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Im Gespräch: “Tafeln sind weder sozial noch nachhaltig”

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Vor wenigen Tagen feierten die Tafeln in Deutschland ihr 20-jähriges Bestehen. Einst aus den Vereinigten Staaten zu uns hinübergeschwappt, versorgt diese soziale Bewegung Bedürftige mit “überschüssigen, aber qualitativ einwandfreien Lebensmitteln”. Was sich anhört, wie ein funktionsfähiges Hilfe-System zur Linderung von Not und Armut lässt sich durchaus auch kritisch betrachten. Wir haben nachgefragt. Im Gespräch mit Prof. Dr. Stefan Selke, Professor für Soziologie an der Fakultät “Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft” der Hochschule Furtwangen University im Schwarzwald.

Prof. Dr. Stefan Selke

Prof. Dr. Stefan Selke
(Fotografin: Lena Böhm, © St. Selke)

Herr Professor Selke, 20 Jahre “Tafelbewegung” in Deutschland – gibt es Anlass zum Feiern?

Aus meiner Sicht sicher nicht. Tafeln sind eine kurzfristige Erleichterung. Aber Tafeln sind nicht angenehm, höchstens hinnehmbar. Das dort Erhaltene wiegt oft das dort Erlebte nicht auf. Die Existenz der Tafeln selbst ist der Skandal: Menschen in diesem Land haben nicht genug, um sich selbst zu versorgen, selbst wenn sie arbeiten (working poor).

Langfristig ändern Tafeln nichts an den Ursachen von Armut mitten im Reichtum. Und damit sichern sie sich ihre eigene Existenz – dies gilt es anlässlich des ‚Jubiläums’ zu überdenken. Die Tafeln trifft dafür aber keine Schuld. Sie verweisen auf das Versagen der Politik, die „Armut made in Germany“ produziert und dann in ein Freiwilligensystem exportiert. 20 Jahre sind der Beweis dafür, dass man mit Schirmherrschaften für Tafeln und Freiwilligenmanagement Armut nicht sozial nachhaltig bekämpfen kann.

Werden hier zwei Problematiken zusammengeführt (Entsorgung noch brauchbarer Lebensmittel sowie die Nöte von Bürgern in prekärer Situation), in der Hoffnung, das eine Problem könne das andere aus der Welt schaffen?

Auffallend ist die Modifikation der zentralen Legitimationsfigur der Tafeln innerhalb einer großen Allianz der Lebensmittelretter. Von der frühen Figur einer sozialen Strategie (Hilfe für Wohnungslose) haben sich die Tafeln verabschiedet und setzen verstärkt auf eine ökologische Strategie, innerhalb derer sie sich als Umweltbewegung stilisieren. Problematisch ist, dass diese Legitimation auf falschen Annahmen und einer problematischen Verknüpfung von zwei nicht miteinander verbundenen Phänomenen basiert. Inzwischen konnte belegt werden, dass es durchaus keine alarmierende Lebensmittelverschwendung gibt, wie immer wieder behauptet wird. Auch lässt sich Armut nicht ursächlich durch Lebensmittelspenden abschaffen. Eine Reduzierung der Überflussmenge bei Lebensmitteln führt überhaupt nicht zu einer Senkung der Armutsquote. Die Tafelbewegung basiert also auf einer fragilen Grundannahme. Die für die Lebensmittelindustrie imagefördernde und kostensparende Entsorgung der Überschüsse durch die Tafeln löst aber weder das Überschuss- noch das Armutsproblem ursächlich.


Tafeln in Deutschland – ein Grund zum Feiern? (Fotos: St. Selke)

Sie sind als Kritiker der Tafelbewegung bekannt. Worin liegt Ihrer Ansicht nach das Hauptproblem dieser Form der Hilfestellung?

Tafeln sind weder sozial noch nachhaltig, auch wenn sie mit solchen Etiketten versehen werden. Tafeln sind vielmehr Ausdruck eines schleichenden kulturellen Wandels. Sie sind ein Beispiel für sog. ‚Shifting Baselines’, d.h. sich langsam verändernder Orientierungsrahmen. Sie zeigen, wie sich der kulturelle Rahmen dauernd und in derart kleinen Schritten verändert, dass dies meist unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleibt. Innerhalb der Tafelbewegung passen sich Werthaltungen und Standards flexibel der Praxis des eigenen (Nicht-)Handelns an. So kommt es immer wieder zu kollektiven Versäumnissen, die langfristig Folgen nach sich ziehen. Erstens ist für diese schleichenden Veränderungen die unhinterfragte Annahme von Sachzwängen verantwortlich. Diese vereiteln das Denken in Alternativen und ziehen eine Akzeptanz von Tafeln als Vereinfachungs- und Entlastungsstrategien nach sich. Zweitens werden schleichende Veränderungen durch gruppendynamische Prozesse stabilisiert.

Die eigene Wahrnehmung wird immer wieder mit ähnlich denkenden Personen abgeglichen. Es verwundert daher nicht, dass sich rund um die Tafelbewegung “Überzeugungsgemeinschaften” herausgebildet haben, die sich wechselseitig in ihren Ansichten bestätigen. Und diese Hauptansicht lautet (aus meiner Sicht): Es ist heute einfacher (und besser) öffentliche Akzeptanz für symbolische Armutslinderung zu erhalten, als Legitimation für echte (d.h. nachhaltige) Armutsbekämpfung. Oder anders: Engagementpolitik ist Engagement statt Politik.

Lassen sich weitere ggf. bedenkliche Nebeneffekte analysieren, die sich aus der Tafelbewegung ergeben?

Die Shifting Baselines, die ich gegenwärtig beobachte, beziehen sich auf viele Dimensionen: Grenzen der Erträglichkeit ändern sich (Stichwort: Pferdelasagne für Arme), Sichtweisen auf Armut ändern (… gut aufgehoben bei Tafeln), gesellschaftliches Engagement wird umgedeutet (CSR statt Steuern zahlen), politische Verantwortung ebenso (Schirmherrschaften und Kampagnen statt Programme). Diese Liste lässt sich fortsetzen…

Ist es heikel, sich kritisch zu den Tafeln zu äußern oder werden Ihre Einwände von den Akteuren und Befürwortern der Tafeln mit Bedacht wahrgenommen?

Ich erhalte Droh- und Schmähbriefe und Mails – es ist also nicht gerade angenehm, Tafeln zu kritisieren. Whistleblower versorgen mich mit Fakten über die internen Beleidigungen, die über mich kursieren. Dabei hat wohl kaum einer, der so schreibt und denkt, gelesen, was ich sage. Ein beliebtes Missverständnis ist auch, von einem 2-Minuten-Statement im Fernsehen auf den Differenzierungsgrad meiner Kritik zu schließen. Neben der ausgeprägten Intellektuellenfeindlichkeit gibt es viele “beleidigte Selbstbilder” – nicht überall, aber bei einigen Entscheidern. Umgekehrt erhalte ich immer wieder motivierende Mails und Zusprache von Armutsbetroffenen, die sich verstanden und vertreten fühlen.

Sehen sich Politiker möglicherweise durch die Tafelbewegung der Pflicht enthoben, sich um überfällige Grundsicherungsfragen jenseits der Hartz-Gesetzgebung zu bemühen?

Das ist das klassische Argument der Vertreter der Postdemokratie. Ich sehe das genauso. Im Armutsbericht von Rheinland-Pfalz wurde Hartz IV eine “staatlich verordnete Unterversorgung” genannt. Tafeln sind sehr fleißig darin, diese Versorgungslücke zu füllen. Und dabei natürlich “Druck aus dem System zu nehmen” – das sage nicht ich, das sagte selbst Sabine Werth, die Gründerin der ersten Tafel in Deutschland.


Tafeln in Deutschland – kein Grund zum Feiern! (Fotos: St. Selke)

Einerseits zählt Deutschland zu den reichsten Ländern der Welt, anderseits wird zunehmende Armut immer sichtbarer. Wo liegen die politischen Defizite?

Das ist eine Frage, die weit über das Thema Tafeln hinausgeht. Zunächst verweist das auf die neue Armutsökonomie. Tafeln profitieren aufgrund ihrer sozialen Erwünschtheit und dem “gefühlten Erfolg” von steigenden Imagegewinnen, die sie innerhalb eines armutsökonomischen Marktes an Industriepartner und Sponsoren weitergeben. Sie passen zudem perfekt in die holzschnittartige Logik einer Medienlandschaft, die in personifizierbaren “Helden des Alltags” einen Gegenpol zu Krisenerscheinungen sucht und findet. Die Unternehmen sind dann die kollektiven Helden, die ihrer gesellschaftlichen Verantwortung durch Unterstützung der Tafeln gerecht werden.

Was damit verschwiegen wird ist die Tatsache, dass die Unternehmen an anderen (kostspieligen) Stellen, sich gerade vor genau dieser Verantwortung drücken. Armutsökonomie bedeutet, Armut wird eine Ware von der Dritte profitieren, die das dann als Engagement ausgeben können. Die politischen Defizite liegen dort, wo mit Selbstverständlichkeitsunterstellungen operiert wird, Tafeln einfach als Erfolg deklariert werden oder Antworten auf Anfragen an die Bundesregierung ins Leere laufen. Wir wissen nicht, was Tafeln langfristig mit Menschen machen, Tafeln sind kein Thema im Armuts- und Reichtumsbericht. Das alles sind Defizite. Aber das größte Defizit ist sicher die Problemverlagerung selbst. Statt Armut zu bekämpfen wird Armut gelindert – in einer Gesellschaft des Spektakels.

Tragen die “Hartz-IV”-Gesetzgebungen zu der bedenklichen Armutsentwicklung in Deutschland bei und falls ja, in welchem Maße?

Bedenklich ist für mich die Koppelung sozialstaatlicher Agenturen und der Freiwilligenagenturen. Konkret: Menschen, die Hartz beziehen, werden vom Jobcenter an die Tafel verwiesen. Bei Kürzungen ebenso. Das ist scheinbar so selbstverständlich – genau das ist der Skandal. Wo hören hohheitliche Verpflichtungen des Staates auf und wo beginnt freiwilliges Engagement? Eine Gesellschaft, die Engagement als Steuerungsgröße in ihre Politik einbaut, macht sich an ihren schwächsten BürgerInnen schuldig. Das ist genau der Rückfall in die Vormoderne.

Es gibt inzwischen Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Sehen Sie darin eine Chance, die Armutsproblematiken in den Griff zu bekommen?

Das Thema BGE überfordert mich maßlos, das gebe ich gerne zu. Viele Konzepte, viel Unvergleichbares. Aber: Dort wo es um die Autonomie des Bürgers geht, bin ich dabei. Deswegen habe ich das “Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln” (http://aktionsbuendnis20.de/) gegründet. Als Mitbegründer des “Kritischen Aktionsbündnisses 20 Jahre Tafeln” trete ich ein für eine “armutsvermeidende, existenzsichernde und bedarfsgerechte Mindestsicherung”. Sie soll der Garant für ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges und beschämungsfreies Leben” sein. Das Ziel ist für mich eine politisch gewollte Verknüpfung von echten Nachhaltigkeitskriterien, den vielen inspirierenden Modellen alternativer Ökonomie und der Praxis der Tafeln. Und da gehört das BGE dazu.

Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass ein solches Grundeinkommen innerhalb eines überschaubaren Zeitraums realisiert werden kann?

Eine Frage, die jeden überfordert. Ich wäre schon froh, wenn es endlich eine politisch gewollte Beschäftigung mit den Tafeln gäbe – außerhalb der affirmativen Überzeugungszirkel. Und da sollten auch Befürworter des BGE mit am Tisch sitzen.

Alle Fotos: St. Selke

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Politik – Beratungen im Zentrum der Macht

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Wundern Sie sich gelegentlich, wenn unser Personal in der Politik den Eindruck vermittelt, es zähle auf jedem Gebiet zum ausgewiesenen Expertentum? Keine Frage bleibt unbeantwortet, ganz gleich, welcher politische und gesellschaftliche Bereich auch angesprochen wird. Doch hinter soviel vermeintlichem Wissen stehen unzählige Berater, die geeignete Strategien entwickeln und Politikern tagein und tagaus die in ihrer Sicht wichtigen und richtigen Antworten soufflieren. Strategische Grundsatzarbeit – so lautet die Devise. Dies hat in der Politikwissenschaft, aber auch im politischen Betrieb Hochkonjunktur und betrifft natürlich auch auf die zurückliegende, weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise.

Fragen danach, welche Zukunftsthemen angegangen werden müssen, warten auf professionelle Beantwortung. Haben sich in der Vergangenheit politische Konzepte bereits bewährt, sodass sie weiter verfolgt werden können oder müssen Lösungsstrategien ganz neu angedacht werden? Wie sieht es mit den finanziellen Spielräumen aus? Lassen sie sich gegebenenfalls erweitern, um damit gleichzeitig auch den Handlungsspielraum ausweiten zu können? Fragen über Fragen, denen wir uns gemeinsam mit unserem Gesprächspartner Dominic Schwickert widmen. Der Politikwissenschaftler hat zu diesen Themen ein Buch mit dem Titel: “Strategieberatung im Zentrum der Macht: Strategische Planer in Regierungszentralen” geschrieben. Wir haben nachgefragt.

Dominic Schwickert, Politikberater (Foto: D. schwickert)

Dominic Schwickert, Politikberater

Dominic Schwickert, in Ihrem Buch geht es um politische Strategieberatung von Regierungschefs. Warum benötigen altgediente Politiker überhaupt so viel Beratung?

Politik ist in einer modernen, wissensbasierten Gesellschaft alles andere als ein triviales Geschäft. Regierungschefs sind daher auf Heerscharen von Fachexperten angewiesen, die ein Problem gleichermaßen in seiner Tiefe und Breite durchdringen können. Diese Experten sammeln und bewerten täglich Informationen, bereiten Themen auf und entwickeln konkrete Handlungskonzepte.

Inhalte sind das eine, es geht aber vor allem auch um Macht?

Genau, in der Politik geht es nicht nur um Inhalte, sondern auch um Macht. Um im politischen Haifischbecken zu überleben und Politik nach eigenen Wertvorstellungen gestalten zu können, brauchen Regierungschefs deshalb stets einen genauen Überblick über Stimmen und Stimmungen: Bin ich mit meiner Position im Parlament und im Kabinett mehrheitsfähig? Wie ist die Gemütslage an der Parteibasis? Was sagen die neusten Umfragen und die Kommentarspalten der Leitmedien? Und was denkt und plant gerade der politische Gegner? Für derartige Fragen braucht ein Regierungschef Kommunikationsprofis in seinem Umfeld, die über ein feines politisches Gespür verfügen. Die Unterscheidung zwischen der Fach- und der Kommunikationsberatung ist aber natürlich nur eine idealtypische. In der politischen Praxis sind die Grenzen hier fließend. Die uneingeschränkte Loyalität zum Regierungschef ist jedoch bei beiden Beratungsformen Grundvoraussetzung.

Ist die Frage der Loyalitäten nicht genau der Knackpunkt in der Politikberatung?

Absolut! Auf dem politischen Beratermarkt tummeln sich so einige Akteure, die sich selbst gern als Politikberater bezeichnen, aber im Grunde letztlich klassisches Lobbying betreiben. Wobei man auch sagen muss: Lobbyismus hat unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten durchaus eine Existenzberechtigung. Durch ihn gelangen die legitimen Interessen wichtiger gesellschaftlicher Akteure samt ihrer Fachexpertise in den politischen Prozess. Und schließlich sind Greenpeace, Amnesty International oder der DGB letztlich auch politikberatende Lobbyorganisationen, wenn auch in den Augen vieler “für die gute Sache”.

Wie können solche Beratungen legitim bleiben?

Wichtig ist, dass die Politik bei interessengeleiteter Politikberatung – nichts anderes ist Lobbyismus – zu jeder Zeit Herr des Verfahrens bleibt. Dafür muss Lobbyarbeit als solche transparent sein, das ist entscheidend. Die Hotelsteuer bei der Amtsübernahme der schwarz-gelben Bundesregierung hat es gezeigt: Sobald eine Regierung auch nur in den Verdacht von Klientelpolitik und einseitiger Beeinflussung gerät, bekommt sie ein Problem. Und das ist auch gut so.

Warum haben Sie diese Lobbyismus-Problematik nicht zum Hauptthema Ihres Buches “Strategieberatung im Zentrum der Macht” gemacht?

An der äußerst spannenden Frage nach der Legitimität von Lobbyismus haben sich in den letzten Jahren schon einige Politikwissenschaftler abgearbeitet. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass sich die Debatte zu stark auf die Arbeit von externen Organisationen wie Agenturen, Stiftungen, Unternehmensberatungen und Kanzleien fokussiert.

Dies hat ja auch augenscheinlich ein wenig Überhand genommen.

Sicher: die externe Politikberatungsbrache ist dynamisch und boomt. Und natürlich erregt es die Gemüter, wenn irgendwelche Kreativköpfe aus einer knalligen Werbeagentur oder die hochbezahlten McKinseys und Roland Bergers im Nadelstreifen in die heiligen Regierungshallen einmarschieren. Das hat etwas Glamouröses und gleichzeitig gerade im Hinblick auf Steuergelder etwas Unanständiges. Und obwohl diese Beratungsbeispiele viel Aufmerksamkeit erzeugen, spiegeln sie meines Erachtens nur einen sehr kleinen Teil des deutschen Regierungsalltags wider. So haben es in Deutschland viele externe Politikberater immer noch schwer, im Zentrum der politischen Macht Fuß zu fassen. Grund dafür ist insbesondere der Faktor Vertrauen im Dunstkreis der Regierungschefs. Interne Beratung besitzt deshalb einen großen Loyalitätsvorschuss gegenüber externer Beratung, weshalb letztere immer nur ergänzend aber niemals ersetzend sein kann.

Was hat Sie angetrieben, sich eingehender mit der “Beratung von innen” zu befassen?

Der Einfluss dieser öffentlichkeitsfernen und geräuschlosen Form der Politikberatung auf die Entscheidungen einer Regierung ist kaum zu überschätzen. Deswegen wollte ich mich tiefergehend mit dem Innenleben von Regierungsorganisationen auseinandersetzen. Ich habe mich gefragt: Wie gelangen innovative Ideen und zukunftsweisende Konzepte zu den politischen Entscheidungsträgern? Wie laufen die regierungsinternen Beratungsprozesse konkret ab? Wer sind die regierungsinternen Strategieberater der Regierungschefs und wie arbeiten sie? Mein erklärtes Ziel war es zunächst, die regierungsinternen Strukturen und Abläufe besser zu verstehen. Darauf aufbauend habe ich mich der Frage gewidmet, wie die Strategieberatung der Regierungschefs optimiert werden kann.

Was genau bedeutet dann “Strategieberatung der Regierungschefs”?

In jeder Regierung gibt es – meist in den Grundsatz- und Planungseinheiten der Regierungszentralen – Mitarbeiter, die den Regierungschef in grundsätzlichen und vor allem langfristigen Fragen beraten. Regierungschefs bewegen sich hauptsächlich auf dem sehr taktisch geprägten Parkett der Tagespolitik. Sie haben im politischen Alltagsgeschäft meist eine so hohe Termindichte zu bewältigen, dass ihr Zeitbudget für strategische Fragen äußerst begrenzt bleibt. Joseph Schumpeter hat Regierungschefs einmal mit Reitern verglichen, die einen Großteil ihrer Zeit darauf verwenden, sich selbst im Sattel zu halten, so dass sie keinen Gedanken daran verschwenden können, wohin die Reise gehen soll. Das ist sicherlich überzeichnet. Aber richtig ist, dass ein Regierungschef auf konzeptionelle und strategische Köpfe innerhalb seines Apparats angewiesen ist, die die Themen von morgen und übermorgen im Blick haben und damit im Idealfall Antworten auf Fragen bereit halten, die von der Politik heute noch gar nicht gestellt werden.

Strategisches Regieren könnte man dann also als ein “Vordenken” in der Politik bezeichnen?

