus meiner Wahrnehmung heraus für eine erfolgreiche Zusammenführung unerlässlich.

Das hört sich modern und innovativ an. Könnte eventuell auch die Arbeitsagentur, an die weite Bereiche der Integrationsaufgaben angegliedert wurden, von den Ideen, Ansätzen, Umsetzungen und Aktivitäten Ihrer Initiative profitieren? Die BA bewegt sich als extrem bürokratischer Koloss nach wie vor sehr schwerfällig.

Die Öffnung des Arbeitsmarktes ist eine Herausforderung, die uns über viele Jahre begleiten wird. Dabei spielt die weiter wachsende Menge an einzubindenden Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund genauso eine Rolle, wie die sich wandelnden Ausrichtungen von Unternehmen und der Politik. Für diese komplexe Aufgabe eine ganzheitliche Lösung allein von der Arbeitsagentur und den regionalen Behörden zu erwarten, ist sicher unfair und würde auch unserer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht werden. Genau aus diesem Grund bin ich von dem Ideenreichtum und der Hartnäckigkeit der Vereine, Initiativen und sozialen Start-ups begeistert, die sich dieser Verantwortung ebenfalls stellen.

Aktuell ergibt sich aus meiner Perspektive eine großartige Möglichkeit, all diese innovativen Ansätze mit den Erfahrungen und professionellen Strukturen der Arbeitsagentur zu verbinden, um zusammen ganz neue, flexible und individuelle Lösungen zu schaffen. Wir würden uns sehr freuen und wären stolz, wenn wir unseren Teil dazu beitragen und die dafür erforderliche Vernetzung aller Akteure anstoßen könnten.

Sofern es auch den Willen zu einer ernsthaften Hinterfragung so mancher „professioneller Strukturen“ der Arbeitsagentur gibt, könnte das gelingen. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die anstehenden großen Aufgaben in einem überschaubaren Zeitraum bewältigt werden?

Ich muss gestehen, dass ich uns mit Blick auf eine erfolgreiche Integration auf dem berüchtigten Scheideweg sehe. Ohne Frage hat sich bei vielen Menschen eine starke Willkommenskultur etabliert, die Integration als riesigen Gewinn für alle sieht – dies gilt auch für einige Unternehmen und politische Instanzen. Ich spüre bei meinen täglichen Gesprächen aber auch zunehmend ein Gefühl der Überforderung und die Furcht vor einer Zukunft, in der wir es als Gesellschaft nicht geschafft haben, zusammenzuwachsen. Bei zu vielen Unternehmen ist das Thema auch noch nicht ernsthaft diskutiert worden. Es wurde weder als Chance, noch als soziale Verpflichtung angenommen. Hier fehlt es an geregelten Verantwortungen, Strukturen, dem nötigen Wissen und ab und an auch mal an Bereitschaft, offen für die Idee der Integration einzustehen und dafür den einen Schritt mehr zu gehen.

Was wünschen Sie sich ganz konkret, damit Kanzlerin Merkels „Wir schaffen das“ keine leere Floskel bleibt?

„Wir schaffen das!“ klingt für mich zu sehr nach einer notwendigen Problemlösung statt nach einer motivierenden Vision. Ich würde mir daher eher wünschen, dass jeder von uns sich noch häufiger angesprochen fühlt, wenn es darum geht, den Gedanken der Integration aktiv vorzuleben. Das schafft eine offenere Kultur, die es vermag, das Unternehmen, in dem man arbeitet, als auch die Politik anzutreiben. Nur so können wir selbst zwingend benötigte Maßnahmen – ein mehrheitlich getragenes Einwanderungsgesetz, eine flächendeckende Vernetzung aller Akteure oder ein vereinfachter Zugang zu vollfinanzierten Fördermaßnahmen – auch anstoßen und bei der Umsetzung mithelfen. Ich bin davon überzeugt, dass wir es dann nicht nur „schaffen“, sondern auch durch erfolgreiche Integration ungeahnte Chancen für Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund, für die eigene Wirtschaft und uns als multikulturelle Gesellschaft eröffnen.

*Jan Scherpinski, geboren am 05.08.1989, ist Student des Masters Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Berlin und Leiter der Initiative „JA zu Integration“. Während des laufenden Studiums erlangte er als Praktikant und Freiberufler vielfältige Einblicke in die Strukturen von Unternehmen. Als Konsequenz gründete er im Januar 2015 eine auf Nachhaltigkeit spezialisierte Beratungsfirma und im April 2016 die Initiative „Ja zu Integration“.
 