Ja, so könnte man es sagen. Regieren bedeutet nicht nur die Amtsgeschäfte zu verwalten oder Krisen zu managen. Regieren heißt auch, eine Vision davon zu entwickeln, wo das Land in 10, 15 oder 20 Jahren stehen soll. Dafür braucht man übergeordnete Ziele, Leitprinzipien und vor allem innovative Ideen. Nichts anderes ist Strategie. Vielleicht ist es an dieser Stelle wichtig, den Strategiebegriff noch etwas enger zu fassen als er häufig im politischen Alltagsgebrauch verwendet wird. Im Wahlkampfkontext beispielsweise bezieht sich Strategie häufig ausschließlich auf machtpolitische Aspekte wie den Wahlsieg oder die Verbuchung politischer Erfolge. Das ist aber nur ein verkürztes Verständnis von politischer Strategie. In einem umfassenderen Verständnis geht es darum, langfristige Gestaltungs- und Machtziele gleichermaßen zu verfolgen. Letztlich liegt der politischen Strategie das Ideal einer aktiven und vor allem zukunftsorientierten Politikgestaltung zugrunde.

Viele politische Beobachter sprechen von einer zunehmenden Ohnmacht der Politik. Was halten Sie von dieser Einschätzung?

Angesichts von Globalisierung und Europäisierung kann man diese Einschätzung sicherlich teilen, da durch diese Entwicklungen wesentliche Entscheidungen nicht mehr nur in Berlin, München oder Düsseldorf getroffen werden. Die bisweilen schrillen Abgesänge auf die Gestaltungskraft von Politik kann ich aber nicht nachvollziehen.

Warum nicht?

Ich bin der festen Überzeugung, dass den Regierungen in Bund und Ländern nach wie vor genügend strategischer Handlungsspielraum verbleibt, der aber auch genutzt werden will. So leben wie in einer Netzwerkgesellschaft, in der Wissensressourcen immer dezentraler verteilt sind. Das privilegierte Herrschaftswissen gibt es immer weniger und deshalb muss sich die Politik völlig neu ausrichten. Zur Politik im 21. Jahrhundert gehören die stärkere interdisziplinäre und sektorübergreifende Ausrichtung unseres Denkens und Handelns sowie vor allem die Beteiligung der Zivilgesellschaft. So bleibt die Politik handlungsfähig. Zudem lassen sich die großen Zukunftsthemen wie Bildung, Energie, Migration, Demographie und Strukturwandel immer weniger in das enge Korsett von klassischen Ressorts pressen. So wird die Liste ressortübergreifender Herausforderungen immer größer. Regieren wird dadurch anspruchsvoller, aber noch lange nicht ohnmächtig. Im Gegenteil: Wir treffen heute die relevanten Entscheidungen, wie unsere Welt im Jahre 2020 oder 2030 aussehen wird.

Können Sie dazu konkrete Beispiele benennen?

Denken Sie nur an die aktuelle Debatte um die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke, die Anwerbung ausländischer Fachkräfte oder die Förderung der Elektromobilität und Nanotechnologie. Aber auch die Sicherung der sozialen Sicherungssysteme, der Schuldenabbau oder der Umbau der Bundeswehr sind zukunftsträchtige Themen, die eher heute als morgen anzugehen sind. Aufgrund von Langfristwirkungen und Pfadabhängigkeiten stellen wir mit den Entscheidungen von heute die wesentlichen Weichen für das Leben von morgen. Mutige Beispiele für erfolgreiche Strukturreformen der letzten Jahre sind vielleicht die Rente mit 67 oder der Ausbau der Kinderkrippen, die seinerzeit Franz Müntefering und Ursula von der Leyen gegen massiven Widerstand aus den eigenen Reihen durchgesetzt haben. Oder die Agenda 2010 von Gerhard Schröder, die trotz handwerklicher Fehler und massiver Kommunikationsdefizite jetzt in der Wirtschaftskrise erst ihre Wirkung voll entfaltet hat und letztendlich ein großer Erfolg war. Politische Herausforderungen früh genug erkennen und auch ohne unmittelbaren Leidensdruck den Wandel einläuten – das ist der Grundstein für eine zukunftsfähige Regierungspolitik. Leider kommt das in der politischen Praxis nur selten vor.

Gut, aber werden manche “mutigen” Entscheidungen, die Politiker in Hinblick auf die Zukunft treffen, nicht oftmals viel zu früh beurteilt?

Das stimmt, viele Beschlüsse werden allzu schnell mal zu historischen Entscheidungen stilisiert. Was die “Krippen” und die “Rente mit 67″ anbelangt, lehnt man sich aber – glaube ich – nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man sagt, dass hier etwas Zukunftsweisendes auf den Weg gebracht wurde. In der Familien- und Rentenpolitik besteht angesichts des gesellschaftlichen Wandels einfach grundlegender Reform- und Anpassungsdruck. Auch wenn sich nun die SPD wieder von ihrem Beschluss zur Rente mit 67 oder ihrer Agenda-Politik distanziert, keine Partei kann die demographischen Realitäten dauerhaft verleugnen. Ich bin schon der Meinung, dass die Agenda 2010 in gewisser Weise Deutschland ein Stück weit zukunftsfester gemacht hat.

Hat die Agenda 2010 aber nicht auch bewusst einen Niedriglohnsektor installiert, der, wie beispielsweise im damaligen Falle Schlecker, Missbrauchsfälle in der Zeitarbeit überhaupt erst ermöglicht?

Fälle wie Schlecker dürfen sich nicht wiederholen. Das gezielte “Outsourcen” von vormals festangestellten Mitarbeitern an externe Dienstleister, die die Arbeitnehmer im selben Unternehmen für deutlich weniger Gehalt weiterbeschäftigen, ist ein riesiger Skandal. Aber damit sollte man nicht die ganze Zeitarbeit verurteilen, die gerade in der Wirtschaftskrise ein wichtiges arbeitsmarktpolitisches Instrument dargestellt hat. So hat die Zeitarbeit zusammen mit Arbeitszeitkonten und Kurzarbeitergeld dafür gesorgt, dass die Arbeitslosenquote in Deutschland im Gegensatz beispielsweise zu Spanien in den Krisenjahren 2008 und 2009 relativ stabil blieb. Und wenn man sich die Zahlen genauer anschaut, sieht man, dass die Mehrheit der Zeitarbeitnehmer aus der Arbeitslosigkeit kommen. So widersprüchlich es scheint: Die Zeitarbeit leistet letztlich damit auch einen wesentlichen Beitrag zum Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland. Gerade für Langzeitarbeitslose kann sie ein erfolgversprechendes Sprungbrett in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sein, wie eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kürzlich gezeigt hat.

Wenn wir den Fokus noch einmal gezielt auf strategische Beratungen setzen: Wie beurteilen Sie den Einfluss der internen Strategieberater auf die Regierungschefs?

Ich habe in meiner Untersuchung verschiedene Faktoren identifiziert, von denen die Macht der Strategieberater auf den Regierungschef abhängt. Dazu gehört beispielsweise auf systemischer Ebene die Koalitionskonstellation, ob es sich also um eine Einparteienregierung oder eine Koalitionsregierung, eine Wunschkoalition oder eine reine Zweckgemeinschaft handelt. Daneben ist die Anzahl der Vetospieler, die Haushaltslage, die Stimmung im Land und die Amtsdauer einer Regierung eine entscheidende Größe. Da vielerorts noch immer Informationspyramiden und “Dienstweg”-Mentalitäten die Ministerialbürokratie beherrschen, ist auf organisationeller Ebene die Aufhängung der Strategieeinheiten nicht unbedeutend. Der Einfluss der Strategieberater auf das Regierungsgeschäft ist deshalb auch davon abhängig, ob sie in die Abteilungsstruktur eingebunden sind oder aber als Stabstelle direkt dem Regierungschef zuarbeiten.

Inwieweit spielt der jeweilige Führungsstil eines Regierungschefs in diese Aspekte mit hinein?

Der individuelle Führungsstil des Regierungschefs zählt hierbei zu den wichtigsten Faktoren. Gerhard Schröder hatte beispielsweise – Agenda 2010 hin oder her – im Ganzen einen sehr situativen Regierungsstil. Er regierte stark “aus dem Bauch heraus”, was eine professionelle Strategieentwicklung gerade in seiner ersten Amtszeit sehr schwierig machte. Auch wenn Strategien selten von Regierungschefs entwickelt und ausgearbeitet werden, entscheiden sie darüber und verantworten sie. Strategiefragen sind somit letztlich immer Chefsache!

Sie haben die Arbeit der Strategieberater in zehn verschiedenen Staatskanzleien miteinander verglichen. Welches Bundesland hat besonders erfolgreich abgeschnitten?

Ich habe zwar kein Ranking der Bundesländer vorgenommen, aber man kann sagen, dass bestimmte Länder sehr strategieorientiert arbeiten: Als die üblichen Verdächtigen sind hier die traditionell finanzstarken Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen zu nennen, die schlicht die Kapazitäten für eine ordentliche Strategieentwicklung und vor allem auch -umsetzung aufbringen. Hier wurden beispielsweise in den vergangenen Jahren sehr erfolgreiche Nachhaltigkeitsstrategien aufgesetzt. Aber auch Hamburg im Norden und Sachsen im Osten nehmen unter strategischen Gesichtspunkten sicherlich eine Vorreiterrolle ein.

Womit lässt sich das begründen?

Die Gründe sind ganz unterschiedlicher Art: Die Hansestadt war mit ihrem ressortübergreifenden Leitbildprozess “Metropole Hamburg – Wachsende Stadt” sehr erfolgreich darin, die Identifikation der Bürger mit Hamburg zu stärken sowie nachhaltige ökonomische Entwicklungsimpulse zu setzen. Auch die Demographie-Politik der Sächsischen Staatsregierung setzt in strategischer Hinsicht Maßstäbe. Hintergrund ist hier, dass der Freistaat schon heute im Vergleich zu anderen Bundesländern in besonderem Maße von Geburtenmangel, Überalterung und Abwanderung als Folgen des demographischen Wandels betroffen ist. In all diesen Ländern sind auch die Strategieberater entsprechend einflussreich.

Einflussreich und erfolgreich zugleich?

Leider nein, denn nicht überall wo Grundsatz, Planung und Strategie drauf steht, wird auch Grundsatz-, Planungs- und Strategiearbeit geleistet. Und so lässt sich auch aus den erhobenen empirischen Daten eine klare Schlussfolgerung treffen: Strategieakteure in Regierungszentralen sind zu wenig mit originärer Strategiearbeit betraut.

Wie lässt sich denn der Arbeitsalltag der Strategieberater beschreiben?

Die gefühlte oder tatsächliche Allzuständigkeit ist bei den Grundsatz- und Planungseinheiten durchaus ein Problem. Oftmals geht es in ihrem Arbeitsalltag um die Abarbeitung rein operativer Aufgaben, die sich lediglich in ihrem politikfeldübergreifenden Charakter von der Zuarbeit durch andere Ressorts unterscheidet. Dazu kommt angesichts von Personalknappheit ein erhöhtes Arbeitsaufkommen. Eine sorgfältige und sehr zeitintensive Strategieentwicklung ist unter diesen Umständen nur sehr eingeschränkt möglich. In einigen Regierungszentralen ist die Strategiearbeit der zuständigen Mitarbeiter sogar mehr Kür als Pflicht.

Was genau bedeutet das?

Es bedeutet, dass zunächst operativ abgearbeitet wird und – falls vor Feierabend noch irgendwie Zeit übrig ist – wird sich mit strategischen Fragen beschäftigt. Das ist suboptimal. Doch nur mit Ressourcenengpässen zu argumentieren, wäre zu kurz gegriffen. Schließlich werden die Presse- und Öffentlichabteilungen finanziell und personell immer mehr aufgerüstet. Strategiedefizite gehen somit letztlich immer auch auf mangelnden politischen Willen der politischen Entscheidungsträger zurück.

Was muss Ihrer Meinung nach getan werden, damit Regierungspolitik strategischer wird?

Regierungsinterne Strategieberater sollten zunächst mit deutlich mehr Ressourcen ausgestattet werden. Sie brauchen einfach mehr personelle und finanzielle Spielräume, aber auch Freiräume, über Grundlegendes nachzudenken. Strategiefähigkeit hat aber auch sehr viel mit Innovation und Kreativität zu tun. Das fängt bei der Personalpolitik an. Spricht man mit Beamten aus der Personalabteilung gewinnt man manchmal den Eindruck, dass nicht wenige die Ministerialbürokratie im Wettbewerb um die klügsten Köpfe für fürchterlich attraktiv halten. Das halte ich für eine krasse Fehleinschätzung. Um an die Besten der Besten zu kommen, sollte also hier investiert werden.

Welche weiteren Aspekte müssten in Ihrer Sicht einfließen?

Ein weiterer wichtiger Aspekt bezieht sich auf die Organisationskultur, die streng formalisiert alles andere als strategieförderlich ist. Gefragt sind vielmehr netzwerkartige Kommunikationsmuster, die innerhalb der Regierung einen gleichberechtigten und ungezwungenen Austausch von Wissen und Ideen möglich macht. Einen wichtigen Beitrag leisten daneben aber auch gesellschaftliche Debatten über die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen und an welchen Stellschrauben wir dafür heute schon drehen müssen. Sie üben Druck auf die Regierung aus, sich ohne akuten Leidensdruck über den gesamtpolitischen Überbau und eine integrierte Gesamtstrategie Gedanken zu machen.

Damit sprechen Sie im Grunde eine strategische Neuorientierung in der Zukunft an?

Genau! Die Zeit ist gerade jetzt günstig, denn wir sind bei der größten Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahrzehnte dank des hervorragenden Krisenmanagements der Bundesregierung noch glimpflich davon gekommen. Und jetzt, wo die Verwerfungen der Wirtschaftskrise zumindest dem Anschein nach ihren Höhepunkt überschritten haben und die Wirtschaftsinstitute sich wieder mit ihren Konjunkturprognosen überbieten, kann man etwas klarer sehen. Es wäre die ideale Chance für eine wirkliche strategische Neuorientierung.

Wenn wir über Erneuerung sprechen: Müsste es in der Zukunft nicht auch erforderlich werden, dass Politiker für Entscheidungen haften? Es fehlt ein wenig die Konsequenz, die fällig wird, wenn aus massiven Fehlentscheidungen große Schäden entstehen?

Das ist ein spannender Gedanke. Ich wüsste zwar spontan nicht, wie eine solche Haftung konkret juristisch aussehen könnte. Die Zeitverzögerung und die komplexen Wirkungszusammenhänge machen das nicht so leicht. Aber die Grundidee, bei politischen Entscheidungen das Gemeinlastprinzip stärker durch das Verursacherprinzip zu ersetzen und Politiker haftbar zu machen, hat irgendwie Charme. Es wäre auf jeden Fall ein weiterer Anreiz für Politiker, sich an langfristigeren Maßstäben zu orientieren.

Strategieberatung im Zentrum der Macht

Strategieberatung im Zentrum der Macht (Foto. SPREEZ)

Strategieberatung im Zentrum der Macht: Strategische Planer in deutschen Regierungszentralen Autor: Dominic Schwickert

VS Verlag; Auflage 1 erschienen am 14. Oktober 2010 Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3531174304 ISBN-13: 978-3531174303

Preis: 34,95 Euro

Der Autor: Dominic Schwickert studierte Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Wirtschaftspolitik an den Unis Münster und Santa Barbara. Er arbeitet für das Beratungsunternehmen IFOK und ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Progressiven Zentrums und Associate bei der Stiftung Neue Verantwortung in Berlin. Schwickert lehrt zudem am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster und ist Initiator des mehrfach preisgekrönten Journals 360°. Dort war er von 2005-2008 auch Vorstand und Chefredakteur. Noch heute begleitet er das Projekt mit großem Interesse, jedoch berufsbedingt aus der Ferne. Ein großer Erfolg war in den letzten Monaten die Auszeichnung des Projekts zum “Ausgewählten Ort im Land-der-Ideen”. (siehe auch HIER). Am 14. Oktober 2010 erschien im VS Verlag. Wiesbaden 2010 Dominic Schwickerts Publikation: “Strategieberatung im Zentrum der Macht. Strategische Planer in deutschen Regierungszentralen”.

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“Die Ursache unserer Probleme liegt weder an Europa noch am Euro”

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Vor zwei Jahren haben wir mit dem Finanz-Experten Prof. Dr. Franz Hörmann, der damals und inzwischen wieder an der Wirtschafts-Universität in Wien lehrt, ein Interview zum Thema: „Absurdes Geldsystem“ geführt. Zwischenzeitlich setzen sich die Turbulenzen rund um den Euro weiter fort. Stringent verordnete Sparprogramme für taumelnde EU-Länder führen zu besorgniserregenden sozialen Unruhen und die stetig weiter ansteigende Arbeitslosigkeit zerstört in Europa nachhaltig Hoffnungen auf bessere Zeiten. Wir haben nachgefragt.

Prof. Hörmann, Sie sind und waren kein Freund des bestehenden Geldsystems. Dennoch muss sich jeder damit arrangieren. Augenblicklich läuft allerdings alles aus dem Ruder?

Prof. Dr. Franz Hörmann

Prof. Dr. Franz Hörmann (Foto: F. Hörmann)

Es wird nun auch für die einfache Bevölkerung sichtbar, dass offensichtlich etwas ganz grundlegendes in unserem System schief läuft und es sich nicht einfach um „Konjunkturzyklen“ oder „falsche Wirtschaftspolitik in einzelnen Ländern“ handelt. Die üblichen Erklärungsmuster reichen nicht mehr aus, wenn eine flächendeckende Überschuldung (von Unternehmen, Staaten, Banken und Privatleuten) beobachtet wird, wo doch durch die Logik der doppelten Buchhaltung jeder Verbindlichkeit auch eine gleich hohe Forderung entgegenstehen müsste.

Sparprogramme sind sinnlos, weil Zahlen im Bankcomputer nicht “gespart” werden müssen. Soziale Unruhen sind sofort vermeidbar, wenn die Bevölkerung mit Kaufkraft anstatt mit Arbeitsplätzen versorgt wird, wobei sich nur dann die Frage nach der Wertbeständigkeit des Geldes stellt, wenn wir es als verknappbares Tauschmittel denken und nicht als individuellen Gutschein. Wenn wir dann auch noch in den einzelnen Branchen kooperieren anstatt gegeneinander zu konkurrieren, so entledigen wir uns durch steigende Effizienz aus Synergien auch der ungeliebten Arbeiten unter Beibehaltung der Kaufkraft und des Wohlstands der Bevölkerung.

Viele Zeitgenossen (auch Politiker) sprechen von einer Krise in Europa. Wir haben allerdings eine Eurokrise, bzw. eine Bankenschuldenkrise?

Das ist korrekt. Die wahre Ursache unserer Probleme liegt weder an Europa noch am Euro (als Währung), sondern schlicht an der Buchung, mit der die Banken Kredite vergeben: Forderung (der Bank an den Kreditnehmer) an Verbindlichkeit (der Bank an denselben Kreditnehmer). So entsteht eine doppelte Schuld, wobei die Schuld der Bank eben dem Guthaben des Kreditnehmers auf seinem Girokonto entspricht. Wir „bezahlen“ bei Giralgeld laufend mit Bankschulden, die, wenn wir das Geld nicht in bar beheben, auch niemals „zurückgezahlt“, sondern ewig als Zahlungsmittel weitergereicht werden. Dass dies auf Dauer die Bankbilanzen nicht überstehen, ist einfach logisch zwingend.

Werden die Banken adäquat zur Rechenschaft gezogen? Falls nicht, auf welche Weise könnte das geschehen?

Ich finde, dass der Ausdruck „zur Rechenschaft ziehen“ hier nicht wirklich angebracht ist. Das wäre ja nur erforderlich, wenn jemand bewusst gegen bestimmte (Rechen-)Regeln verstoßen hat, das ist hier aber nicht der Fall. Es handelt sich um eine branchenübliche Falschbuchung, deren Auswirkungen nur die wenigsten Bankmitarbeiter überhaupt verstanden haben. Diejenigen, die es durchschauen trennen sich dann zumeist auch von ihrem Job. Ich denke nicht, dass wir in dieser Angelegenheit mit Strafrecht oder „Rechenschaft“ weiterkommen, sondern schlicht mit einer grundlegenden Systemänderung, wie z.B. das „positive money“, also eine Schöpfung rein elektronischen Geldes als Eigen- und nicht als Fremdkapital (z.B. nach dem Buchungssatz „Kassa an Eigenkapital“) unter transparenter, demokratischer Kontrolle, d.h. nicht in den Händen privater, gewinnorientierter Unternehmen (siehe etwa http://www.positivemoney.org/). Bei Geld handelt es sich um eine (zurzeit mental noch für die meisten Menschen) unverzichtbare Infrastruktur der Realwirtschaft. Seine Verknappung zur Wertsteigerung oder Zinserhöhung (z.B. durch ein „steigendes Risiko“) sollte daher als Erpressung betrachtet werden.

Anleger wurden (zunächst in Zypern) für die missglückten Spekulationsgeschäfte ihrer Finanzinstitute zur Kasse gebeten. Das geschah im Prinzip in einer Nacht- und Nebelaktion. Halten Sie das für legitim?

An dieser Aussage, die der öffentlichen Wahrnehmung entspricht, stimmen gleich mehrere Dinge nicht: Erstens handelt es sich, wie gesagt, nicht um „missglückte Spekulationsgeschäfte“, welche die wahre Ursache der Bankenkrise darstellen. Wäre es tatsächlich so, dann müsste ja, nach der Logik der doppelten Buchhaltung, jedem Spekulationsverlust ein gleich hoher Spekulationsgewinn eines anderen Spielers entgegenstehen. Dies ist aber ganz offensichtlich nicht der Fall, es sind ja alle Banken in gleicher Weise hoffnungslos verschuldet, was auf die Giralgeldschöpfung in Form einer Bankverbindlichkeitsbuchung zurückzuführen ist und nicht auf „Spekulationsgeschäfte“. Diese dienen in Wahrheit nur der Ablenkung und Irreführung von Politik und Öffentlichkeit. Zweitens werden nicht die Anleger zur Kasse gebeten, sondern deren „Guthaben“ ausgebucht. Damit werden entsprechend einfach die Bankschulden (Anlegerguthaben auf Girokonten sind ja nur Bankschulden, siehe oben) buchtechnisch reduziert. Doch dieses „Geld“ steht ja in Wahrheit im Eigentum der Banken.

Geld, das Menschen „zur Bank tragen“ geht schließlich ins Eigentum der Bank über, die „Anleger“ besitzen nur noch eine Forderung gegenüber der Bank. Das ist weder Politik noch Öffentlichkeit ausreichend bewusst. Solange diese Unwissenheit vorherrscht, werden aber auch die erforderlichen Reformschritte noch ausbleiben. Ich halte diese Vorgangsweise somit zwar für systemkonform, aber natürlich zugleich eine Zumutung für die Bankkunden. Genau dieser Umstand (Systemkonformität bei extremer Benachteiligung einer einzelnen Partei) beweist überzeugend, dass das heutige Bankensystem (= System der Giralgeldschöpfung) an sich nicht (zur Zufriedenheit aller Beteiligten) funktionieren kann!

Wie wahrscheinlich ist es, dass ein derartiges Szenario trotz heftiger Dementi der Akteure auch in anderen europäischen Staaten Schule macht?

Es handelt sich dabei nicht um eine Frage der Wahrscheinlichkeit, denn diese Entwicklung wird mit absoluter Sicherheit in absehbarer Zeit auch in allen anderen Staaten einsetzen, da ja die Giralgeldschöpfung zurzeit überall in gleicher Weise praktiziert wird. Die hoffnungslose Überschuldung der giralgeldschöpfenden Banken ist daher nur eine Frage der Zeit und der Kreativität der Buchführer und Bilanzregulierer.

Banken sind für alle Bürger systemrelevant, da wir es praktisch ausschließlich mit einem bargeldlosen Geldsystem zu tun haben. Ist es legitim, wenn Finanzinstitute dann (wie in Zypern geschehen) aus Angst vor einem Banken-Run über Wochen die Dienste einstellen?

Dabei handelt es sich, meiner Meinung nach, entweder um eine schlecht geplante (Panikre-)Aktion der zuständigen Banker und Politiker oder aber einen gezielten Test, wie die Bevölkerung mit solchen Situationen umgeht. Beide Möglichkeiten untergraben jedoch das Vertrauen in das bestehende System. Ein zentrales Motiv dahinter kann natürlich auch eine Form von Werbung für rein elektronisches Geld sein, bei dem ein Banken-Run ja unmöglich ist, das aber aus demokratiepolitischen Überlegungen keinesfalls im Rahmen einer von privaten Unternehmen monopolisierten Geldschöpfung eingeführt werden darf.

Hinsichtlich der Eurokrise kommen Experten mit unzähligen Rezepten und Ratschlägen aus den Ecken. Von Schuldenschnitt bis Eurobonds geht es Querbeet um Hoffnungen, die selbstgemachte Krise damit zu bewältigen. Ist in Ihrer Sicht irgendein Mittel dabei, das unter den gegebenen Umständen tatsächlich wirken könnte?

Alle diese vorgeschlagenen Methoden sind bestenfalls dazu geeignet, wieder einige Monate Aufschub zu gewinnen, bevor das Schuldgeldsystem implodiert. Da hier nirgends die wahre Problemursache thematisiert und einer nachhaltigen Lösung zugeführt wird und Giralgeld dabei laufend weiter als Bankschuld „geschöpft“ wird bringt uns jeder weitere Tag näher an den Rand des Abgrunds. Eine wirklich probate Methode wäre jene, die bei jeder normalen Unternehmenssanierung praktiziert wird: die Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital. Da die Besitzer der Bankguthaben ja zurzeit nur Forderungen innehaben (d.h. ihre Guthaben sind zugleich die Verbindlichkeiten der Bank) wäre es relativ naheliegend, anstatt ihnen die Guthaben einfach auszubuchen (und damit zu vernichten) sie zu Miteigentümern der Bank zu machen, d.h. aus Sicht der Bank Fremdkapital in Eigenkapital zu verwandeln. Als Miteigentümer hätten sie dann automatisch auch ein Mitspracherecht bei der Geschäftstätigkeit ihrer Bank.

Was bedeutet es für den sozialen Frieden in der Europäischen Union, wenn nicht bald probate Mittel zum Zug kommen, um die Dauerkrise zu beenden?

Die Gesellschaft wird sich in absehbarer Zeit in zwei Gruppen spalten: Jene, die das Prinzip der Giralgeldschöpfung als Bankschuld verstanden haben und sich demgemäß auch weigern werden, diese Buchungszeilen als gesetzliches Zahlungsmittel bzw. als legale „Schuld“ zu akzeptieren und jene, denen diese Vorgangsweise bislang noch unbekannt ist und die daher an der alten Idee eines werthaltigen Geldes, welches aus diesem Grund auch zur Übertragung von Eigentum geeignet ist, festhalten. Ab einem bestimmten Zeitpunkt werden dann die aufgeklärten MitbürgerInnen im großen Umfang auch den Rest der Bevölkerung darüber informieren – und dann kommt die Reform.

Welcher Weg wäre denn aus Ihrer Sicht machbar und erfolgversprechend, um nachhaltig aus dem Chaos heraus zu kommen?

Ich denke, die erforderlichen Schritte ließen sich, bei einem Mindestmaß an gegenseitigem Verständnis und Kooperationsfähigkeit aller Beteiligter (also Banker, Politiker und VertreterInnen der restlichen Bevölkerung) ganz leicht in drei Stufen bewältigen:

    • Positive Banking: Finanzierung von Unternehmen durch hinterlegungspflichtige Wertpapiere, deren Zinsen für den Investor „aus Luft geschöpft“ aber in der Höhe durch die realwirtschaftliche Rendite gedeckelt sind. Sinkt die realwirtschaftliche Rendite im Zeitablauf ab, so kann der Investor z.B. jederzeit (durch frisch geschöpftes Geld) mit 125% abgeschichtet werden, womit sich das Investitionsrisiko auf Null reduziert. Da die Papiere hinterlegungspflichtig sind gibt es auch keine Spekulation und die damit verbundene Kursmanipulation. Die Banken können an diesem System mehr und sicherer verdienen als heute an Aktien und Anleihen.

 

    • Positive Money: Schöpfung rein elektronischen Giralgeldes („Vollgeld“) durch den Buchungssatz „Kassa an Eigenkapital“ durch den gesamten Bankenverbund im staatlichen Auftrag und demokratisch überwacht. Die elektronischen Zahlungseinheiten stellen das gesetzliche Zahlungsmittel im Eigentum des Bankkunden dar, die Giralgeldschöpfung umfasst sowohl ein von der Demokratie gesetzlich beschlossenes bedingungsloses Grundeinkommen als auch eine gesetzlich fundierte und transparent gestaltete demokratische Preiskontrolle, um den „Wert“ dieses Geldes zu bewahren, solange wir es noch als Tauschmittel verwenden.

 

  • Ende des Tauschsystems und Übergang zur Kooperationsgesellschaft durch „Informationsgeld“: Wenn wir noch einen kleinen Schritt weiter denken, werden wir erkennen, dass es nicht notwendig ist, dass Menschen untereinander Verträge schließen und daraus Forderungen und Verbindlichkeiten entstehen, um wirtschaftlich zu kooperieren. In unserem heutigen System (Geld als Tauschmittel) handelt es sich um die Abstraktion des Tauschmediums: wir agieren so, als würden wir werthaltige (Gold-)Stücke im Kreis weiterreichen, obwohl es sich aber nur um wertlose Zahlen in Bankcomputern handelt, die rein technisch noch dazu nicht wirklich weitergeleitet sondern stets neu geschöpft und wieder gelöscht werden. Wenn alle BürgerInnen ihre (Lebens-)Verträge mit der ganzen Gemeinschaft (der Community, dem Netzwerk oder der Institution „demokratische Zentralbank“, die für die gesetzliche Geldschöpfung zuständig ist) abschließen (also eine Abstraktion des Vertragspartners erfolgt), so können wir Preise auch asymmetrisch realisieren, d.h. ein Verkäufer erhält z.B. je Stück, das er verkauft 10,- Euro, die für ihn speziell (z.B. unter seiner Sozialversicherungsnummer) nach dem Buchungssatz „Kassa an Eigenkapital (an der demokratischen Zentralbank)“ geschöpft werden. Seine Kunden hingegen bezahlen ganz individuelle Preise, einer vielleicht 5,- Euro, ein anderer 20,- Euro, weil diese ihren persönlichen Lebensverträgen entstammen (gebucht als „Aufwand an Kassa“, wodurch das „Geld“ im Rechnungskreis des Individuums verbleibt und dort auch wieder vernichtet wird).

Das hört sich noch sehr theoretisch an, doch was passiert praktisch, beispielsweise in Hinblick auf die so wichtige Kaufkraft?

Wir ersparen uns so die leidigen Fragen einer Geldmenge, eines Geldumlaufs, positiver oder negativer Zinsen, der Inflation etc. Preise, Tarife (also Lohn und Gehalt) sowie Warenkörbe werden dann für jede BürgerIn individualisiert, „Informationsgeld“ ist somit kein Tauschmedium mehr sondern eine rein persönliche Leistungskennzahl, die auch nur innerhalb der Biografie eines Menschen sinnvoll interpretiert werden kann. Sie dient nur zum Vergleich der eigenen Leistung am Zeitstrahl und nicht mehr als Tauschmittel und ähnelt damit eher den persönlichen Blutdruckwerten, mit denen auch nicht getauscht wird, die auch nicht zwischen Menschen verglichen, sehr wohl aber im Zeitablauf eines einzelnen Individuums verglichen werden können. Dadurch wäre der politische Übergang vom Kollektivismus (Warenkörbe, Preise, Inflation, Tarife werden kollektiv für alle bzw. größere Massen „geregelt“) zum Individualismus (jeder Mensch entwickelt sich nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Leidenschaften) als Grundlage für nachhaltige, tauschlose Kooperation ermöglicht.

Dies führt dann in Ihrer Sicht zwangsläufig auch zu mehr Gerechtigkeit?

Besonders reizvoll ist bei diesem System der Umstand, dass wir dann in eine umverteilungslose Gesellschaft gelangen würden, weil ja das Informationsgeld für jedes Individuum nach seinem tatsächlichen Bedarf geschöpft und bei Bezahlung wieder vernichtet wird. Die beiden großen sozialen Konfliktquellen bzw. Bedrohungen “Ausbeutung” und “Enteignung” wären in diesem System undenkbar. Den Eigentümern von Grundvermögen und Produktionsmitteln könnten (durch für sie frisch geschöpftes Geld) diese Ressourcen zu einfach und transparent ermittelten Preisen von der “demokratischen Zentralbank” abgekauft werden und diese bringt sie danach in die kooperative, geldlose Produktion ein. Nur die Güter und Dienstleistungen für Konsumenten würden, und nur falls sie noch “knapp” sind, nach den Regeln des Informationsgeldes verteilt, also “verkauft” werden.

Güter und Dienstleistungen, die bereits im Überfluss vorhanden sind, könnten einfach bestellt und verteilt werden, ohne symbolische “Gegenleistung” (Bezahlung). Prämien (in Form von Gutscheinen, aber auch Personality-Shows, also immateriellen Werten) könnten einen Anreiz für Innovatoren darstellen, durch verbesserte Methoden Güter und Dienstleistungen, die heute noch knapp sind, in Zukunft ebenfalls in ausreichender Menge für den Gesamtbedarf produzieren zu können. Während also die heutigen Eigentümer der Ressourcen und Produktionsmittel durch frisch geschöpftes Geld für die Aufgabe ihres Eigentums entschädigt würden, könnte für den unteren Bereich der Einkommenspyramide sofort (durch ebenfalls frisch geschöpftes Geld) Kaufkraft in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens geschaffen werden, ohne, dass diese Beträge anderen “weggenommen” werden müssen, da wir durch die individuelle Geldschöpfung das Nullsummenspiel des heutigen Geldsystems verlassen und in ein Plussummenspiel (in dem alle gleichzeitig gewinnen können, weil ein Gewinn niemals zu Lasten eines anderen Spielers erzielt werden kann) eintreten.

Welche weiteren Faktoren tragen zu einem solchen “Plussummenspiel” bei?

Da auch die Preise individuell reguliert werden, bleibt auch die “Kaufkraft” des Informationsgeldes erhalten, weil Geld nicht mehr als Tauschmittel nur durch Verknappung seinen “Wert” behält. Informationsgeld stellt daher eine persönliche Leistungskennzahl dar und ist kein Tauschmittel mehr. Es wird individuell (aus “Nichts”) erzeugt und bei Bezahlung wieder vernichtet und ähnelt damit dem Quantenrauschen im Vakuum, wo ja auch pausenlos virtuelle Teilchen entstehen und wieder verschwinden. Da dieses Geld darüber hinaus an einen persönlichen Warenkorb und ein persönliches Preis- und Tarifsystem gekoppelt ist, ist es auch nicht mehr zwischen den einzelnen Menschen vergleichbar, ähnlich dem Blutdruckwert. Es ist also ein “relativistisches”, nur innerhalb der Biografie eines einzelnen Menschen sinnvoll interpretierbares “Geld”. Damit haben wir Quantentheorie und Relativitätstheorie in die Ökonomie übernommen und dieser Fortschritt erschafft die individuelle Freiheit zur selbstbestimmten Kooperation.

Für Sie hat ein radikales Umdenken bzw. ein völlig neues Finanz- und Gesellschaftssystem Priorität. Geht es Querdenkern, die das bestehende Geldsystem kritisieren, an den Kragen und wie weit gehen Akteure im Zweifel?

Rufschädigung, Denunzierung und Intrigen gehören leider noch zu diesen veralteten Spielregeln, zumindest aus der Perspektive einiger Akteure. Wenn man sich aber in der Sache unbeeindruckt und im Wesen nach wie vor freundlich und kooperativ verhält, denke ich, kann man jene, die ein nicht mehr taugliches Gesellschaftssystem durch eine Form von (geistigem oder mentalem) Kampf aufrecht erhalten wollen, am besten überzeugen, dass wir jederzeit in eine Win-Win-Situation gelangen können, wenn wir ehrlich über unsere wahren Anliegen und Gefühle (Wohlstand, Machtgefühle, Sozialisierung, Angst etc.) reden anstatt auf widerlegten Prämissen basierende Theorien oder persönliche Anfeindungen als Basis der Kommunikation zu benutzen.

Sie sind nach Denunzierungen und einer Suspendierung von der WU inzwischen wieder in “Amt und Würden”. Das Rechtssystem funktioniert?

Da man mir keinen Gesetzesverstoß nachweisen konnte und mir auch Aussagen unterstellt bzw. Formulierungen unterschoben wurden, die ich in Wahrheit aber der Literatur entnommen und als Beispiele für abweichende Meinungen zitiert habe, mit denen man sich ernsthaft auseinandersetzen sollte, falls man an bestimmten historischen Details tatsächlich ein brennendes Interesse verspürte, war die Reaktion des Justizapparats vorhersehbar. Die Beschädigung des Rufs ist natürlich verblieben und es gibt immer noch Menschen, die aus Angst vor einer möglicherweise „rechtsextremen Gesinnung“ den Kontakt mit mir oder meinen Mitveränderern scheuen. Ich glaube daher, dass genau das auch das wahre Ziel der ganzen Aktion war, meine rein sachlichen Ideen nach Möglichkeit aus der tagespolitischen Landschaft herauszuhalten.

Sie bleiben mit Ihren Perspektiven wohl weiterhin umstritten. Doch sind Sie inzwischen völlig rehabilitiert oder bleibt etwas hängen?

Jeder Reformer oder Innovator blieb so lange „umstritten“, bis durch praktische Umsetzung der Beweis des Funktionierens seiner/ihrer Idee gelang. Ich erinnere in dem Kontext sehr gerne an die Gebrüder Wright, die sogar als einfache Fahrradmechaniker fernab akademischer Weihen, an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erstmals mit einem mechanischen Flugapparat Erfolge verzeichnen konnten, während noch fünf Jahre davor eine anerkannte, wissenschaftliche Koriphäe (Lord Kelvin, nach dem immerhin auch unsere gesetzliche Temperatureinheit benannt ist) darüber folgendes verlauten ließ: „Es ist unmöglich, dass Maschinen fliegen können, die schwerer als Luft sind!“. Soziale Methoden bzw. Teile der Informationsinfrastruktur der Realwirtschaft (und um nichts anderes handelt es sich bei „Geld“ aus rein technischer Sicht) dürfen keinesfalls als monopolisiertes Geschäftsmodell von Privatleuten verwaltet werden. Stellen Sie sich doch einmal vor, einer kleinen Gruppe von Leuten würde es gelingen, ihr Privateigentum an der gesamten Atmosphäre durchzusetzen. Sie könnten damit auch willkürlich entscheiden, wer saubere, wer verschmutzte Luft und wer überhaupt atmen kann – und auch zu welchem Preis. Die Macht des privaten Schuldgeldsystems reicht heute schon sehr nahe an dieses imaginäre Beispiel heran!

Wie schon erwähnt, für die uninformierten Teile der Bevölkerung gibt es nun einige Berührungsängste, wenn sie sich aber einmal selbst sachlich informieren erkennen sie sehr schnell, dass die Frage der Gestaltung eines Geldsystems nicht mit rechter oder linker Politik sondern einfach mit der Grundfrage „Demokratie oder Diktatur?“ zusammenhängt.

Verweise:

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Volksentscheide auf Bundesebene – Interview mit Prof. Dr. Christian Pestalozza

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Fiskalpakt, ESM, EFSM und weitere kreative Rettungsschirme passierten bisher mühelos die Hürden im Parlament. Dies ruft trotz derzeit trügerischer Ruhe in Hinblick auf die Euro-Krise weiterhin viele Kritiker auf den Plan. Sie sehen einen zu starken Eingriff in die Haushaltsrechte und eine damit einhergehende Gefahr für die Demokratie. Während das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Rettungsschirme bisher unter Vorbehalt abnickte, bleibt der Unmut im Volk bestehen. Der Ruf nach Volksentscheiden auch auf Bundesebene wird lauter. Doch inwieweit kommt unser Land mit einer solchen Forderung voran? Wir haben nachgefragt: Im Gespräch mit dem Staatsrechtler Prof. Dr. Christian Pestalozza, Freie-Universität zu Berlin.

Foto: Max Lautenschlaeger

Foto: Max Lautenschlaeger

Herr Prof. Pestalozza, unter anderem auch durch die anhaltenden Diskussionen rund um die Verabschiedung zu Gesetzgebungen wie etwa Fiskalpakt, ESM, EFSF, EFSM etc. wird der Ruf nach Volksentscheiden auch auf Bundesebene immer lauter. Was halten Sie von solchen Forderungen?

Das Grundgesetz behandelt Volksabstimmungen recht stiefmütterlich. 1948/49 hatte das nachvollziehbare Gründe; sie gelten heute nicht mehr. Nachdem das Grundgesetz mehr geworden ist als das vorläufige Organisationsstatut der damaligen Westzonen, sollte seriös – und das heißt unabhängig von der jeweiligen Regierungsmehrheit – über eine Vermehrung der Volkszuständigkeiten auf Bundesebene nachgedacht werden. Vor Übertreibungen sollte man sich dabei allerdings hüten. Wir haben bereits eine gut ausgestaltete Demokratie, und alles, was darüber hinausgeht, ist eine Art Luxusausstattung.
Was davon wir uns leisten können und sollten, ist eine Frage, die sich nicht allgemein, sondern nur konkret, d.h. im Hinblick auf die einzelnen Abstimmungskompetenz, um die es gehen soll, beantworten läßt.