Die Initiative „JA zu Integration“ stellt sich vor:

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Der Beitrag JA zu Integration: Motivierende Vision vs. „Wir schaffen das“ -Floskel erschien zuerst auf SPREEZEITUNG.de.

„The dimension dissolves every vestige of human individuality“

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The details are simply beyond human imagining. (© H. Wilkes)

The details are simply beyond human imagining. (© H. Wilkes)

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„My goal was and is to reach as many readers as possible so that we shall never forget the way things were or how such things might happen again in another way unless people start thinking seriously and critically and learn the difference between truth and propaganda“.

Dr. Wilkes, your family fled into exile in 1939. Do you remember the mood and incredible circumstances of that period?

No, the only memory that I cannot shake is fear. It has been said that the body remembers what the mind has forgotten, and that children absorb fear with their mother’s milk. Whenever and wherever in the world the bombs start to drop, I panic.

Your book has appeared in 2014 under the title The Worst, however, was the Jew Star: the Fate of my Family. What is the underlying idea of your book and did your research result in new findings?

There is a saying: „Know whence you came, that you may benefit from the experience of those upon whose shoulders you stand.“ Until age 60, when I opened a dusty box containing letters from the family who had not survived, I had no idea upon whose shoulders I stood. I grew up on an isolated farm in Canada with parents who refused to speak of the past. I knew very little of how and why we had fled to a land and a life that was so difficult. When I read those letters, it changed everything. All four of my grandparents sprang to life, along with an assortment of beloved uncles and aunts and cousins. I heard their voices, and I knew that I could not simply fold their letters and silence them a second time. They cried out to live and to speak to the world in their own words.

fled from Nazi-Germany into Canadian exile. (©  H. Wilkes)

The family fled from Nazi-Germany into Canadian exile. (© H. Wilkes)

And that is how this book began. The more I saw each person who wrote to us in Canada as an individual with a very different reaction to events that were unfolding in Europe, the more important it became to give voice to each individual. Six million is a number, and it erases every vestige of human individuality. I wanted Canadians to see whom they had lost by closing their doors to the immigration of Jews. Eventually, I also wanted Germans to see whom they had lost, these ordinary people who had once been their schoolmates, their friends and neighbours upon whom at the very least, they had turned their backs.

How do you account for the hatred against Jewry that in Germany eventually led to the greatest crime in human history?

Letter from  a vanished world. (© H. Wilkes)

Letter from a vanished world. (© H. Wilkes)

I am not a historian, and I am not sure how one can determine which is the “greatest” crime in human history. There have been and there continue to be so many horrendous acts ranging from the slaughter of the Armenians to the massacres in Rwanda, from the actions of Stalin and Mao all the way back to Genghis Khan.
The German situation to me personally is appalling because it was deliberate, calculated and carried out by people who were then among the world’s most educated and „civilized.“

I do not believe that Germans are innately evil, and I greatly admire the current generation of Germans who have looked long and hard at the issues that led to the final tragedy.

I think more than any other nation, Germans have learned from the past and taken steps to ensure that the future will not be a repetition of the past. I also agree with authors who point out that it was in part an unfortunate combination of circumstances, and that the degree of anti-Semitism was even greater in other countries.

When people are demoralized, when they are economically deprived, and when they feel that they have no future as was then the case in Germany and is still the situation in parts of the world today, then people will grasp at straws and they will follow any leader who promises them a better life.

The Waldstein-family in the year 1935 (© H. Wilkes)

The Waldstein-family in the year 1935 (© H. Wilkes)

During the Nazi era, anti-Semitism was largely initiated and legitimized by the state. In your opinion, why did so many citizens jump on the bandwagon of hatred and violence? Could millions of opponents have stopped the Nazis?

Humans love easy answers, and many people are happy when they don’t have to think too much for themselves. Nowadays, neuroscientists have demonstrated that what humans believe is often very different from the actual facts. Instead, there is a strong correlation to influences from childhood to social affiliation and to historical circumstances. „Thanks“ to the early church fathers, medieval Europe had already learned to condemn the Jews as the killers of Christ. Such beliefs do not vanish overnight. Hitler knew how to develop this distrust of the Jews as „Spawn of the Devil“.