Augenblicklich kommt es bezüglich der Gesetze zum Fiskalpakt und ESM zu etlichen Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. Kritiker sehen unzulässige Eingriffe in die Verfassung und eine Aufweichung der Hoheitsrechte beim Haushalt. Sehen Sie dies ähnlich?

In dem Maße, in dem die Vereinbarungen im Zusammenwirken mit den deutschen Zustimmungsgesetzen Internationalen Einrichtungen deutsche Hoheitsrechte übertragen, verringern sie deutsche Zuständigkeiten und ändern sie damit der Sache nach zugleich das Grundgesetz, weil sie die von ihm ursprünglich begründete Kompetenzfülle deutscher Verfassungsorgane schmälern. Zu Recht verlangt Art. 23 GG deswegen für derartige Schritte dieselben Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat, wie sie für eine förmliche Verfassungsänderung notwendig sind.

Sind diese Mehrheiten gesichert, ist der “Eingriff” in die Verfassung (durch Kompetenzübertragung) nicht “unzulässig”, sondern gerechtfertigt. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn die Änderung an den durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten, unabänderlichen Verfassungskern rühren sollte. Ich zweifle, daß diese verfassungsänderungsfeste Zone hier erreicht ist.

Kritiker sind der Ansicht, dass sich solche Eingriffe nur durch eine Verfassungsänderung legitimieren lassen – dann über einen Volkentscheid. Ist das in Ihrer Sicht eine korrekte Analyse?

In die soeben genannte verfassungsänderungsfeste Zone kann der Gesetzgeber nur eindringen, wenn er das Grundgesetz (einschließlich des Art. 79 Abs. 3 GG) durch ein neue Verfassung ersetzt, die ihm mehr gestattet als das Grundgesetz jetzt. Art. 146 GG sieht vor, daß das Grundgesetz durch eine neue Verfassung, die das deutsche Volk beschließt, abgelöst werden kann.

Ob das wirklich so zu verstehen ist, daß diese Ablösung unbedingt durch Volksentscheid abgesegnet werden muß, ist unsicher; darüber wird gestritten. Immerhin spricht ja auch unser geltendes Grundgesetz davon, daß es vom Deutschen Volke beschlossen worden sei, wohlwissend, daß es zu keinem Zeitpunkt durch eine Volksabstimmung zusätzlich legitimiert worden ist.
Auch wenn Art. 146 GG deswegen nicht so beim Wort genommen werden können sollte – es wäre jedenfalls politisch sehr zu raten, einen Grundgesetz-Ersatz nicht ohne Volksentscheid auf den Weg zu bringen.

Welcher Voraussetzungen bedarf es, um Volksentscheide auf Bundesebene mit derart weitreichenden Entscheidungen zu installieren?

Wenn man daran denkt, weitere Europäisierungsschritte, die sich im Rahmen des Art. 23 GG (also zugleich im Rahmen des Art. 79 Abs. 3 GG) halten, zusätzlich durch Volksabstimmungen zu legimitieren, bedarf es lediglich einer entsprechenden Ergänzung des Art. 23 GG.

Wenn die betreffende Europäisierung über das nach Art. 23 GG Erlaubte hinausgehen (und an Art. 79 Abs. 3 GG rühren) soll, kommen Sie mit einer Änderung allein des Art. 23 GG nicht aus, und weil Sie nach allgemeiner und zutreffender Auffassung auch Art. 79 Abs. 3 GG im Wege normaler Verfassungsänderung nicht isoliert aufheben oder beschneiden können, bleibt nur der Weg über eine neue Verfassung, also der Weg des Art. 146 GG.

Auf Länderebene werden Volksentscheide, die aus Volksbegehren hervorgehen, praktiziert. Wäre dies ein übertagbares Modell auch für die Bundesebene?

Aus dem erfreulichen Umfang, in dem die direkte Demokratie unterdessen in allen Bundesländern eingeführt und in manchen dieser Länder auch genutzt wird, läßt sich einiges lernen. Aber:

  • Da die Länder aber im Detail recht unterschiedliche Modelle haben, muß man sich entscheiden, welches der Modelle man „übertragen“ sehen möchte.
  • Vieles kann man, muß man aber nicht übernehmen. Z.B. würde ich sehr davon abraten, in das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen, höchst überarbeitungsbedürftigen Gestalt die Volksgesetzgebung zu übernehmen.
  • Vieles an denkbarer direkter Demokratie haben die Bundesländer nicht. Insofern gäbe es nichts zu „übertragen“. Es ginge um Premieren; hier könnten ausländische Regelungen Modell stehen.

Bestrebungen, Volkentscheide auch auf Bundesebene einzuführen, gab es bereits. Woran scheiterte bisher eine diesbezügliche, durchgreifende Reform?

Immer wieder hat die jeweilige Opposition im den Bundestagen Reformvorschläge gemacht, und immer wieder hat die jeweilige Mehrheit den Kopf geschüttelt. Fragen Sie dort nach, warum. Eine rationale Erklärung sehe ich nicht.

Die Schweiz praktiziert als Demokratie mit repräsentativen und direkt-demokratischen Elementen sehr anschaulich, dass ein starker Einbezug des Volkes gut funktioniert. Ist dafür eine gewisse Konditionierung erforderlich?

Solange es ein Handwerkzeug nicht gibt, werden Sie nicht sicher wissen, ob es sinnvoll ist und sich bewähren wird. Was Sie vielleicht voraussagen können, ist, ob es in der Hand des Profis besser aufgehoben sein wird als in der des Amateurs. So liegt es, was unser Thema anlangt, vielleicht bei der Gesetzgebung; sie sollte nicht amateurisch betrieben werden.

Im Übrigen würde ich raten: Stellen Sie das Werkzeug her, und lassen Sie es ausprobieren. Bewährt es sich nicht, kassieren Sie es (freilich mit Wiederwahlrisiko) wieder ein.

Unabhängig vom Volksbegehren innerhalb einzelner EU-Staaten zählen Volksentscheide auf EU-Ebene zur Entscheidung EU-spezifischer Belange noch zur weit entfernten Zukunftsmusik? Oder ist das realistischer, als es so mancher denkt?

Leider blicke ich nicht in die Werkstatt der EU. Es liegt aber, nachdem man Ja gesagt hat zu EU-Wahlen, nahe, daß man über die Ergänzung durch EU-Abstimmungen nachdenkt. Beim jetzigen Stadium der Europäisierung halte ich das allerdings für verfrüht.

Lesen sie hierzu auch:

Fotoquelle: Max Lautenschlaeger

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PolitPlag –“Dr. Merkel plagiatsgeprüft plagiatsfrei”

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Zweifelsfrei haben die bisher aufgedeckten Plagiatsfälle, die insbesondere Politiker in Amt und Würden betrafen, das Land zutiefst erschüttert. Den Anstoß zur Aufdeckung solcher Fälle gab die Internet-Plattform „VroniPlag“. Ein weiteres Projekt mit einem erweiterten Angebot ist gerade an den Start gegangen. Bürger bzw. Interessenten erhalten mit PolitPlag die Möglichkeit, die Prüfung einer wissenschaftlichen Arbeit eines bestimmten Kandidaten für die Bundestagswahl 2013 in Auftrag zu geben. Wir haben nachgefragt. Im Gespräch mit Prof. Dr. med. Ursula Gresser, Wissenschaftliche Leitung „PolitPlag.de“.

Prof. Dr. Ursula Gresser

Prof. Dr. Ursula Gresser
Wissenschaftliche Leiterin PoltitPlag
(Foto: U. Gresser)

Frau Professor Gresser, PolitPlag ist ein Projekt von VroniPlag.de. Hinter VroniPlag.de steht der Gründer der Plattform VroniPlag Wiki, jener Plattform, die durch das Aufdecken einer Vielzahl an Plagiatsfällen insbesondere bei Politikern bekannt wurde. Was ist neu bei PolitPlag und an wen wenden Sie sich mit dem neuen Angebot?

Bei PolitPlag kann jeder, den es interessiert, jeden promovierten Kandidaten für die Bundestagswahl 2013 auf Plagiat prüfen lassen.

PolitPlag entstand aus einer Idee von Martin Heidingsfelder, der bei seinen Plagiatsprüfungen immer häufiger festgestellt hat, dass es bei Politikern wohl mehr Plagiate gibt als bei Nicht-Politikern. Und es wurde hier wohl auch besonders deutlich plagiiert, die Dissertation wurde wohl oft nicht als ernsthafte wissenschaftliche Herausforderung angesehen, sondern als Booster für die Karriereleiter.

In unseren Diskussionen kamen wir dazu, die Hypothese anzudenken, dass Plagiate in einer frühen wissenschaftlichen Arbeit, z.B. einer Doktorarbeit, möglicherweise ein Frühsymptom einer weniger ehrlichen Persönlichkeitsstruktur sein könnte, mal vorsichtig ausgedrückt. Und als Bürger haben wir uns gefragt, wie ein Verfall des einst so angesehenen „Made in Germany“ geschehen kann, wie er sich derzeit bei Stuttgart 21, dem Berliner Hauptstadtflughafen, der Hamburger Elbphilharmonie oder dem Justizfall Mollath zeigt.

Auftrag zur Plagiatsprüfung kann über www.politplag.de jeder erteilen, nach Wunsch anteilig oder für eine komplette Prüfung.

Die Akteure sind selbst Wissenschaftler, die -anders als bei „VroniPlag“ – nicht anonym agieren?

PolitPlag will nicht aus der Anonymität heraus agieren, sondern offen und fair. Herr Heidungsfelder hat ein Team an Wissenschaftlern und Plagiatsfachleuten zusammengestellt, die mit ihm die Arbeiten prüfen. Meine Rolle ist die eines wissenschaftlichen Beraters, denn nicht jede plagiierte Stelle hat auch inhaltliche Konsequenzen, und muss entsprechend bewertet werden.

Die Plattform „PolitPlag“ war gerade erst online, da hagelte es bereits Kritik aus den verschiedensten Richtungen. Können Sie die Aufregung nachvollziehen?

Naja, die meisten Plagiatsprüfer arbeiten aus der Anonymität heraus, und Herr Heidingsfelder steht mit seinem Namen für seine Arbeit und seine Ergebnisse ein. Er macht nicht nur Plagiatsprüfungen, sondern berät auch Universitäten und Doktoranden, wie man Plagiate vermeidet bzw. erkennt. Damit wird er dann – wie jetzt der Fall von Frau Schavan zeigt – zu einem gefragten Fachmann, und das verursacht auch Eifersucht. Ich finde es richtig, dass er nicht aus dem Verborgenen arbeitet, sondern ganz offen zu seiner Arbeit steht. Anders wäre ich auch nicht bereit gewesen, mitzuwirken.

Ein Vorwurf bezieht sich darauf, dass derzeit praktisch nur Politiker ins Rampenlicht gezerrt werden, die im Verdacht stehen, plagiiert zu haben. Politiker stehen allerdings auch in einer ganz besonderen Verantwortung?

Eine Doktorarbeit ist eine Art Reifeprüfung für einen jungen Wissenschaftler und war früher der Beginn einer Laufbahn als Forscher und Wissenschaftler. Das hat sich geändert. Die Doktorarbeit wird immer weniger aus wissenschaftlichem Interesse verfasst und immer häufig zum Zweck des Titelerwerbs. Mit einem „Dr.“ vor dem Namen kann man offensichtlich leichter Karriere machen, als ohne – und das betrifft wohl vor allem den Bereich Politik und Wirtschaft.

Und wer nur den Titel haben will, und nicht vorhat, das Thema weiter zu beforschen, der kann es sich leichter machen. Wozu mühsam viele meist englischsprachige Originalliteratur lesen und auswerten, wenn man doch auch die Auswertung aus bereits publizierter Sekundärliteratur – wie Übersichtsarbeiten oder Lehrbuchartikeln – übernehmen kann. Dass dadurch das immer Gleiche immer wieder als überprüft und neu verkauft wird, kümmert nicht. Ohne „Plagiieren“ wäre es z.B. nicht möglich gewesen, über Jahrzehnte einen fehlerhaft 10-fach überhöhten Eisengehalt des Spinats fortzuschreiben und Generationen an Kindern mit Spinat zu quälen – einem Spinat, der in Wirklichkeit im Vergleich zu anderen Gemüsen wenig verwertbares Eisen enthält. Es hat einfach jeder vom anderen den falschen Wert abgeschrieben, über Jahrzehnte.

Somit ist es also sogar ganz besonders wichtig, speziell Politiker unter die Lupe zu nehmen?

Ja, es ist besonders wichtig, weil offensichtlich unter Politikern die Plagiatsquote höher ist, als bei anderen Berufen. Und natürlich auch, weil Politiker eine Vorbildfunktion haben sollten, haben müssten. Man kann sich ja sagen, es ist egal, ob es unter den Bürgern einen Vertrauensverlust gibt, in Politiker und Rechtsstaat, Hauptsache, es wird wie immer gewählt und die Steuern werden bezahlt. Aber es eben nicht egal: Menschen brauchen Vorbilder, und Menschen, die im Rampenlicht stehen, wie Politiker, müssen Vorbilder sein. Ich will hier nicht weiter auf die verheerenden Auswirkungen des Falles Schavan auf den Wissenschaftsstandort Deutschland eingehen, darüber wurde genug geschrieben. Es ist nicht schön.

Wieder andere behaupten, besonders Politiker aus den Reihen von CDU, CSU und FDP stehen unter verschärfter Beobachtung. Trifft das objektiv betrachtet überhaupt zu?

Nein, dem ist nicht so, die meisten Plagiatsprüfer arbeiten vollkommen neutral, überparteilich und überkonfessionell. Es ist allerdings so, dass die Quote an promovierten Mandatsträgern bei der FDP und bei CSU und CDU höher ist, als in den anderen Parteien. PolitPlag führt alle provierten Kandidaten für die Bundestagswahl auf, ohne eine Auswahl zu treffen. Und für die Ausgewogenheit bei PolitPlag sorge auch ich: ich war 15 Jahre in der FDP, stamme noch aus der Zeit von Hildegard Hamm-Brücher, bin Naumann-Stipendiatin und seit nunmehr über 20 Jahren aktives Mitglied der CSU. Herr Heidingsfelder war in der SPD und hat 2012 zu den Piraten gewechselt, um vielleicht selbst den Bundestag oder den Landtag zu entern. Wir sind bunt gemischt.

Die Initiatoren von „PolitPlag“ agieren also in jeder Beziehung unabhängig?

Soweit ich weiß und Einfluss nehmen kann: ein klares Ja.

Es wird durchaus schon fleißig nach Auswegen aus dem Dilemma für betroffene Plagiatoren gesucht. So wird etwa eine Verjährung diskutiert, um den Schaden für diese Klientel zu begrenzen. Was halten Sie davon?

Die Verjährung kennt man aus dem Strafrecht, auch dem Zivilrecht. Doktorarbeiten sind Darstellungen wissenschaftlicher Erkenntnisse, quasi eine Urkunde, und ihr Inhalt wird Bestandteil des Wissens der Welt. Inhaltlich falsche oder duplizierende und damit Daten verstärkende Arbeiten – und Plagiate sind vor allem letzteres – schaden der Wissenschaft und müssen identifiziert werden. Und das Aufdecken von Plagiaten hat auch eine hohe präventive Wirkung: meine Doktoranden passen ganz genau auf, arbeiten sehr sorgfältig.

Wie auch im aktuellen Fall von Bundesbildungsministerin Annette Schavan führen manche Kommentatoren Quantität der Plagiate als ein Parameter für eine Beurteilung auf. Was halten sie von der These, ein wenig Plagiieren sei weniger problematisch, als praktisch durchgängig zu Plagiieren?

Zitierungsfehler können jedem passieren, und bislang hat noch keiner seine Arbeit aberkannt bekommen, weil er lediglich Anführungszeichen oder einige wenige Quellenangaben in der Einleitung seiner Arbeit vergessen hat. Viel wichtiger als die Quantität von Plagiaten in einer Arbeit ist die Qualität der Plagiate. Wenn jemand als seine eigenen neuen Erkenntnisse Inhalte nennt, die Jahre zuvor bereits von einem anderen Wissenschaftler veröffentlicht wurden, und er erwähnt dies nicht, dann ist dies ein eklatantes wissenschaftliches Fehlverhalten.

In einem Beitrag des Nachrichtenmagazins WELT wird behauptet, Auftraggeber für eine Überprüfung einer speziellen wissenschaftlichen Arbeit müssten „tief in die Tasche greifen“. Trifft dies zu – und falls nein – mit welchen Kosten muss tatsächlich gerechnet werden?

Ich kenne nur die Beträge, die auf PolitPlag genannt sind. Für Bestellen und Scannen der Arbeit 50,- Euro ist ein rein symbolischer Preis. Alleine das schonende und ordentliche Scannen einer gebundenen Dissertationsschrift dauert mindestens eine Stunde. Und die Umwandlung vom pdf-Scan zu Text für 100,- Euro: es kann Stunden dauern, bis man die Scanfehler im Text per Hand ausgebessert hat. Verbleiben Scan-Fehler, kann der Text nicht mit anderen Texten – die in gleicher Weise vorbereitet werden müssen – digital verglichen werden. Alles sehr aufwendig, man braucht Zeit, Sorgfalt und Wissen.

Und denken Sie daran: die Preise sind inklusive 19 Prozent Mehrwertsteuer, unser Staat verdient bei jeder Plagiatsprüfung mit.

Lässt sich angesichts des noch relativ kurzen Zeitraums seit dem Start der Plattform „PolitPlag“ beurteilen, wie groß das Interesse der Bürger an dem neuen Angebot ist?

Die Plattform ist erst im Januar 2013 online gegangen, und durch die Diskussion um den Fall Schavan ist der Ansturm gewaltig. Wir suchen händeringend nach Wissenschaftlern, die uns beim Prüfen helfen. Ich gehe davon aus, dass bis zur Bundestagswahl im September 2013 alle promovierten Bundestagskandidaten geprüft sind. Und es ist ja auch besser für alle Beteiligten, wenn das vor der Wahl gemacht wird, nach dem Motto von PolitPlag „Besser nicht antreten, als zurücktreten“.

Rechnen Sie mit weiteren spektakulären Aufdeckungen?

Ja, ich habe derzeit zwei sehr problematische Arbeiten sehr bekannter Persönlichkeiten auf dem Schreibtisch. Mal sehen, wie sich das weiterentwickelt. Aber eines kann ich Ihnen schon verraten: Frau Dr. rer. nat. Angela Merkel´s Doktorarbeit ist nach meinen Erkenntnissen „plagiatsgeprüft plagiatsfrei“.

Verweise:

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Dumpinglohn-Masche Werkvertrag

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Skeptiker, die schon bisherige Lohndumping-Modelle mit einem unguten Gefühl zur Kenntnis nehmen, bekommen Nachhilfe in Sachen “moderne Arbeitswelt”. Es geht noch stringenter. Der sogenannte Werkvertrag macht aus Lohnkosten schlichtweg Sachausgaben. Damit lassen sich Rechtsverbindlichkeiten gegenüber den Arbeitnehmern aushebeln. Wir haben nachgefragt. Im Gespräch mit Prof. Dr. Peter Schüren, Institut für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht, Westfälischen Wilhelm-Universität Münster.

Prof. Dr. Peter SchürenProf. Schüren, einige Unternehmen nutzen das Instrument “Werkvertrag” zur Aushebelung von Tarifen und Lohnuntergrenzen. Was müssen wir uns unter solchen Verträgen vorstellen und wem nützen sie tatsächlich? 

Ein Unternehmen kann den Produktionsprozesses selbst komplett erledigen oder Anteile an andere Unternehmen fremdvergeben. Das ist die alte Frage “make or buy” – selber machen oder einkaufen. Wenn man etwas selber macht, dann macht man das mit eigenen Mitarbeitern oder mit Leiharbeitnehmern. Die Fremdvergabe erfolgt im Regelfall über Werkverträge oder Werklieferungsverträge. Das ist ganz unproblematisch, wenn die Leistungen, die man einkauft, vom Werkunternehmer in eigenen Betriebsstätten außerhalb des Betriebsgeländes des Werkbestellers erledigt werden.