As a lifelong educator, what is more difficult for me to understand is how so many highly educated people jumped on the bandwagon. One of my uncles who briefly survived the war describes with utter astonishment the marvels of technology that found their application in Theresienstadt and Auschwitz. Does every scientist have a responsibility to ask how his new findings will be used? A major question for our generation is what and how we should teach students so that past atrocities will never be repeated in any form.

Do you believe the many protestations by Germans of those days that they knew nothing of the extent of Nazi atrocities?

During the First World War. (© H. Wilkes)

During the First World War. (© H. Wilkes)

No, I do not believe they knew nothing. Too many people were involved in the process, and it was hardly a secret that Hitler was seeking to exterminate the Jews. Some Germans were only involved in knocking on doors at midnight or in herding all Jews like cattle onto the trains. It may be true that they did not ask the destination of the train, but they cannot have escaped knowing that these thousands upon thousands of frightened people were not heading for a happy vacation. Other Germans only drove the train, and did not ask what was in the boxcars, while still others merely directed people to the left of to the right upon arrival at the extermination camps.

At the same time, it may be true that few people were aware of „the full extent of the atrocities because I suspect that few people could have born the truth. The details are simply beyond human imagining. We all like to believe that our group does not commit atrocities and is somehow „better“. We still justify the actions of governments on our behalf, often despite evidence to the contrary. None of us wants to know the full extent of torture deemed necessary in Guantanemo by our American allies. Although that does not make it excusable, it is a human trait to not want to know. For ordinary Germans of the Nazi era, it was easier to imagine their suddenly absent schoolmates and neighbours as having gone to America thant to imagine them being gassed at Auschwitz.

Despite their immeasurable suffering, could your family pardon and can you yourself forgive Germany?

My parents probably did not and could not. „Nie wieder nach Europa“ was their invariable comment after the war when friends began to speak of the pleasures of going „home“ where good food and great music were readily available.

Waldstein-Generationen (© H. Wilkes)

Waldstein-generations (© H. Wilkes)

For me, the answer is very different. I had grown up in Canada with my own experiences of anti-Semitism, and I had learned that there were good people and bad people in all parts of the world. Once I was old enough to travel, I was repeatedly drawn to Europe and especially to the German-speaking lands where I met more and more people whose kindness and level of understanding astonished me. I am, of course, speaking largely of a new generation, people who themselves were too young to be direct participants, but who have asked the hard questions. And I must stress again and again that in my experience, more than any other nation, Germans have asked these questions and continue to ask them.

With these forgiving words in mind, do you think of certain individuals and encounters in particular?

When I think of a new generation of Germans, I think of those I have met during the research for this book. I picture the young man who took me up the tower in his home town to show me the remains of a concentration camp. Repeatedly he has wrestled with the issue of how his good and caring parents could have acted as they did. I think of strangers who have become my friends, of people who reached out to me with offers of help in translating the book. I think of Germans who welcomed me to their homes as if I were a long-lost cousin, and who have enabled me to put a real face on German kindness. In turn, I have come here to put a real face on being a Jew of German origin, knowing fully that this makes me a Sondervogel, a rare bird in this land where the only Jews are largely recent arrivals from other lands. But my roots are here.

Is the time ripe for significantly more communication, exchange and talk with fellow Jewish citizens and contemporaries?

Absolutely. More and better communication and mutual understanding are crucial. What other way is there to prevent a repetition of the Third Reich and of other historical horrors?

Transport-card from the year 1943 (© H. Wilkes)

Transport-card from the year 1943 (© H. Wilkes)

What do you wish for in particular with regard to the coexistence of Jewish citizens and contemporaries from other religions and cultures?

I personally think a step in the right direction would be to stop categorizing people according to race or religion or even nationality. I am a Jew, but I no more represent all Jews than you represent all Christians- or all atheists or all members of any group. And certainly, no one of you could claim to speak for all Germans. Jews too have many different opinions on every issue, as do all people.

There are good people and not-so-good people to be found in every family. How much more is that the case in a larger group? There are good people and not so good people to be found in Canada and in Germany and in every other land and in every race and in every culture. No one represents me, and I represent no one else. No one is „typical“, and we must all learn to see each other as individuals rather than as members of a group in whom clever politicians can stir up animosity toward all members of some other group.

References:

„Das Schlimmste aber war der Judenstern. Das Schicksal meiner Familie“

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Scheinheiligkeit als größte Blase des 21. Jahrhunderts

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Im Angesicht gesellschaftlicher, politischer sowie finanz- und marktrelevanter Fehlentwicklungen ermutigte Prof. Dr. Thomas Druyen in seiner bereits 2012 im MAXLIN Verlag erschienen Buch „Krieg der Scheinheligkeit„, den Schleier der stark verbreiteten Scheinheiligkeit zu zerreißen. Auf seinem spannend und sehr informativ gezeichneten Weg dorthin entpuppt sich diese allzeit präsente Scheinheiligkeit als Geißel und „größte Blase des 21. Jahrhunderts“. Gewinnen Mut und Verantwortung am Ende die Oberhand, so bleibe der Weg zur „Konkretethik“  nicht weiter versperrt. Nachgefragt: Im Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Druyen.

Herr Prof. Druyen, Sie haben Ihre Publikation „Krieg der Scheinheiligkeit“ den „Treuen und Authentischen“ unter uns gewidmet. Sterben Eigenschaften wie etwa Geradlinigkeit und Glaubwürdigkeit Ihrer Ansicht nach zunehmend aus?

Prof. Dr. Thomas Druyen (Fotos: Markus Feger)

Prof. Dr. Thomas Druyen (Fotos: Markus Feger)

Tugenden und Werte sind sicherlich weiterhin vorhanden. Aber es wird immer schwieriger, sie umzusetzen und durchzuhalten. Allein die Aufrichtigkeit stößt an ihre Grenzen, solange politische und ökonomische Interessen, Geldwahn und Vorteilswahrung die Gesellschaften dominieren.

Wo nur der Erfolg und der Selbstnutzen im Vordergrund stehen, sind Werte leider eher Sand im Getriebe. Diese Struktur führt zwangsläufig zur Heuchelei.

Mit Ihrem Buch sprechen Sie die Scheinheiligkeit an, die sich praktisch wie eine Seuche verbreitet.

Die Vortäuschung falscher Tatsachen ist zu einem Grundmuster der öffentlichen Kommunikation geworden. Das Spektrum reicht von harmloser Beschönigung, Hochstapelei, Amtsmissbrauch bis hin zur vorsätzlichen Verschleierung von Finanzkrisen, Waffenhandel und Parallelwelten. Ob Dopingskandale, Korruptionsaffären oder despotisches Herrschaftsgebahren, solange der Zweck die Mittel heiligt, hat der Schein als systemischer Deckmantel Hochkonjunktur. Nehmen wir nur die vielen Skandale und Skandälchen der letzten zwölf Monate – und da hat jeder Leser sofort viele Bilder im Kopf – spüren wir die Krake der Scheinheiligkeit. Dies betrifft aber nur bekannt gewordene Entlarvungen. Es liegt in der Natur der Scheinheiligkeit Nebelkerzen zu werfen und Ablenkungsmanöver zu starten. Daher ist uns der Großteil dieser manipulativen Strategie gar nicht bewusst. Und genau das macht sie zum Virus und zum Gift.

Worin liegen die Ursachen und warum verstärkt sich dieser Trend zunehmend?

Sicher nicht, weil der Mensch an sich schlechter geworden ist. Aber seine Verführbarkeit ist enorm gewachsen, weil jene, die sich weltweit vor allem in einem wohlhabenden Umfeld befinden, immer stärker von äußeren Statuszielen anlocken lassen. Diese individuelle und kollektive Blendung hat ihre Ursache in einer fast religiösen Aufwertung von Geld, Erfolg und Wachstum. Drei zentrale Scheinheiligkeiten dokumentieren wie weit sich Illusion und Wirklichkeit schon voneinander verabschiedet haben: Erstens wird zwar von einer Weltgesellschaft mit sieben Milliarden Menschen gesprochen, aber de facto haben höchstens zwei Milliarden Zugang zu dieser Lebensqualität.

Zweitens erzielt die Realwirtschaft nur ein Viertel jener Umsätze, die der Finanzsektor erreicht. Das bedeutet, dass nur ein winziger Teil von Banken, Unternehmen und Netzwerken noch in der Lage ist, gewinnbringend am großen Spiel teilzunehmen. Und drittens leben zwar alle Nationen im 21. Jahrhundert, aber ihre kulturellen, religiösen, sozialen, politischen und ökonomischen Entwicklungsstufen sind teilweise Jahrhunderte voneinander entfernt. Insofern ist es eine lächerliche Illusion von einer souveränen Weltpolitik zu sprechen. Vor diesem Hintergrund unzähliger Unvereinbarkeiten wurde die Scheinheiligkeit zu einem Medium der Macht und der Ohnmacht.