Schwieriger wird es, wenn der Werkunternehmer mit den Anlagen des Auftraggebers auf dessen Betriebsgelände die Leistung erbringt. Auch auf dem eigenen Gelände mit den Betriebsmitteln des Werkbestellers lassen sich echte Werkverträge abwickeln. Dann muss aber dafür gesorgt werden, dass der Werkunternehmer tatsächlich als Unternehmer alles selbst organisiert und auch wirklich die rechtliche Verantwortung und das komplette Qualitätsmanagement für das übernimmt, was er herstellt. Kann der Werkunternehmer das nicht, wird schnell die Grenze zur bloßen Personalgestellung (Arbeitnehmerüberlassung) überschritten. Das ist dann nicht legal. Solche Scheinwerkverträge, bei denen unter dem Deckmantel eines Werkvertrages in Wirklichkeit nur Personal beschafft wird, sind illegal und dienen oft nur zum Lohndumping.

Wie beurteilen Sie solche Verträge in rechtlicher Hinsicht? Ist alles “wasserdicht”? 

Ob ein Werkvertrag ein echter Werkvertrag ist oder sich als Scheinwerkvertrag und illegale Arbeitnehmerüberlassung entpuppt, hängt von den Einzelheiten der Abwicklung ab. Man kann das nur herausfinden, wenn man sehr genau überprüft, was die Beteiligten tatsächlich machen. Sehr niedrige Löhne sprechen eher für Scheinwerkverträge, denn echte Werkverträge stellen höhere Anforderungen an Mitarbeiter und Führungskräfte des Werkunternehmers. Wer Scheinwerkverträge praktiziert, riskiert sehr viel – das reicht bis ins Strafrecht.

Sind solche Geschäfte mit Arbeitnehmern in ethischer Sicht irgendwie akzeptabel? Schließlich werden Menschen abrechnungstechnisch wie Sachen gehandelt. 

Bei einem echten Werkvertrag werden Menschen nicht wie Sachen abgehandelt. Wenn ich meine Küche vom Malermeister streichen lasse, der dann mit seinen zwei Gesellen kommt und das erledigt, behandele ich die Malergesellen auch nicht deshalb als Sachen, weil ich für das Streichen der Küche 500,- € bezahle. Unethisch wird es dort, wo Menschen unter dem Deckmantel eines Werkvertrages überlassen werden, um die Schutzvorschriften des Arbeitnehmerüberlassungsrechts zu umgehen und Dumpinglöhne zu zahlen. Das lässt sich mit dem geltenden Recht gut bekämpfen – man muss es nur anwenden.

Viele Politiker äußern, schlecht bezahlte Arbeit sei immer noch besser sei, als gar keine Arbeit. Wie beurteilen Sie solche Äußerungen? 

Die Aussage, dass schlecht bezahlte Arbeit immer noch besser ist, als keine Arbeit, ist sehr problematisch. Ich halte es für falsch, wenn Dumping-Löhne akzeptiert werden, die nur mit ergänzenden Transferleistungen den Lebensunterhalt sichern können.

Relativ verfestigt hat sich auch die Ansicht, Wettbewerb in der globalisierten Welt lasse sich nur mit niedrigen (und niedrigsten) Löhnen realisieren. Teilen Sie eine solche Ansicht? 

Mir fehlt die Fachkompetenz, um dazu eine weiterführende Antwort zu geben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die deutsche Wirtschaft durch Dumping-Löhne konkurrenzfähig wird. Auf den Feldern, auf denen die deutsche Wirtschaft international einen Spitzenplatz behauptet, werden keine Dumpinglöhne bezahlt.

Da wirtschaftliche Globalisierungsfaktoren nicht umkehrbar sind, könnte dies den Schluss zulassen, dass Niedriglöhne die Zukunft sind. Fortschritt sieht anders aus?

Das kommt sicherlich darauf an, wie Sie Fortschritt definieren. In einer Gesellschaft sollte Arbeit eine Möglichkeit zur finanziellen Existenzsicherung sein. Dazu sind Dumpinglöhne nicht geeignet.

Viele Unternehmen weisen glänzende Gewinnerträge auf. Das lässt sich für jedermann leicht recherchieren. Warum hat sich in Teilen der Wille verflüchtigt, Arbeitnehmer am Erfolg teilhaben zu lassen und anständige Löhne zu bezahlen? 

Ein wenig wird hier mitspielen, dass die Kostensenkung durch Lohnreduzierung bei hoher Arbeitslosigkeit ein verhältnismäßig einfaches Mittel ist, um Gewinne kurzfristig zu steigern. Es ist schwieriger Spitzenprodukte zu produzieren, als Löhne zu drücken. Mir scheint hier auch ein Zusammenhang zwischen dem Druck auf Führungskräfte, kurzfristige messbare Erfolge zu erzielen, und den gewählten Maßnahmen zu bestehen. Es wäre es besser, wenn Führungskräfte nicht nach solch kurzfristigen Gewinnsteigerungen beurteilt würden.

Die Folgen des besonders in Deutschland stark verbreiteten Niedriglohnsektors sind immens. Faktoren wie etwa zunehmende Armut, Altersarmut, psychische Erkrankungen etc. steigen drastisch. Warum wird nicht massiv gegengesteuert, wenn das Problem doch offensichtlich ist?

Ich meine, dass die Diskussion über die Folgen von deutlich verschlechterten Arbeitsbedingungen bislang noch gar nicht fundiert geführt worden ist. Man muss auch bedenken, dass der Abbau der Arbeitslosigkeit, der in den letzten Jahren doch mit einigem Erfolg betrieben wurde, zum Teil zumindest auch auf die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen zurückgeht. Ich meine, dass es sich hier um Fragen handelt, bei denen es weder einfache Lösungen gibt, noch bei denen Eingriffe des Staates in kurzer Zeit zu schnellen, tiefgreifenden Änderungen führen. Die einsetzende Mindestlohndiskussion und das Ende des Lohndumpings in der Leiharbeit sind für mich gute Anzeichen einer “Trendwende”.

Ist abhängige Beschäftigung überhaupt noch die geeignete Arbeitsform? Ein ausgewogenes Geben und Nehmen zwischen den Vertragspartnern wurde zu Lasten der Arbeitnehmer vielfältig erheblich aufgeweicht? 

Die aktuellen Probleme liegen nicht daran, dass Arbeitsverhältnisse die überwiegende Gestaltungsform für die Erbringung von Arbeitsleistung sind. Wir haben aber ein deutliches Defizit an kollektiver Interessenvertretung auf Arbeitnehmerseite. Daran sind nicht nur die Gewerkschaften schuld. Es hat damit zu tun, dass immer weniger Menschen sich gewerkschaftlich organisieren. Ohne kollektive Interessenvertretung haben Arbeitnehmer auf Dauer keine Chance, einen angemessenen Anteil an dem zu erlangen, was sie durch ihre Arbeit schaffen. Man sieht das ganz deutlich daran, dass dort, wo der Organisationsgrad hoch ist, die Arbeitsbedingen regelmäßig besser sind, als dort, wo er niedrig ist.

Wirtschaft ist für die Menschen da, nicht umgekehrt. Ist es tatsächlich noch so, oder haben sich die Vorzeichen – auch in Hinblick auf eine entsprechend tangierende Politik – ins krasse Gegenteil umgekehrt?

Wirtschaft ist auch heute noch für Menschen da. Die Frage ist für welche. Die veränderte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die in den letzten 20 Jahren zu beobachten war, ist für den sozialen Frieden langfristig nicht förderlich. Das lässt sich aber nur verändern, wenn die Betroffenen ihre Interessen erkennen und auch angemessen vertreten. Die Rolle des Arbeitsrechts ist hier sehr begrenzt. Es ist zwar seiner Funktion nach Arbeitnehmerschutzrecht. Es kann nur dabei helfen, dass grobe Missbräuche unterbleiben. Ob die Menschen den vorhandenen Rahmen für die Interessenvertretung nutzen, entscheiden sie selbst. Ein Beispiel: Wenn die betroffenen Leiharbeitnehmer im Jahr 2003 nur zu einem Drittel gewerkschaftlich organisiert gewesen wären, hätte niemand gewagt, mit einer christlichen Scheingewerkschaft Pseudotarife mit € 4,81 Stundenlohn abzuschließen. Die Wehrlosigkeit gegenüber solchen Missbräuchen ist auch selbstverschuldet.

Foto: Uni Münster / Institut für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht

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“Die Logik der Waffen”– Interview mit Ulrich Tilgner

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Der TV-Journalist Ulrich Tilgner berichtet seit mehr als 30 Jahren aus den Ländern Jordanien, Iran, Irak und Afghanistan. Der Experte, der zunächst viele Jahre als Korrespondent für das ZDF arbeitete, publiziert heute unter anderem für das Schweizer Fernsehen (SRF). Ende 2012 erschien im Orell Füssli Verlag sein neues Buch „Die Logik der Waffen“. Tilgner analysiert dort die Auswirkungen westlicher Politik in den Krisenherden im Nahen und Mittleren Osten. Seine Bilanz fällt düster aus. Wir haben nachgefragt.

Ulrich Tilgner, der Titel Ihrer Publikation „Die Logik der Waffen“ weist in Hinblick auf den Umgang der westlichen Welt mit dem Krisenproblematiken im Orient bereits auf das Kernproblem hin. Welches Resümee ziehen Sie nach elf Jahren Krieg gegen den Terror?

TV-Journalist Ulrich Tilgner

TV-Journalist Ulrich Tilgner (Foto: Elisabeth Stimming)

Dieser Krieg ist gescheitert. Dies hat verschiedenste Ursachen. Militärisch kann man Terror gar nicht begegnen. Entwicklungspolitisch gibt es ebenfalls nur sehr begrenzte Erfolge. Nach weiteren Rückschlägen in Libyen und Syrien wird der Krieg heute geheim und indirekt fortgesetzt.

Um die ungeheuerlichen Ausgaben für Kriege zu sparen, setzen die USA und andere Staaten im Westen auf Professionalisierung und Automatisierung. Zudem verschieben sich im Rahmen der Globalisierung und der anstehenden Veränderungen bei der Gewinnung von Rohstoffen für die Energieerzeugung weltweit die Interessengebiete und Konfliktzonen.

Barack Obama gilt seit langem als Schlüsselfigur für Friedensbemühungen in den Krisenherden des Nahen und Mittleren Osten und wird diesbezüglich sogar als “Friedenspräsident” gehandelt. Ihre Hoffnungen sehen Sie allerdings enttäuscht?

Der US-Präsident ist kein Präsident des Friedens: Guantanamo, geheime Drohneneinsätze und Cyberkrieg oder auch die Massierung der US-Streitkräfte im pazifischen Raum sprechen eine andere Sprache. Obama modernisiert die US-Politik, aber seine Priorität bildet nicht Frieden, sondern eine andere Nutzung der Ressourcen der Vereinigten Staaten. Leider erfolgt diese Politik indirekt und wird von außen zu oft fehlinterpretiert. In den USA selbst wird die Kritik an dieser Politik immer lauter.

Worin liegen in Ihrer Sicht die Ursachen für ein derartiges Versagen?

Versagen würde ich es nicht nennen, dieser Begriff wurde im Zusammenhang mit Obamas Amtsvorgänger zu Recht überstrapaziert. Der derzeitige Präsident hat ein Gefühl für das Machbare und dies leitet ihn. Dabei scheint er getrieben von der Idee, den zunehmenden Machtverlust der USA noch aufhalten zu können. Praktisch versucht er, die globale Dominanz der USA mit seiner Politik der „smart power“ aufrechtzuerhalten. Oft wird die Politik indirekt durchgesetzt, indem er andere Staaten für seine Zwecke einsetzt und benutzt.

Sie gehen noch weiter und erläutern, dass unter Obamas Regierung verdeckte Kriege im Vergleich zur Bush-Regierung noch ausgeweitet wurden. Welche Gründe stehen dahinter und zu welchen Konsequenzen kommt es dadurch?

Verdeckte Kriege führen die USA in Pakistan, Jemen und einigen Ländern Afrikas. Die Lehren aus den militärischen Einsätzen in Afghanistans und Irak ist ja, dass derartige Kriege nicht zu bezahlen sind. Nach einer Studie an der Harvard-Universität, die jetzt im März veröffentlicht wurde, belaufen sich die direkten, indirekten und die Folgekosten für diese Kriege auf sechs Trillionen US Dollar (eine US-Trillion ist eine deutsche Billion, also 1000 Milliarden), das sind knapp 5.000 Milliarden Euro. Obama weiß, dass weitere Kriege die USA nicht stärken sondern nur schwächen können und das Land damit um die Fähigkeit bringen würden, machtpolitisch und militärisch mit China zu konkurrieren.

Sie sprechen auch davon, dass die USA „Schattenkriege“ in Drittstaaten führt. Was meine Sie damit und mit welchen (auch unlauteren?) Mitteln wird gekämpft?

Die USA führen einen Schattenkrieg gegen den Iran. Neben der permanenten Verletzung des Luftraumes wird seit 2008 ein Cyberkrieg geführt, indem Teile der iranischen Industrie durch Computerviren lahmgelegt werden. Zudem gehören gezielte Attentate auf Personen, die Unterstützung von nationalen Minoritäten und die Unterwanderung der innenpolitischen Opposition zur Politik der Ausübung von „smart power“, deren Ziel es ist, die islamische Herrschaft im Iran zu stürzen.

Nicht nur Obama setzt weiterhin auf die Macht (bzw. Logik) der Waffen, sondern praktisch der gesamte Westen? Immerhin bleiben Abrüstungskonferenzen bislang ohne nennenswerte Resultate.

Die meisten Politiker in den Staaten des Westens agieren im Kielwasser der US-Politik. Genau dies versucht Obama zu ändern, in dem die Staaten Europas international größere Verantwortung übernehmen sollen. Im Krieg in Libyen wurde dies deutlich. Den schoben die USA an und die England und Frankreich durften und mussten ihn zu Ende führen. Auch bei den Verhandlungen mit Iran über die Nutzung der Atomtechnologie entscheiden die USA. Diese Verhandlungen werden geführt, um den anderen Staaten des Westens im Falle ihres völligen Scheiterns ein militärisches Bündnis aufzwingen zu können.

Warum setzt der Westen noch immer so vehement auf Waffen, anstatt kluge Verhandlungsstrategien zu präferieren?

Weil Krieg als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele immer noch nicht geächtet ist.

In Hinblick auf sogenannte „Cyberkriege“ kommen nun auch Kriegsführungen auf uns zu, die sich vor wenigen Jahren noch niemand so recht vorstellen konnte?

Mit Iran habe ich das Beispiel bereits beschrieben. Cyberkrieg und die Automatisierung des Militärischen mit Robotern und Drohnen werden die Zukunft prägen. Die USA arbeiten daran bis 2035 große Teile der traditionellen Kriegsführung automatisieren zu können. Der Einsatz von Drohnen und Robotern bildet heute erst den Anfang.

Staaten erlauben sich demnach, zu Mitteln zu greifen, die ansonsten in die Abteilung Strafrecht gehören? Lassen sich solche Vorgehensweisen überhaupt legitimieren?

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat möglicherweise bereits den Zeitpunkt verpasst, Regelwerke für die Modernisierung der Kriegsführung zu schaffen. Die Internationale Gemeinschaft besitzt nicht die Kraft, die Schaffung von juristischen Rahmenbedingungen für die Kriege von heute, vor allem die die asymmetrischen, anzumahnen oder sie zu schaffen, weil die USA sich mit ihrer diplomatischen Stärke entsprechenden Bemühungen widersetzen. Die UN-Berichte zum Drohnenkrieg sind ein Beispiel für das Versagen der internationalen Gemeinschaft.

Warum ist es für führende Staaten derart schwierig, glasklare und verbindliche Richtlinien aufzustellen? Immerhin geht es um Kriege, die mit unvorstellbar grausamen Mitteln wie etwa Minen und biologischen Waffen geführt werden können?

Genau diese Staaten verfügen über derartige Waffen.

Deutschland hatte sich nach dem Desaster des Zweiten Weltkriegs über viele Jahrzehnte aus aktiven Kriegsbeteiligungen herausgehalten. Trügt der Anschein, dass diese eiserne Regel nicht nur Risse bekommt sondern bewusst gebrochen wird?

Die Bundeswehr wird zu einer weltweit einsetzbaren Freiwilligenarmee ausgebaut.

Woraus resultiert Ihrer Meinung nach dieser eklatanten Richtungsänderung in Deutschland?

Bundespräsident Horst Köhler nannte die Gründe. Damals trat er zurück.

Der Einsatz von Drohnen zählt auch in Deutschland zu den Top-Diskussionsthemen. Wenn Kriegsführung vom Menschen auf Technik übertragen wird, besteht dann nicht u.a. auch die Gefahr einer Relativierung der Schrecken?

Drohnen verbilligen die Militärausgaben und erhöhen die Effektivität von Waffensystemen. Die Geschichte der Militärtechnik geht einher mit der Relativierung des Schreckens.

Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass sich Deutschland doch noch rückbesinnt und eine Kehrtwende hinsichtlich der aktuellen Entwicklungen einleitet – auch, um ggf. als Vorbild zu dienen?

Für eine Rückbesinnung fehlen das Bewusstsein und die politischen Kräfte. Leider sind Kriege für die meisten Deutschen ein Phänomen der Geschichte. Die Greuel und das Leid der Kriege geraten immer weiter in Vergessenheit. Und jetzt wird die Kriegführung auch noch Spezialisten übertragen und damit immer weiter aus dem Bewusstsein der Bürger gerückt. Der Staatsbürger in Uniform droht auszusterben und diese Entwicklung wird nicht einmal bedauert.

Buchempfehlung

Cover: orell füssli

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Tilgner, Ulrich
Die Logik der Waffen
Westliche Politik im Orient

Orell Füssli Verlag
ISBN: 978-3-280-05489-5
256 Seiten
Euro: 19,95

 

*Horst Köhler-Zitat: „Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“

Ulrich Tilgner: Frauen in Afghanistan

 

Foto: Elisabeth Stimming
YouTube-Video: Ulrich Tigner

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“Die Waffenhersteller rufen und die Politik folgt”

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Hans-Christian Ströbele (MdB, Bündnis90/Die Grünen) kämpft in Hinblick auf den derzeit besonders im Fokus stehenden Waffenhandel der Bundesrepublik Deutschland für deutlich mehr Transparenz. Mehrfach hat er diesbezüglich Anfragen an die Bundesregierung gerichtet, leider mit nur mäßigem Erfolg. Wie beurteilt der Grünen-Politiker den derzeitigen Geheimhaltungs-Modus der Bundesregierung, was ist demokratisch ggf. gar nicht legitimiert und spielt die Öffentlichkeit überhaupt noch eine Rolle? Wir haben nachgefragt.

Herr Ströbele, eine Anfrage an die Bundesregierung förderte zutage, dass sich der Genehmigungswert für den Export von Kleinwaffen und deren Bestandteile innerhalb eines Jahres verdoppelt hat. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Hans-Christian Ströbele

Foto: stroebele-online.de

Meine Befürchtungen werden bestätigt: Deutsche Waffen scheinen fast überall dabei, wo Kriege geführt werden und getötet wird.

Gerade noch wurden heilige Eide geschworen, als bekannt wurde, dass deutsche Gewehre und andere Waffen nach dem Sturz der Diktatoren in Libyen und Ägypten gefunden wurden, nie wieder sollten Waffen aus Deutschland an Diktatoren und Unterdrücker geliefert werden.

Die Bundesregierung hat offenbar nicht gelernt aus den Fehlern früherer Regierungen. Ganz im Gegenteil ist deutsche Außenpolitik immer mehr von Waffenlieferungen bestimmt. Das kann so nicht weitergehen. Wir brauchen ein Gesetz, um diese Entwicklung zu stoppen.

Werden solche Deals überhaupt ausreichend öffentlich kommuniziert und müssten sie von der Bundesregierung nicht näher erklärt werden?

Nein, selbst der Deutsche Bundestag erfährt viel zu spät davon. Meist erst ein Jahr nach der Bewilligung von Waffenlieferungen. Wir sind auf findige Journalisten und Medienberichte angewiesen. Wir brauchen rechtzeitig die nötigen Informationen, damit das Parlament noch eingreifen kann.

Stehen hier wirtschaftliche Gründe prioritär im Vordergrund und drängen sie ggf. Opfer- und Menschenrechtsaspekte deutlich zurück?