Auch in der Politik nimmt das Phänomen „Scheinheiligkeit“ erkennbar zu. Ein gefährliches Unterfangen?

Es ist sicherlich gefährlich und furchteinflößend, wenn die von uns gewählten Repräsentanten die Wirklichkeit nur aus ihrer parteipolitischen Perspektive betrachten. Etwas augenzwinkernd wäre es ja auch nicht ratsam, wenn in der Bundesliga ein Vertreter der Heimmannschaft als Schiedsrichter auftreten würde. Wenn man Politik betreibt, um letztlich Wahlen zu gewinnen, kann man seine Aufgabe nicht mit der nötigen Distanz wahrnehmen. Das politische und kulturelle Management eines Landes muss sich als Vertretung aller verstehen. Wer nur Klientelpolitik betreibt, ist im letzten Jahrhundert stehen geblieben. Bei den vielen chaotischen und kernlosen Botschaften von Politikern aus allen Parteien scheint dies aber genau der Fall zu sein. Viele Vorkommnisse der letzten Monate dokumentieren eindeutig, dass die Scheinheiligkeit in der Politik zu Hause ist.

Wie erklären Sie sich das Phänomen, wenn sich Politiker, die eigentlich vom Volk beauftragt sind, in ihrem Denken, Handeln und in der Entscheidungshaltung extrem verselbständigen und vom eigentlichen Willen des Volkes abwenden?

Dies ist sicherlich keine vorsätzliche Abwendung. Vielmehr entspricht es einer strukturellen und psychologischen Überforderung. Der Raum um eigenständige Politik zu machen, ist sehr eng geworden. Schulden, Finanzkrisen, Währungsprobleme und das Schmieden politischer Allianzen sind ein ständiger Drahtseilakt. Da hat man Angst vor dem großen Wurf und sucht Sicherheit in Detailfragen. Da ist es nicht verwunderlich, dass man um den heißen Brei herumredet. Die Tragik liegt darin, dass die Politik den komplexen Verhältnissen hinterherhinkt ohne sie wirklich noch proaktiv gestalten zu können. Da ist das Verfolgen eigener Interessen zwangsläufig, fast wie ein Weg zur Selbstorientierung.

Sie plädieren dafür, sich wieder mehr dem gesunden Menschenverstand zuzuwenden. Quasi als Notwehr bzw. Waffe gegen die zunehmende Scheinheiligkeit?

Die systemische Scheinheiligkeit ist zurzeit die Antwort und der Ausdruck unserer Ohnmacht.  Niemand weiß genau wie diese globale und voneinander abhängige Welt richtig gestaltet werden soll.  In diesem geistigen Vakuum kann ein gesunder Menschenverstand erste Anhaltspunkte bieten. Demnach ist zum Beispiel jedem klar, dass ein bestimmtes Maß an Verschuldung zum Untergang führt. Dass auch starke Länder nicht alle Probleme der anderen schultern können. Dass jedes System, jede Kultur, jede Firma und jeder Mensch eigene Interesen verfolgt. Wenn wir allein diese drei allen verständlichen Einsichten mit der Wirklichkeit abgleichen, sehen wir sofort, wie weit wir von einem vernünftigen Weg abgekommen sind. Insofern kann ein gesunder Menschenverstand gerade jetzt als Kompass dienen. Aber auch hier ist zu berücksichtigen, den einen gesunden Menschenverstand gibt es nicht – das wäre ja diktatorisch. Wir müssen einen gemeinsamen gesunden Menschenverstand suchen, der ein Mindestmaß an Fairness für alle beinhaltet.

Die aktuelle Euro- bzw. Finanzkrise verursacht in der breiten Bevölkerung eine Ohnmacht, die bedenklich ist. Lassen sich auch hier die Problematiken relativieren, wenn bei jedem einzelnen Bürger der gesunde Menschenverstand deutlicher zum Zuge kommt?

Es ist eher die Ohnmacht der Mächtigen, die die Ohnmacht der Bürger hervorruft. Im alltäglichen Leben ist ein gesunder Menschenverstand ständig aktiv, ohne ihn könnten wir gar nicht überleben. Sehen Sie nur den Straßenverkehr: neben den Regeln ist es der Wille der Einzelnen sich einzufädeln, der das Ganze nicht zum vollkommenen Chaos führt. Als Bürger müssen wir von den Politikern und Konzernlenkern viel mehr Verantwortung fordern als Konzernzahlen, Krisenerläuterungen und scheinheiliges Palaver.

Um zu erfolgreichen Ergebnissen zu kommen, müsste der gesunde Menschenverstand vor allem auch bei den Politikern dominieren. Ist ein solches Zusammenspiel nicht fast aussichtslos angesichts der Abschottung, die Politik ja durchaus praktiziert?

Da gebe ich Ihnen vollkommen Recht. Mit der gegenwärtigen Geistesverfassung  werden die Probleme nur verschärft. Glauben wir Albert Einstein, der sagte, dass man mit der gleichen Art und Weise, mit der Probleme erzeugt wurden, sie nicht lösen kann.  Wir müssen uns verwandeln.

Wer Ihr Buch aufmerksam liest, der erfährt, dass Ihnen der Weg hin zur „Konkrethik“ sehr am Herzen liegt. Was ist im Wesentlichen darunter zu verstehen?

Dies ist meine Vorstellung eines Weges, der zur notwendigen Verwandlung führen könnte. Jahrtausendelang hat uns die Ethik wunderbare Ideale und Anregungen geschenkt. Aber jetzt haben wir keine Zeit mehr. Nun kommt es darauf, was wir konkret daraus machen. Das meine ich ganz skizzenhaft mit Konkrethik. Im Prinzip geht es um die praktische Aufrichtigkeit, mit bestem Gewissen etwas verantwortungsbewusst zu Ende zu bringen und umzusetzen. Konkrethik ist die Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns. Nicht mehr Versprechen und Ankündigungen sind gefragt, sondern definitive Ergebnisse. Wir haben erst dann gelernt, etwas richtig zu machen, wenn wir es richtig gemacht haben. In meinem Buch wird diese Idee anschaulich gemacht.

Sie sind Professor für Vergleichende Vermögenskultur und Vermögenspsychologie an der Sigmund Freud Universität in Wien und haben Millionäre bzw. Milliardäre interviewt. Welche Schlüsse konnten Sie daraus in Hinblick auf „Konkrethik“ bei sehr vermögenden Zeitgenossen ziehen?

Auch die allermeisten Vermögenden wissen, dass die wichtigsten Dinge im Leben mit Geld nicht zu bezahlen sind: Gesundheit, Liebe und Glück. Und ebenso wird den Meisten immer bewusster, dass eine Welt mit einer Handvoll Privilegierter und einem Heer Chancenloser absolut kein Zukunftsmodell sein kann. Insofern ist die Konkrethik ein Modell für alle Menschen, alle Milieus und auch für alle Kulturen.

Wir möchten die Publikation „Krieg der Scheinheiligkeit“ ausdrücklich empfehlen. Fehlentwicklungen und Probleme der Zeit werden schonungslos angesprochen und  durchweg authentisch kommentiert. Darüber hinaus wird der Leser stark einbezogen und aufgefordert, sich in die Denkprozesse einzuklinken. Ein Buch mit sehr viel Mehrwert und gekonnt geschrieben.  Was wünschen Sie sich persönlich im Sinne eines Effekts der Nachhaltigkeit Ihrer Publikation?

Vielen Dank für Ihre Einschätzung und Ihr Kompliment. Nach ebenso ermutigenden Reaktionen von Lesern habe ich die stille Hoffnung, dass es in so viele Hände und Köpfe gerät wie nur möglich. Damit meine ich weder Interessen am Marketing noch an der Person des Autors, sondern an der Chance, dass sich jeder Leser seines eigenen gesunden Menschenverstandes vergewissern kann.

 
Krieg der Scheinheiligkeit

BUCHEMPFEHLUNG:

Krieg der Scheinheiligkeit
Autor: Thomas Druyen

MAXLIN Verlag 288 Seiten

ISBN: 978-3981414141
Preis: 24,90 Euro
Fotos Th. Druyen: Markus Feger
Buchcover: MAXLIN Verlag

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