Offenbar sind die Profitinteressen der Waffenindustrie wichtiger als Menschenrechte. Die Waffenhersteller rufen und die Politik folgt.

Wie aktiv zeigt sich die Opposition im Bundestag hinsichtlich einer Hinterfragung dieser Deals und welche Maßnahmen ergreift speziell Ihre Partei, um die derzeit gängige Praxis des deutschen Waffenhandels auf eine andere Ebene zu bringen?

Die Grünen und auch ich sind ständig mit Parlamentarischen Anfragen hinterher, um von der Regierung Auskunft über die Waffenausfuhr zu erhalten. Leider verweigert die Regierung häufig die Antwort unter Berufung auf die Geschäftsinteressen der Firmen und der Besteller der Waffen im Ausland. Ich habe eine Organklage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht, um die Regierung zur Auskunft über die Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien zu zwingen.

Vor allem haben wir einen Vorschlag für ein Gesetz gemacht, um Waffenexporte in Krisenländer und an Diktatoren zum Schutz der Menschenrechte verhindern zu können. Die Berücksichtigung der Lage der Menschenrechte in den Empfängerländern und Krisenregionen darf nicht nur wie bisher in Richtlinien der Bundesregierung stehen, an die sich keiner hält.

Inzwischen laufen Strafanzeigen von Friedensaktivisten gegen eine Waffenschmiede wegen „nachweislich illegaler G36-Gewehrlieferungen in Unruheprovinzen Mexikos“ sowie „wegen des Verdachts illegaler G36-Exporte an Libyen“. Halten Sie das für überzogen oder ist es ein erster Schritt in die richtige Richtung?

Das sind wichtige Schritte in die richtige Richtung, die ich ausdrücklich unterstütze. Ich habe solche Anzeigen auch zum Anlass für Anfragen gemacht und auf Kundgebungen dafür gesprochen.

Nicht nur Kleinwaffen und deren Bestandteile sind ein Problem, sondern auch die sich weiter ausweitenden Panzer-Deals u.a. auch mit Saudi-Arabien. Was halten Sie von der diesbezüglichen Praxis, solche Deals komplett unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu entscheiden?

Das passt nicht in eine offene Demokratie. Das Parlament ist die Vertretung des Souveräns und muss die Möglichkeit haben, sich einzumischen und Stopp zu rufen, wie das holländische Parlament es uns Ende letzten Jahres vorgemacht hat, als es eine Panzerlieferung nach Indonesien durch einen Beschluss blockiert hat.

Entschieden werden solche Panzer-Deals – durchaus auch mit autokratischen Staaten – im sogenannten Bundessicherheitsrat. Dieser besteht neben der Bundeskanzlerin aus acht weiteren ständigen Mitgliedern, die allesamt der Bundesregierung angehören. Halten Sie diese Zusammensetzung in Hinblick auf eine demokratische Legitimierung für ideal?

Demokratisch legitimiert ist da nichts. Das ist sogar mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren. In Artikel 26 steht ausdrücklich, dass die Bundesregierung über den Export von Kriegswaffen entscheiden muss, nicht ein Geheimgremium.

Dieses geheime Gremium unterliegt als Teil der exekutiven Gewalt der Bundesregierung keinerlei Kontrolle durch den Bundestag. Lässt sich das in einer parlamentarischen Demokratie überhaupt guten Gewissens weiterhin aufrechterhalten?

Zumindest muss die gesamte Bundesregierung die Verantwortung übernehmen. Die Frage wird das Verfassungsgericht hoffentlich ein für allemal entscheiden. Leider dauert die Entscheidungsfindung über die Organklage Jahre. Ich hoffe, sie kommt noch dieses Jahr. Allerdings geht es zunächst erst mal nur darum, inwieweit die Regierung dem Parlament Auskunft geben muss über die Entscheidungen des Bundessicherheitsrates.

Der Bundessicherheitsrat ist auch zu keinerlei Rechenschaft hinsichtlich der getroffenen Entscheidungen verpflichtet. Wie hoch schätzen Sie den Anteil jener Parlamentarier ein, die damit nicht einverstanden sind?

Sehr viele scheinen unsere Bauchschmerzen mit solchen Panzerlieferungen wie die nach Saudi-Arabien zu teilen. Weit über die Oppositionsfraktionen hinaus auch in der Unionsfraktion und der FDP. Dazu gibt es öffentliche Äußerungen aus allen Parteien. Allerdings ist völlig offen, wie viele Kritiker dann letztlich auch zu Ihrer Meinung stehen, wenn es zur Abstimmung im Parlament käme und die Fraktionen eingeschworen werden.

Kommt Deutschland mittelfristig aus dem Geheimhaltungs-Modus im sensiblen Bereich Waffenhandel heraus und falls nicht, woran scheitert ein solcher demokratischer Anspruch Ihrer Einschätzung nach?

Die Regierung scheut die öffentliche Diskussion im Plenum des Parlaments aber auch in den Medien. Sie ist wohl nicht sicher, wie sie Ihre Entscheidungen von Kriegswaffen in autoritäre Regime rechtfertigen soll, wen diese Panzer auch gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden.

Verweise:

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AfD – Kritisches Gedankengut zum Schaden unserer Demokratie

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Andreas Kemper, Der Partei-Gründer Konrad Adam hat in einem relativ unbekannten aber spektakulären Beitrag unter dem Titel „Wer soll wählen?“ angeregt, Erwerbslosen und sogenannten „Inaktiven“ das Wahlrecht abzuerkennen. Was bedeutet ein solches Gedankengut für unsere Demokratie?

Autor Andreas Kemper (Foto: 123comics.net)

Autor Andreas Kemper (Foto: 123comics.net)

Konrad Adam hatte in seinem Artikel Bezug genommen auf eine Forderung André Lichtschlags, die schon lange von Hayekanern gestellt wird.

Hayek hatte im Kapitel „Der Wert der Freiheit“ seines Hauptwerkes gemeint, man könne vernünftigerweise argumentieren, denjenigen das Wahlrecht zu entziehen, die vom Staat bezahlt werden.

Adam schloss sich dieser Sichtweise an, und zwar in einer verschärften Form: man könne nicht, sondern man müsse heute so argumentieren, behauptete sein Vorredner und Adam fügte hinzu, dass es nicht sinnvoll gewesen sei, das Wahlrecht von Eigentum zu entkoppeln, da nun die Passiven die Aktiven bremsen würden.

Wie ordnen sie eine solche „Idee“ ein?

Mit unserer jetzigen Verfassung wäre es nicht vereinbar, einer bestimmten Bevölkerungsgruppe das Wahlrecht zu entziehen. Wahlen sind allgemein, das wurde gegen den Widerstand von monarchistischen und nationalliberalen Gruppen erkämpft. Abgesehen von der Verfassungsfeindlichkeit dieser Aussagen spricht aus ihnen eine unglaubliche Verachtung von Langzeitarbeitslosen.

Hat sich Konrad Adam von diesen Aussagen jemals wieder distanziert?

Mir ist nicht bekannt, dass sich Adam von dieser Aussage distanziert hätte.

Sie weisen auch darauf hin, dass auch Roland Vaubel, öffentlich darüber „nachgedacht haben“ soll, sogenannten “Unterschichten” das passive Wahlrecht abzuerkennen. Können Sie das anhand einer Quelle bestätigen?

Roland Vaubel hingegen hat sich auf seiner Institutsseite von Aussagen distanziert, die ihm unterstellen würden, Unterschichten das passive Wahlrecht abzuerkennen. In der Öffentlichkeit ist die Passage aufgefallen, nachdem sie 2007 im neoliberalen Blog „Wirtschaftliche Freiheit“ unter dem Titel „Der Schutz der Leistungseliten in der Demokratie“ erschien. Dabei handelt es sich um eine kürzere Wiedergabe seines Beitrags „Ideen zu einem Versuch, die Tätigkeit des Staates zu begrenzen“ während einer Tagung von 2005 der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung. Ähnliches formulierte er aber bereits seit mindestens 1989. Ein Buchbeitrag von ihm begann mit den Worten: „Sozialpolitik kann […] einen Teil der Bürger schlechter stellen, um zugunsten anderer umzuverteilen. Ein Staat, der einen Teil seiner Bürger schlechter stellt, kann kein freiheitlicher Rechtstaat sein.“ (Vaubel 1989, 39).

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

In einer sehr extremen Weise werden hier Freiheit – im Sinne von unbegrenzter Profit- und Reichtumsmaximierung – und Gleichheit gegenüber gestellt. Sozialpolitik ist nur dann okay, wenn sie nicht der Profitmaximierung der Reichen im Wege steht. Vaubel bezieht sich in seinen Argumentationen auf einen Ökonomen aus dem 19. Jahrhundert (Knut Wicksell), der die Einführung des Parlamentarismus zwar begrüßte, aber unter dem Vorbehalt, dass über Steuerentscheidungen nur in „Einstimmigkeit und Freiwilligkeit“ entschieden werden dürfe, um die „Tyrannei“ der unteren Klassen zu verhindern.

Er ergänzte seine Idee, sogenannten „unteren“ Klassen das passive Wahlrecht zu entziehen, mit dem Hinweis: „Wussten Sie, dass auch unser Grundgesetz – Art. 137, Abs. 1 – Beschränkungen des passiven Wahlrechts (für Angehörige des öffentlichen Dienstes!) zulassen würde? “
In den Texten Vaubels fällt auf, dass er die Bevölkerung in „Bürger“ und „Tyrannei der Mehrheit“ unterscheidet. So sei durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union die „Freiheit der Bürger“, die Vertragsfreiheit, bedroht. „Vertragsfreiheit“ ist ein Paradoxon, da Verträge zunächst die Freiheit einschränken. Und Verträge können aufgrund von Machtverhältnissen diskriminierend oder arbeitsrechtlich bedenklich sein. Nicht zuletzt, um die Freiheit der Schwächeren zu schützen, stehen die Grundrechte über die Vertragsfreiheit.

Gibt es weitere Quellen, die seine Äußerungen untermauern?

Ja, so schrieb Vaubel 1989:
„Volksabstimmungen [können] dazu dienen, zumindest den Einfluß der Sozialpolitiker, der Sozialbürokratie und der Interessenverbände zu mindern. […] Eine zunehmende Zentralisierung oder Harmonisierung der Sozialpolitik – wie sie für den europäischen Binnenmarkt gefordert wird – würde […] den Mißbrauch der Sozialpolitik verstärken, die wirtschaftliche Malaise verschärften und den Verfall des freiheitlichen Rechtsstaates beschleunigen.“

Und in einer weiteren Quelle hieß es 2007 bei ihm:
„Gefährlich ist die direkte Demokratie jedoch dort, wo es um Fragen der staatlichen Umverteilung geht, denn der mittlere Wähler ist Umverteilungsgewinner. In der repräsentativen Demokratie ist die Tyrannei der Mehrheit schwächer, denn die Repräsentanten der Mehrheit können durch die Verfassung in ein System der Checks and Balances eingebunden werden. Volksabstimmungen würden die Umverteilung daher eher verstärken.“

Welche konkreten Schlüsse lassen derartige Äußerungen denn aus Ihrer Sicht zu?

Hieraus wird ersichtlich, dass es gar nicht um den Entwurf einer konsistenten Demokratietheorie geht, sondern um die Frage, wie sich eine selektive Demokratie entwickeln lässt, die dann zu unternehmerkonformen Ergebnissen führt. Hier gibt es eine Parallele zum selektiven Bildungssystem. Und es ist kein Zufall, dass Adam von der Bildungsunfähigkeit von türkisch-islamischen Arbeitersöhnen spricht und dabei das Klischee des Messerstechers benutzt, und dass Vaubel davon ausgeht, dass Bildungsaufsteiger die Volkswirtschaftslehre beeinträchtigen, weil sie verbal-logisch eingeschränkt seien.

Welche Parameter legt die AfD Ihren Recherchen zufolge zur Klassifizierung von vermeintlichen „Unterschichten“ an?

Die Sympathien für Sarrazin, die aus den Kommentaren der AfD-Facebookseite und aus Bekundungen von AfD-Repräsentanten wie Hans-Olaf Henkel, hervorgehen, lassen schlimmstes befürchten. Die sogenannte „Unterschicht“ scheint als Kostenfaktor und Bremsklotz wahrgenommen zu werden. Eine Reihe von Wirtschaftsprofessoren, die jetzt für die AfD kandidieren, hatte 2005 den „Hamburger Appell“ gegen Lohnerhöhungen und für weitere Einschnitte ins soziale Netz unterschrieben. Sie forderten auch eine weitere Verschärfung von HartzIV. Diese Gruppe von Marktradikalen dominiert die AfD auf allen Ebenen: Bernd Lucke, Alexander Dilger, Jörn Kruse, Joachim Starbatty, Roland Vaubel.

Es fällt auf, wie oft von Seiten der AfD das Wort „Rote Linie“ benutzt wird. Henkel setzte sich als Berater der Bank of America dafür ein, dass das sogenannte „Redlining“ wieder eingeführt wird. Arme Stadtviertel sollten mit einer roten Linie ausgegrenzt werden, deren Bewohner sollten generell als nicht-kreditwürdig markiert werden. Eine ähnliche „Rote Linie“ soll auch mit dem Nord-Euro und den Süd-Euro gezogen werden. Es geht darum, Arme auszugrenzen.

Haben Sie den Eindruck gewonnen, die AfD sieht sich im Gegenzug als Oberschichten-Partei?

Ja, mit zwei Einschränkungen. Zum einen hat ein Streit innerhalb der Unternehmerverbände über die EU-Politik zur Entstehung der AfD beigetragen. Die FDP und CDU/CSU vertreten die Interessen des mächtigen BDI, die Verbände der Familienunternehmer haben im Streit um die EU-Politik keine Interessenvertretung im Parlament. Der milliardenschwere Familienunternehmer August von Finck hatte bereits die DM-Partei Bund freier Bürger mit sechs Millionen DM und eine Kampagne des BürgerKonvent mit sechs Millionen Euro unterstützt. Der BürgerKonvent gehört jetzt zum Netzwerk Zivile Koalition der AfD-Kandidatin Beatrix von Storch.

Die andere Einschränkung: Eine Partei kann nicht nur die Interessen eines Teils der Oberschicht repräsentieren. Hinzu kommt also noch das Sarrazin-Potential, also gutsituierte, karriereorientierte Menschen mit Deklassierungsängsten. Sozialstrukturell gesehen repräsentiert die AfD in etwa die Bevölkerungsgruppen, die in der Weimarer Republik die Etablierung der NSDAP vorantrieben.

Welches weitgehend objektives Fazit zur AfD ziehen Sie nach Ihrer gründlichen Recherche und welchen Einfluss bemessen sie dieser Partei zum derzeitigen Zeitpunkt zu?

Die AfD basiert auf verschiedenen Netzwerken. Da gibt es die reichen Familienunternehmen, die sich durch BDI-Politik der CDU/FDP nicht mehr vertreten sehen. Parallel dazu gibt es Netzwerke von libertären, marktradikalen Volkswirtschaftsprofessoren, die mit ihren jahrzehntelangen Forderungen nach einer Niedriglohnpolitik nun in der Krise mit dem Rücken an der Wand stehen. Seit Jahren wird zudem am Aufbau einer rechtskonservativen Kampagenenstruktur, wie Konvent für Deutschland, BürgerKonvent oder Zivile Koalition gearbeitet. Und es wurde von Diskriminierungsforschern eine zunnehmende „Verrohung“ des Bürgertums festgestellt, womit die Sarrazin-Fans gemeint sind. Dies zusammengenommen ist die AfD-Basis.

Sie wird zerfallen, wenn ein Teilziel erreicht ist, nämlich ein angepeilter Rechtsruck in der CDU/CSU. Problematisch zum jetzigen Zeitpunkt ist jedoch, dass die AfD nicht nur die eigenen demokratiefeindlichen Positionen als demokratisch verkauft, sondern auch mit extrem rechten Magazinen wie die Junge Freiheit zusammenarbeitet und ihnen ein bürgerliches Mäntelchen umzuhängen versucht. Und gefährlich ist auch die „Demokratie als Mogelpackung“, wie Thomas Wagner dies bezeichnete, die von der AfD ausgeht.
Ob die AfD den Einzug ins Parlament schafft, ist ungewiss. Dies hängt wahrscheinlich davon ab, ob die Partei noch eine Finanzspritze erhält und/oder ob sie weitere prominente Personen für sich gewinnen kann. Die rechtskonservativen Netzwerke hinter der Partei werden jedenfalls bleiben.

Rechte Euro-Rebellion
Alternative für Deutschland und Zivile Koalition e.V

Broschiert: 96 Seiten
Verlag: Edition Assemblage (8. Juli 2013)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3942885492
ISBN-13: 978-3942885492
Preis: Euro 9,80

Kommentierung unter Teil 1 möglich:
Vertritt die AfD demokratiefeindliche Postionen?

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politplag: “Mir hat es buchstäblich die Sprache verschlagen”

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So wie es derzeit aussieht, werden Martin Heidingsfelder und sein Team so schnell nicht arbeitslos. Aktuell gibt es erneut mehrere Plagiatsfälle zu beklagen. Wir haben nachgefragt. Im Gespräch mit Martin Heidingsfelder. Der Gründer von VroniPlag Wiki und Betreiber von politplag kandidiert im Herbst für den Bayerischen Landtag und den Deutschen Bundestag.

Herr Heidingsfelder, Sie betreiben das Portal politplag. Was genau steckt dahinter und welche Ziele verfolgen Sie mit Ihren Mitarbeitern?

Martin Heidingsfelder (Foto: Dirk Messberger)

Martin Heidingsfelder (Foto: Dirk Messberger)

Wir erlebten in der laufenden Legislaturperiode, dass mit Hilfe von engagierten Bürgern, den Medien, Plagiatssuchern und Plagiatsdokumentaren Minister ihre Posten verloren haben und etliche Plagiatoren ihre Doktortitel zurückgegeben haben. Auf einer von mir 2011 gegründeten Dokumentationsplattform wurden mehrere delikate Fälle, wie der des ehemaligen sächsischen Kultusministers Wöller und der Ex-Bundesministerin Annette Schavan, nicht dokumentiert.

Dem Plagiat von FDP Bürgermeister Jürgen Goldschmidt wurde bei VroniPlag Wiki nur unbeherzt nachgesetzt. Somit war es in meinen Augen eine Notwenigkeit, das Bewusstsein auf Schaufensterdissertationen und Plagiate bei Politikern im Rahmen von www.politplag.de zu legen.

Die zurückliegenden Plagiatsfälle haben einen ziemlichen Wirbel verursacht. Wurden Sie und Ihre Mitarbeiter hinsichtlich Ihrer Aufklärungsarbeit schon einmal angegriffen?

Na, es gab schon mal Drohbriefe. Einer, der allerdings nicht bei mir, sondern bei einer Parteizentrale einging, führte auch zu einer Strafanzeige und Ermittlungen. Persönlich lasse ich bedrohliche Mails meist links liegen. Wenn mich Vorwürfe von einem ersichtlichen Absender erreichen, antworte ich, sofern ich Zeit habe. Häufiger sind allerdings Beleidigungen, aber das „juckt“ mich nicht. Ein handgeschriebener, persönlicher Brief mit Lob eines anständigen Professors wiegt hunderte nicht so schöner Mails auf.

Die Einsicht, einen großen Fehler gemacht zu haben, ist bei Betroffenen nicht durchgängig erkennbar. Zählen Plagiate zur Abteilung Kavaliersdelikte?

Aus Sicht der Wissenschaft ist das absolut kein Kavaliersdelikt. Zu Recht werden Plagiatoren aus dem Wissenschaftsbetrieb entfernt. Die Urheberrechtsverletzungen, der strafbare Teil, ist meist unerheblich und wird fast immer gegen Geldauflage eingestellt.
Aus Sicht der Politik wird leider versucht, Plagiate als Kavaliersdelikt hinzustellen. Legendär war die Äußerung unserer Kanzlerin: „Ich habe keinen wissenschaftlichen Assistenten […] berufen…“

So, wie es aussieht, werden Sie und Ihr Team nicht arbeitslos. Gibt es aktuell einen Fall, der über Hinweise hinaus bereits definitiv als Plagiat eingeordnet werden kann?

Tatsächlich haben wir in den letzten Wochen wieder einen Höhepunkt der Plagiatssuche erlebt und kommen mit der Arbeit kaum mehr nach. Plagiatsprüfungen sind sehr zeitaufwendig, wenn man sie seriös machen will, wie dies bei uns der Fall ist.” Somit gibt es im Nachgang der Schavan-Affäre etliche Plagiatsfälle.

Aufgrund der Hitze waren wir bei VroniPlag® letzte Woche weniger in Bibliotheken, hatten etwas Zeit und haben fünf Plagiatsanzeigen geschrieben. Zwei davon betrafen Plagiate aus dem Umfeld der Union. Diese zwei Plagiatoren sind weder aktuelle Bundestags- noch Landtagskandidaten, eher „kleine Fische“. Bei politplag wurde vor einiger Zeit ein Selbstplagiat in der Dissertation eines Bundestagsabgeordneten entdeckt. Wir haben zwar noch keine Antwort von der Universität, gehen aber davon aus, dass die Voruntersuchung schon begonnen hat.

Auf Anregung der Bundesministerin Wanka will die Hochschulrektorenkonferenz nun die Verjährung von Plagiaten in Betracht ziehen. Wie denken Sie darüber?

Das Feedback, welches ich von Wissenschaftlern zum Thema Verjährung erhalte, zeigt eher Empörung über diesen Vorschlag. Deutschland wäre international ein Vorreiter, der sich in der Wissenschaft lächerlich macht. Ihnen, Frau Pidun, als Journalistin, habe ich unter dem Mantel der Verschwiegenheit einen spektakulären Plagiatsfund mit Plagiatsanzeige und Gerichtsunterlagen einer Dissertation aus dem Jahr 1994 übermittelt. Der Herr Doktor wurde 1991 wegen fortgesetztem Titelmissbrauchs verurteilt, am 30. Juni 1994 erneut. Im selben Jahr hat er eine „vermeintlich ordentliche Dissertation“ veröffentlicht. Aufgrund der Vorgeschichte wurde ihm später der Doktortitel wieder aberkannt. Durch die Instanzen hat er am Verwaltungsgericht, aus welchen Gründen auch immer, Recht bekommen und führt den Doktortitel nun seit knapp 20 Jahren.

Als ich seine Dissertation ohne diese Vorkenntnisse in die Hand nahm und auf Anhieb vier Plagiate auf vier Seiten entdeckte, hat es mir buchstäblich die Sprache verschlagen. Dieser Mann hatte ganze Absätze aus einem Buch wortwörtlich ohne Anführungszeichen „abgekupfert“.

Was ging Ihnen angesichts einer derart haarsträubenden Diagnose durch den Kopf?

Nicht nur mir stellt sich bei solchen Erkenntnissen die Frage: Sollte dieser Wissenschaftsbetrüger und Wiederholungstäter nun lebenslang Doktor sein? Mit einer illegalen Doktorwürde würde dieser Mann bei einer Verjährung fortdauernd einen Vorteil durch seine planmäßigen Untaten erlangen. Er würde sich eine höhere Reputation, höheres Vertrauen in seine Leistungen und bezüglich seiner Seriosität verschaffen. Er würde fortwährend gesellschaftliche und materielle Vorteile erlangen. Wenn der Doktortitel ein Gewohnheitsrecht sein soll, verliert er an Wert. Das kann nicht im Interesse der anständigen Doktoren sein.

In welchem Maße wurde Ihrer Erhebung nach plagiiert und wie stufen Sie einzelne Fälle im Vergleich zu anderen Plagiaten ein, bevor Sie diese anzeigen?

Grundsätzlich versuchen wir, uns bei Plagiatsanzeigen auf zwei DIN A 4 Seiten zu beschränken, wenn wir uns sicher sind, dass weitere erhebliche Plagiate in der Dissertation vorliegen. Die fünf Anzeigen der letzten Woche erfüllten das alle locker. Wenn Sie allerdings eine Dissertation mit nur 10-12 Seiten vorliegen haben, dann reicht in unseren Augen schon wenig aus für unsere Empfehlung, die Arbeit von Universitätsseite zu untersuchen sowie anschließend den Titel zu entziehen. In der Regel beschäftigen wir uns zwei Tage mit einer Dissertation. Reichen die Funde bis dahin für eine Anzeige nicht aus, empfehlen wir unseren Geschäftspartnern die Untersuchung abzubrechen. Natürlich rutscht dabei bestimmt auch mal ein Plagiator durch unser feinmaschiges Netz.

Nehmen Sie Kontakt mit Betroffenen auf, wenn Sie eindeutig Plagiate verifiziert haben, falls ja, wie sind die Reaktionen?

Gelegentlich nehme ich Kontakt zu Personen auf, bei denen die Herkunft des Doktortitels unklar ist. In einem Fall, an den ich mich gut erinnere, hat mich der doktortitelführende Unternehmensberater angeschwindelt. Weitere Recherchen haben ergeben, dass er sich den Titel vor Jahrzehnten in der Schweiz gekauft hatte. Heute hat er alle Hinweise auf seinen Doktortitel im Internet und auf Geschäftspapieren entfernt. Er hat in den Vereinen und Verbänden, in denen er aktiv war, einige schwere Canossagänge hinter sich gebracht und seinen Fehler dort eingestanden.

Die Kopie seines korrigierten Ausweises hat er mir zwar noch nicht geschickt, aber zu sehr will ich die Menschen auch nicht belästigen. Zudem ist es wahrscheinlich gefährlich, den Doktortitel bei den Behörden verschwinden zu lassen, da diese solche Verstöße den Ermittlungsbehörden weitermelden müssen.

An meiner Alma Mater habe ich fehlende Anführungszeichen in der Arbeit einer Juristin todesmutig dem Doktorvater persönlich vorgelegt. Er hat die Dame verteidigt, was ich erst einmal honorig finde. Dann hat er mich ins Schwitzen gebracht. „Sind Sie Jurist?“ Somit könne ich das gar nicht beurteilen. Allerdings waren seine Argumente nicht schlüssig. Wir haben vereinbart, unser Gespräch im Juli fortzusetzen.

Was geschieht denn nach einer Plagiats-Diagnose? Benachrichtigen Sie zunächst die zuständige Universität und stellen später Strafanzeige? Und wann gehen Sie an die Öffentlichkeit?

Das unterscheidet sich von Fall zu Fall. Strafanzeigen stelle ich nur bei extremen Fällen des Titelmissbrauchs, also eher bei gekauften Titeln. Bei Plagiaten versuchen wir zunächst immer den freundlich-kooperativen Weg mit den Universitäten. Außerdem bin ich nach mittlerweile mehr als zwei Jahren Plagiatssuche etwas geläutert. 2011 war ich der Überzeugung, man müsse jeden noch so kleinen Fall öffentlich machen. Zu dieser Zeit lag mir der Aufbau und das Wachstum von VroniPlag Wiki am Herzen. Im Sommer desselben Jahres bekam ich aber die ersten Zweifel. Insbesondere tat mir die Stoiber Tochter Veronica Saß etwas leid, da diese durch meine Wiki-Namensgebung „Vroni“ und den großen Erfolg des Wikis nun auf alle Zeiten als Plagiatorin in den Enzyklopädien dieser Welt und bei Wikipedia stehen wird. So empfehle ich meinen Kunden immer Zurückhaltung, Fälle zu veröffentlichen. Bei Personen, die nicht im öffentlichen Leben und auf den roten Teppichen zu sehen sind, meine ich, sollte man umsichtig Maß halten.

Sind derzeit weitere Fälle von Prominenten in Arbeit, die möglicherweise erneut die Nation erschüttern?

Meinen prominentesten Fund habe ich bereits Anfang 2012 gemacht, aber die Krux an meinem Unternehmerdasein ist, dass ich einerseits den akademischen Gepflogenheiten anderseits durch Vereinbarung mit dem Auftraggeber zur Verschwiegenheit verpflichtet bin. Ich bin mir sicher, dass es weitere große Plagiatsfälle gibt und noch einiges Überraschendes ans Tageslicht kommen wird.

Wünschen Sie sich für Arbeit künftig noch mehr Unterstützung und in welcher Form könnte das geschehen?

Wenn ich mir etwas wünschen dürfte: dass die nächste Bundesregierung jemanden findet, der das Problem wirklich beherzt und nachhaltig angeht. Annette Schavan war vermutlich befangen. Nach monatelanger Untätigkeit in Sachen Plagiaten wurde ihr eigener Sündenfall publik. Wissenschaftler ließen sich instrumentalisieren und bagatellisierten in ihrem Fall die Sachlage. Da war ich richtig geschockt, welche Kräfte an einem klaren Regelwerk Hand anlegten, um Frau Schavan den „Allerwertesten“ zu retten. Da die Nachfolgerin Johanna Wanka mit Verjährung und anderen Vorschlägen ebenfalls die Zügel schleifen lassen will, haben wir es offensichtlich mit einer weiteren Fehlbesetzung in diesem ominösen Wechselkabinett Merkel II zu tun.

Planen Sie auch in der weiteren Zukunft ihr Berufsleben in den Dienst der Plagiatssuche zu stellen?

Die Arbeit, welche ich jetzt als Freiberufler ausübe, gehört irgendwann zurück an die Universität, damit das Sinnvolle, das wir tun, die formelle Anerkennung erhält, die spezialisierte Plagiatssucher verdient haben. Wir haben einen jahrzehntelangen Missstand aufgedeckt und in die Öffentlichkeit getragen. Die Qualität der Dissertationen ist durch aufgedeckte und veröffentlichte Plagiatsfälle gestiegen und die Anzahl der neuen Plagiate sicher rückläufig. Eigentlich warte ich schon seit ein paar Monaten darauf, dass eine Universität oder Landesregierung den Mut hat, eine entsprechende Stelle auszuschreiben und als Pilotprojekt zu starten.

Foto: Dirk Messberger
Header-Sliderfoto: alexskopje / Clipdealer.de

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Vertritt die AfD demokratiefeindliche Positionen?

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Im Gespräch mit Andreas Kemper. Im Juli erscheint seine Publikation: „Rechte Euro Rebellion – Alternative für Deutschland und Zivile Koalition e.V.“. Der Autor arbeitet als Doktorand an der Universität Münster zum Thema Klassismus und publiziert zum organisierten Antifeminismus sowie zum Thema Klassendiskriminierung.

Andreas Kemper, Sie haben sich auch in Hinblick auf Ihre im Juli erscheinende Publikation lange und intensiv mit der neu gegründeten Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) befasst. Gab es etwas, das Sie anlässlich Ihrer Recherchen völlig überrascht hat?

Überrascht hat mich immer wieder, wie gut die Puzzle-Teilchen meiner Recherche ineinandergriffen. Ich kam mir vor wie ein Paläontologe, der erst einen Knochen und dann noch einen findet, bis sich schließlich das Skelett eines Tieres ergibt, von dem man dachte, es würde in eine andere Zeit gehören.

Dass Hans-Herbert von Arnim bspw. bereits 2006 mit dem Ehepaar von Storch zu tun hatte wegen der Rückgabe der ostelbischen Adelsgüter und dass in dieser Zeit die Gründung der Zivilen Koalition fiel, das war schon überraschend. Genauso wie die Formel „Reform der politischen Entscheidungsstruktur“, die seither immer wieder auftauchte.

Was hat es mit der von Ihnen angesprochenen „Zivilen Koalition“ auf sich, also welche Ziele verfolgt dieser Verein?

Die Zivile Koalition e.V. wurde Ende 2006/ Anfang 2007 von Beatrix von Oldenburg (jetzt Beatrix von Storch) und Sven von Storch gegründet. Mit dabei war Klaus Peter Krause, der in jüngster Zeit wohlwollende Rezensionen zu Büchern geschrieben hat, in denen allen Ernstes die Rückkehr zur Monarchie gefordert wurde. Der ehemalige FAZ-Redakteur Krause schreibt für das Internet-Magazin „Freie Welt“, welches – wie eine Reihe anderer Internet-Präsenzen (ich kam bei der letzten Zählung auf acht) – zum Netzwerk der Zivilen Koalition zählt.

Es handelt sich dabei um ein ultra-konservatives, christlich-familialistisches Kampagnennetzwerk, welches über 14 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verfügen soll – angeblich ausschließlich über Kleinspenden finanziert. Eine bekannte Mitarbeiterin ist seit kurzem die ehemalige Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld (CDU). Sie ist zuständig für das Themenfeld Direkte Demokratie und sitzt wie Klaus Peter Krause und Beatrix von Storch auch im Vorstand der marktliberal-konservativen Kampagnenschmiede BürgerKonvent e.V. Eine Kampagne des BürgerKonvents wurde damals vom Milliardär August von Finck mit sechs Millionen Euro finanziert.

Ein weiteres Gründungsmitglied, Karl Feldmeyer, hatte während der Berlin-Konferenz der Zivilen Koalition im November 2011 zur Gründung einer neuen Partei aufgerufen. Ex-BDI-Chef Hans-Olaf Henkel begrüßte das, Beatrix von Storch schwieg dazu, sie ist jetzt aber auf dem zweiten Platz der Berliner Landesliste der AfD.

Die AfD präsentiert sich gegenüber der Öffentlichkeit insbesondere als „Euro-Rebell“. Das wirkt durchaus wie ein Magnet. Doch wenden wir uns einmal der von Ihnen angesprochenen Formel „„Reform der politischen Entscheidungsstruktur“ zu. Wie müssen wir uns eine solche Reform vorstellen?

Es gibt da eine ganze Reihe von Ideen. Der Philosoph und Buchautor Peter Sloterdijk spricht von einer „neuen politischen Architektur“ und der Assistent von Sloterdijk, Marc Jongen, ist auch Mitglied der AfD. Das Ziel dieser „Reform“ scheint darin zu bestehen, das Kräfteverhältnis im „fiskalischen Bürgerkrieg“ (Sloterdijk) zwischen „gebender Hand und nehmender Hand“ (Sloterdijk) zu verändern. Nachdem es Ende der 90er Jahre zu einer rot-grünen Koalition kam, überlegten konservative Kreise, wie das politische System geändert werden könnte. Dies verschärfte sich noch einmal, als 2005 Die Linke ihren Stimmanteil verdoppeln konnte. Es gab Überlegungen, das Verhältniswahlrecht in Deutschland durch ein Mehrheitswahlrecht auszutauschen, damit Linksbündnisse verhindert werden sollten.

Soll damit kräftig am bestehenden parlamentarischen System gekratzt werden und wohin führt ein solcher Weg?

Sie werden versuchen, den Parlamentarismus zu ändern. Es gibt Bundestagskandidaten der AfD, die die Abschaffung des Parlamentarismus fordern, wie Behrendt aus NRW. Konkret geht es aber zunächst darum, die Landesminister und den Bundespräsidenten direkt wählen zu lassen. Diese Direktwahlen sollen dann verbunden werden mit einem Machtzuwachs der Ämter, weil man sich sonst – so die Argumentation – die Direktwahl gleich schenken könnte. Bei dieser Forderung nach Direktwahlen wird dann – zum Beispiel von Hans-Olaf Henkel – darauf hingewiesen, dass die Alliierten das Parteiensystem in Deutschland gestärkt hätten aus der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus. Hitler hatte ja in Mein Kampf gegen die „jüdische“ Parteiendemokratie gewettert und stellte sie der „germanischen“ Direktwahl von Führern gegenüber.
Es wird dann argumentiert: erstens haben die Alliierten nichts mehr zu sagen, zweitens sei das deutsche Volk nicht mehr anfällig für den Faschismus, drittens mache die Globalisierung heute eine veränderte Entscheidungsstruktur notwendig.

Sie haben in einem Beitrag geschrieben, Hermann Behrendt, der zum stellvertretenden Landesvorsitzenden der AfD in Nordrhein-Westfalen gewählt wurde, habe angeblich gefordert, die Parlamente auf Bundes- und Landesebene abzuschaffen, da „die derzeitige Politikform Arbeitsscheue begünstige“. Gibt es hierzu einen Beleg?

Behrendt hat sein entsprechendes Buch online gestellt. Mit einem Suchprogramm findet man die Begriffe „Arbeitsscheue“ und „Migration der Falschen“ im dazugehörenden Kontext. Behrendt übernimmt weitgehend die abwertende Sprache des BürgerKonvent-Gründers Meinhard Miegel. Natürlich drücken sich lehrende Professoren wie Jörn Kruse in ihren strukturellen Gegenentwürfen zum jetzigen Parlamentarismus gewählter aus als der Parteikollege Hermann Behrendt. Ein Hochschulprofessor könnte es sich natürlich auch nicht leisten, sich so offen zu äußern wie Behrendt, der im Vorwort seines Buches zur Abschaffung des Parlamentarismus schreibt: „Mein Traum rüttelt an den Prinzipien des Grundgesetzes“. Die Intention ist aber vergleichbar: den Parlamentarismus strukturell unternehmerfreundlicher zu machen.

Haben Mitglieder der AfD aus Ihrer Sicht ein Mehrheitswahlrecht nur punktuell gefordert, also mit Blickrichtung auf ein bestimmtes Ziel oder zählt ein Mehrheitswahlrecht ganz generell zu den Forderungen dieser Partei?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die AfD momentan für ein Mehrheitswahlrecht eintritt, da sie dann ja noch geringere Chancen hätte, ins Parlament einzuziehen. Es ging damals speziell um die Linke, die in den Bundestag einziehen konnte.

Um welchen Ansatz geht es der Partei dann?

Die AfD vertritt aktuell den Ansatz der Direkten Demokratie. Insbesondere will sie Beschlüsse der EU mit nationalen Abstimmungen rückgängig machen. Hierbei steht die Währungs- und Finanzpolitik im Fokus. Es wäre aber auch denkbar, dass die AfD die Europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien in der bestehenden Weise abschaffen möchte.

Welche Fakten sprechen denn dafür, dass die AfD möglicherweise die Europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien ändern oder gar abschaffen will und welche Gründe könnte das haben?

In der Vereinigten Staaten gab es Anfang der 1990er Jahre heftige Auseinandersetzungen um Diskriminierungsfragen, in deren Verlauf schließlich konservative Politiker die Formel „Political Correctness“ gegen die Antidiskriminierungs-Forderungen strategisch einsetzten. Der Vorwurf der „Political Correctness“ ist seither die beliebteste Waffe gegen Antidiskriminierungspolitik. Im Wahlprogramm der AfD hieß es zunächst: “Wir lehnen einen Gängelung der öffentlichen Meinung unter dem Deckmantel der sogenannten ‘political correctness’ ab.” Verklausuliert heißt es heute:
„Wir setzen uns dafür ein, dass auch unkonventionelle Meinungen im öffentlichen Diskurs ergebnisoffen diskutiert werden, solange die Meinungen nicht gegen die Werte des Grundgesetzes verstoßen.“ (Zur angeblichen Notwendigkeit der Änderung des Grundgesetzes hatte sich allerdings der stellvertretende Sprecher des größten Landesverbandes der AfD, Hermann Behrendt, bereits geäußert).

Gibt es explizit hierzu auch Forderungen von Roland Vaubel, der – wie oben schon erwähnt – als Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der AfD sitzt?

Roland Vaubel fordert, dass die Grundrechte-Charta der EU abzulehnen sei, weil diese die bürgerliche Freiheit angreife. In der Grundrechte-Charta ist das Verbot von Diskriminierung festgehalten. Deutlich wird die Ablehnung des Antidiskriminierungsgesetzes auch durch die vielen Positionierungen: Da ist zum einen der euphorische Beifall zu nennen, den Wolfgang Hübner aus Frankfurt a.M. für sein Pamphlet gegen die Minderheitenpolitik für Schwule erhielt (Zitat Hübner vom 31.3.2013: „Kein vernünftiger, aufgeklärter Mensch will Homosexualität diskriminieren. Aber sind die Anliegen der homosexuellen Minderheit, deren Lobby bestens vernetzt ist, wirklich von solcher Wichtigkeit für die Gesamtgesellschaft, wie das in den Medien sich widerspiegelt?“).

Dann sind die arbeiterkinderfeindlichen Aussagen von Vaubel und Adam zur Bildungspolitik zu nennen. Auch in der Geschlechterpolitik positioniert sich die AfD sehr konservativ. Zudem gab es sehr viel Beifall, als die offizielle Facebook-Seite der AfD den Spruch „Klassische Bildung statt Multikulti-Umerziehung“ postete. Henkels Forderung nach Redlining ist an sich schon diskriminierend, hinzukommen die unverhohlenen Sympathien für den Rassisten Sarrazin.

Lesen Sie in Teil 2:
Kritisches Gedankengut zum Schaden unserer Demokratie

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“Die Verantwortlichen opfern Snowden”

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Nocun Piratenpartei
(Foto: cc-by Miriam Juschkat)

Katharina Nocun, Edward Snowden, Amerikas derzeitiger Staatsfeind No. 1 und Daten-Skandal-Enthüller, sucht weltweit nach Asyl. Deutschland hat vorgestern eine Absage erteilt. Wie beurteilen Sie das?

Die Absage ist ein gigantisches Armutszeugnis für die Demokratie. Snowden hat den Menschen hier die Augen geöffnet über das Ausmaß staatlicher Überwachung. Er hat Fakten auf den Tisch gelegt, die unsere eigenen Regierungen uns jahrelang vorenthalten haben. Er hatte den Mut und die Zivilcourage, die Zukunft der Demokratie im Informationszeitalter über sein eigenes Wohlergehen zu stellen. Die Bundesregierung hingegen scheint sich derzeit einzig und allein ihrem eigenen Wohlergehen verpflichtet zu fühlen, schließlich kam die Empörung über PRISM und TEMPORA auch erst als klar wurde, dass auch Politiker ausgespäht wurden. Dieses Vorgehen kommt einer Bankrotterklärung für das eigene Gewissen gleich.

Das Auswärtige Amt teilte mit, „”Die Voraussetzungen für eine Aufnahme liegen nicht vor”. Welche Voraussetzungen sind denn erforderlich, um in Deutschland politisches Asyl zu erhalten, wenn nicht im Fall Snowden?

Das sind tatsächlich alles nur faule Ausflüchte. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Die Bundesregierung könnte ohne weiteres beschließen, Snowden eine Aufenthaltserlaubnis nach §22 Aufenthaltsgesetz aus politischen Gründen zu geben. Das ist aber politisch nicht gewollt und daher werden fadenscheinige Ausflüchte herangezogen, um dahinter die mangelnde eigene Zivilcourage zu verstecken. Der Fall zeigt außerdem, dass wir dringend einen gesetzlichen Schutz für Whistleblower brauchen, damit Zivilcourage nicht der Machtpolitik der Bundesregierung zum Opfer fällt.

Was erwartet Snowden im Falle einer Auslieferung in den Vereinigten Staaten?

Snowden erwartet bei einer Auslieferung ein ähnliches Schicksal wie seinerzeit Bradley Manning, der Wikileaks Dokumente zu Menschenrechtsverbrechen der US-Armee in Afghanistan zugespielt hat. Menschenrechtsverachtende Haftbedingungen und Folter können aufgrund der neuen Rechtslage nach dem Patriot Act nicht ausgeschlossen werden. Manning selbst wurde erst nach massiven öffentlichen Protesten aus der Isolationshaft genommen. In den USA droht ihm die Todesstrafe.

Der SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz äußerte allerdings gegenüber der „Mitteldeutschen Zeitung“ “Ich kann nicht erkennen, dass der Mann politisch verfolgt wird”. Was halten Sie von dieser Einordnung?

Wiefelspütz selbst ist einer der treibenden Kräfte hinter einem massiven Grundrechtsabbau und Ausbau von Überwachungsstrukturen in Deutschland. So sagte er etwa einst über die Vorratsdatenspeicherung: “Vorratsdatenspeicherung hat mit Terrorismusbekämpfung relativ wenig zu tun. Ich wäre für die Vorratsdatenspeicherung auch dann, wenn es überhaupt keinen Terrorismus gäbe.” Gleichzeitig malt er genauso wie Innenpolitiker aller Farben gerne das Angstbild des internationalen Terrorismus an die Wand um seine Politik des Grundrechtsabbaus rücksichtslos umzusetzen. Dass so jemand Snowden gerne als Messer liefern würde überrascht mich ehrlich gesagt nicht.

Die Bundesregierung fürchtet (wie auch andere Staaten) wohl erhebliche Konflikte mit dem Bündnispartner, im Falle einer Asylgewährung. Wie müssen wir uns solche Konsequenzen vorstellen?

Wir sollten lieber über die Konsequenzen sprechen die uns erwarten wenn wir kein Asyl gewähren und weiter lediglich handzahme halbherzige Unmutsbekundungen über den Atlantik schicken. Schröder hat damals bei der Beteiligung am Irak-Krieg eine Absage erteilt, auch auf die Gefahr hin nicht mehr zur “Achse des Guten” gezählt zu werden. Eine Aufnahme Snowdens durch einen Staat der Europäischen Union würde einer Unabhängigkeitserklärung gleichkommen, für die es längst an der Zeit ist.
In einer gleichberechtigten Partnerschaft muss man Grenzen setzen und nicht über jedes Stöckchen springen das einem hingehalten wird. Nur dank Edwards Snowden hat die europäische Bevölkerung überhaupt erfahren, dass vermeintliche Verbündete grundgesetzliche Grenzen systematisch überschritten haben. Er hat im Interesse der Menschen gehandelt, nicht im Interesse der Regierungen und das macht ihn zu einem wahrhaftigeren Streiter für die Demokratie, als die meisten Abgeordneten es sind. Wir sollten ihm dankbar sein und auch danach handeln.

Was wäre denn in Hinblick auf die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten der „am schlimmsten anzunehmende Fall“, der eintreten würden, wenn Snowden in der BRD unterkommen würde?

Das was unausgesprochen im Raum steht ist doch Erpressung. Wenn die Länder der Europäischen Union sich als Ganzes gegen eine Auslieferung aussprechen würden, wäre die Gefahr gebannt. Aber dazu braucht es eben Rückgrat. Was ist die Aufnahme eines flüchtigen Whisleblowers gegen das jahrelange Ausspähen von Regierungen und Bürgern in der Europäischen Union? Schweden hat die Aufnahme von Assange auch unbeschadet überstanden, da wird zu viel Panik gemacht, auch weil die Verantwortlichen sich vor ihrer Verantwortung drücken und lieber Snowden opfern wollen.

Vordergründig herrscht allerorten Empörung zu den Datenskandalen. Wie verträgt sich das mit der Absage, Snowden abzuweisen?

Genau das ist der Punkt. Die Empörung der Bundesregierung ist lediglich vorgeschoben, um dem Bürger das Gefühl zu vermitteln, Deutschland sei hier erheblich besser als die USA. Während Merkels Regierungszeit wurden allein 50 verfassungswidrige Gesetze verabschiedet. Mit der Änderung des Telekommunikationsgesetzes und der Einrichtung neuer Datensammelschnittstellen bei Telefon- und Internetanbietern für Polizei und Geheimdienste wird auch längst in Deutschland an PRISM-ähnlichen Projekten gebaut. Die Empörung vieler Politiker ist Image-bedingt, denn wer auch nur ein verfassungswidriges Überwachungsgesetz mitgetragen hat, hat für mich jegliche Glaubwürdigkeit in dieser Frage verloren. Die Absage für Snowdens Asylantrag zeigt deutlich, dass die Empörung nur so lange gespielt wird, bis es ernst wird.

Was bedeutet die ablehnende Haltung gegenüber Snowden für unsere Demokratie und auch für die Zivil-Courage einzelner, die ja im Prinzip dann alles aufs Spiel setzen?

Es ist ein Armutszeugnis für die Regierungen dieser Welt. Demokratie lebt vom Einsatz jeden einzelnen für die Freiheitsrechte aller. So lange Whistleblowern klar ist, dass Sie auf der ganzen Welt kein annähernd normales Leben mehr führen können, wird die Bereitschaft einzelner, zum Wohle aller Fehler von Staaten aufzudecken, geringer. Je mehr Repression es gibt, desto mehr Möglichkeiten haben Schnüffelstaaten, ihre geheimen Überwachungsprojekte auszubauen, ohne dass Bürger jemals etwas davon mitbekommen.

Gäbe es mehr Staaten, die Whistleblowern eine einigermaßen sichere Unterkunft gäben, hätten wir vom PRISM-Skandal wahrscheinlich schon vor Jahren erfahren. Und wahrscheinlich würden dann noch weitaus mehr Menschenrechtsverletzungen öffentlich, die man sich gar nicht ausmalen mag. In einer Demokratie müssen wir gemeinsam Entscheidungen fällen, das geht aber nur, wenn wir alle relevanten Informationen haben. Die ablehnende Haltung zum Asylantrag dieses Mannes zeugt von einer ablehnenden Haltung zur echter Integrität und Verantwortung.

Das Interview führte Ursula Pidun
Foto: (cc-by Miriam Juschkat)

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“Snowden hat sich bewusst gegen geltendes Recht gestellt”

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Herr Mayer, Edward Snowden, Amerikas derzeitiger Staatsfeind No. 1 und Daten-Skandal-Enthüller, sucht weltweit noch immer nach Asyl. Deutschland hat eine Absage erteilt. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung?

Stephan Mayer (CSU)Die Entscheidung wurde nach Recht und Gesetz getroffen und ist im Ergebnis richtig. Es besteht keine Möglichkeit Herrn Snowden Asyl zu gewähren.

Das Auswärtige Amt teilte mit, die Voraussetzungen für eine Aufnahme hätten nicht vorgelegen. Welche Voraussetzungen sind denn erforderlich, um in unserem Land politisches Asyl zu erhalten?

Der Asylantrag hätte in Deutschland gestellt werden müssen und es müsste eine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16a des Grundgesetzes vorliegen. Herr Snowden müsste, kurz gesagt, wegen seiner politischen oder religiösen Überzeugung verfolgt werden, und dies müsste sein Recht auf Menschenwürde verletzen.

Dieter Wiefelspütz (SPD-Innenexperte) äußerte gegenüber der „Mitteldeutschen Zeitung“ “Ich kann nicht erkennen, dass der Mann politisch verfolgt wird”. Gehen Sie mit dieser Ansicht konform?

Durch die Veröffentlichung diverser Dokumente könnte Herr Snowden gegen amerikanisches Recht verstoßen und eine Straftat begangen haben. Die USA haben daher einen entsprechenden Auslieferungsantrag an China (Hongkong) und auch an Russland gestellt. Dies stellt keine politische Verfolgung im Sinne des Art. 16a GG dar.

Was könnte Snowden im Falle einer Auslieferung in den Vereinigten Staaten erwarten?

Es ist davon auszugehen, dass Herr Snowden mit der Veröffentlichung von als „streng geheim“-eingestuften Dokumenten amerikanisches Recht verletzt hat. Hierfür müsste er sich voraussichtlich vor einem amerikanischen Gericht verantworten.

Die Bundesregierung fürchtet (wie auch andere Staaten) erhebliche Konflikte mit dem Bündnispartner, im Falle einer Asylgewährung. Wie müssen wir uns solche Konsequenzen vorstellen?

Die Bundesregierung hat aufgrund der geltenden Rechtslage über den Asylantrag von Herrn Snowden entschieden. Mögliche Konflikte mit einem oder mehreren Bündnispartnern spielten dabei keine Rolle.

Was wäre in Hinblick auf die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten der „am schlimmsten anzunehmende Fall“, der eintreten würden, wenn Snowden in der BRD Asyl erhalten würde?

An solchen Spekulationen möchte ich mich nicht beteiligen.

Vordergründig herrscht allerorten Empörung zu den Datenskandalen. Wie verträgt sich das mit der Absage, Snowden abzuweisen?

Die Entscheidung Herrn Snowden zum jetzigen Zeitpunkt kein Asyl zu gewähren, ist rechtlich zutreffend. Dies entbindet aber selbstverständlich nicht unsere Bündnispartner von der notwendigen Aufklärung, welche geheimdienstlichen Maßnahmen tatsächlich in der Vergangenheit erfolgt sind, auf welcher Rechtsgrundlage sie erfolgt sind und gegen wen sie gerichtet waren.

Was bedeutet die ablehnende Haltung gegenüber Snowden für unsere Demokratie und auch für Zivil-Courage einzelner, die ja im Prinzip mit ihrem Handeln alles aufs Spiel setzen?

Auch wenn Herr Snowden sicher mutig war, hat er sich bewusst gegen geltendes Recht gestellt. Für die Konsequenzen seines Handelns sollte er daher auch einstehen.

Foto: S. Mayer, Deutscher Bundestag

Verweise:
Die Verantwortlichen opfern Snowden

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Wolfgang Bosbach: “Auch wir selber betreiben Auslandsaufklärung!”

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Herr Bosbach, der Amerikaner Edward Snowden hat die Öffentlichkeit über die wohl größte Datenspäh-Aktion informiert, die es für Europäer jemals gab. Wie beurteilen Sie die Vorgänge?

Wolfgang Bosbach (CDU)Sowohl das US-Programm „Prism“ als auch das britische Programm „Tempora“ sind unter den Gesichtspunkten Schutz der persönlichen Daten, Vertraulichkeit von Kommunikation, Integrität der informationsverarbeitenden Systeme, aber auch Wahrung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen, z.B. von sehr sensiblen Forschungsergebnissen, nicht akzeptabel.

Art und Umfang des Ausspähens von Daten lassen sich auch nicht pauschal mit „Terrorabwehr“ begründen. Wenn ausgespähte Daten auch dann auf Server ausländischer Dienste umgeleitet und dort gespeichert werden, wenn sie keinen sicherheitsrelevanten Inhalt haben, ist dies nach unserem Verständnis kein legitimes Mittel zur Gefahrenabwehr.

Snowden wurde mit seinem Verhalten zu Amerikas derzeitigem Staatsfeind No. 1 und suchte weltweit nach Asyl. Deutschland erteilte eine Absage. Halten Sie diese Entscheidung für richtig?

Ja, denn ein Asylantrag kann nur in Deutschland selber gestellt werden, nicht vom Ausland aus. Das ist seit Jahrzehnten geltendes Recht. Hätte er ihn in Deutschland gestellt, wäre höchst strittig gewesen, ob er tatsächlich „politisch“ verfolgt ist, also ob er Schutz sucht wegen politischer, rassischer oder religiöser Verfolgung. Die USA fahnden wohl wegen der Verletzung von Strafgesetzen, das ist ein erheblicher Unterschied. Ich persönlich bedauere es, dass die Bundesregierung ihm nicht aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht gewähren konnte.

Vordergründig herrscht allerorten Empörung zu den Datenskandalen. Wie verträgt sich das mit der Absage, Snowden abzuweisen?

Bei der Entscheidung, Herrn Snowden kein Aufenthaltsrecht zu gewähren, hat wohl auch das Ablieferungsabkommen EU-USA eine Rolle gespielt, denn Snowden ist US-Bürger. Die Bundesregierung hat sich wohl von der Überlegung leiten lassen: Wer – aus guten Gründen – auf die Einhaltung von Recht pocht, muss auch selber rechtstreu sein.

Wir wissen, wie die Amerikaner mit Verrätern wie etwa Bradley Manning umgeht, die geheime Daten der Öffentlichkeit preisgegeben haben. Ist unter solchen Aspekten nicht dringend politisches Asyl zu gewähren?

Abgesehen davon, dass ein Asylantrag nicht vom Ausland aus gestellt werden kann, wäre zu prüfen gewesen, ob Snowden für den Fall einer Auslieferung an die USA dort eine unmenschliche Behandlung drohen würde, bspw. bei Verurteilung zur Todesstrafe. Das allerdings kann ich mangels Kenntnis über die Details der strafrechtlichen Vorwürfe nicht abschließend beurteilen.

Was bedeutet die ablehnende Haltung gegenüber Snowden für unsere Demokratie und auch für die Zivil-Courage einzelner, die ja im Prinzip dann alles aufs Spiel setzen?

Die ablehnende Haltung der Bundesregierung bedeutet sicherlich kein Unwerturteil über die Enthüllungen von Herrn Snowden, zumal dieser der Demokratie einen Dienst erwiesen hat. Nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch legal oder legitim. Die Bundesregierung muss sich an Recht und Gesetz halten. Sie hat aber sicherlich auch mit bedacht, das ohnehin aktuell leicht angespannte Verhältnis zu den USA nicht weiter zu belasten.

Ausspioniert wurden bisher Staatsgeheimnisse. Nunmehr wird in nie dagewesener Weise in die Privatsphäre der Menschen eingedrungen. Lässt sich das in dieser Dimension mit sicherheitsrelevanter Vorsorge legitimieren?

Bei aller, auch berechtigter, Kritik sollten wir nicht vergessen: Auch wir selber betreiben Auslandsaufklärung! Und das aus gutem Grunde! Auch wir selber dringen durch sog. G-10 Maßnahmen „in die Privatsphäre von Menschen ein“ – zur Abwehr terroristischer Gefahren, zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden OK oder zur Verhinderung von Proliferation, also der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Wer das für illegitim hält, sollte sich schon die Mühe machen, einmal im Detail zu erläutern, durch welche anderen Maßnahmen diese Ziele ebenso wirkungsvoll erreicht werden könnten.

Sie gelten als Befürworter der Vorratsdatenspeicherung, die am 9. Juli vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt wurde. Welche Argumente sprechen denn aus Ihrer Sicht für einen derart massiven Eingriff in die Bürgerrechte?

Die Erfahrungen nach den verheerenden Anschlägen von Madrid und London, aber auch unsere eigenen – bitteren – Erfahrungen nach der Entdeckung des NSU. Die einschlägige EU-Richtlinie, die auch wir in nationales Recht umsetzen müssen, entstand aus der Erkenntnis, dass die terroristischen Netzwerke am ehesten durch die Aufdeckung ihrer Kommunikationsbeziehungen enttarnt werden können. Der internationale Terror arbeitet grenzüberschreitend, sehr mobil, kommunikativ und konspirativ. Bei der Vorratsdatenspeicherung geht es ja gerade –nicht– um die Speicherung von Inhalten von Kommunikation, und die Daten der Provider werden auch –nicht– automatisch auf Server der Sicherheitsbehörden weitergeleitet. Auf sie darf der Staat nur zur Abwehr oder Aufklärung schwerer Straftaten zugreifen und auch nur dann, wenn dies ein Richter zuvor genehmigt hat.

Interessant ist zu beobachten, dass diejenigen, die am lautesten beklagen, dass das gesamte NSU-Terrornetzwerk immer noch nicht enttarnt werden konnte, ebenso laut gegen die Vorratsdatenspeicherung – genauer gesagt Mindestspeicherfristen – protestieren, obwohl BKA-Präsident Ziercke mehrfach betont hat, wie sehr die Ermittlungen durch fehlende Daten erschwert wurden. Wer diese Form der elektronischen Beweissicherung nicht will, sollte wenigstens den Bürgern die Wahrheit sagen. Bleibt es bei der Nicht-Umsetzung der EU-Richtlinie, bleibt es auch dabei, dass Jahr für Jahr viele Straftaten nicht aufgeklärt und viele Täter nicht überführt werden können, weil es als Ermittlungsansätze nur Verkehrsdaten gäbe – die jedoch längst gelöscht sind.

Im Prinzip demonstriert ein solches Vorgehen aber doch ein Staat-gegen-Bürger-Prinzip?

Die konsequente Verhinderung von Straftaten und Verfolgung von Straftätern ist ein Staat-für-die-Bürger-Prinzip, jedenfalls für den Teil des Publikums, der das Prinzip „so viel Freiheit wie möglich – so viel Sicherheit wie nötig“ für richtig hält. Wenn Straftaten nicht mehr verhindert oder aufgeklärt werden können, weil die einzig verfügbaren Ermittlungsansätze wegen Löschung nicht mehr vorhanden sind, wird dadurch das Vertrauen vieler Menschen – nicht nur der Opfer von Straftaten – nachhaltig erschüttert.

Lässt sich hinsichtlich der nunmehr bekanntgewordenen sicherheitspolitischen Eingriffe der Amerikaner überhaupt etwas entgegenhalten oder ist das nicht praktisch zwecklos? Immerhin sind die Schleusen auf und wer will das Geschehe (mit welchen Mitteln) jemals wieder unter Kontrolle bekommen?

Zunächst einmal muss der gesamte Sachverhalt aufgeklärt werden. Erst dann wird man abschließend über notwendige Konsequenzen und Entscheidungen beraten können. Wenn wir ständig und aus guten Gründen darauf hinweisen, dass die EU und die NATO mehr als nur eine Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft sind, nämlich auch und nicht zuletzt eine Wertegemeinschaft, dann muss das auch und gerade im Hinblick auf den Schutz von Bürgerrechten gelten. Also auch für Datenschutz und die Integrität der datenverarbeitenden Systeme. Wir brauchen, zumindest in den westlichen Demokratien, so weit das möglich ist, einheitliche Maßstäbe auch für die Auslandsaufklärung und die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit. Aber wenn 99% des Internetdatenverkehrs und über 30% der Telefonate über die USA bzw. amerikanische Server laufen, dann haben wir ein praktisches Problem. Deshalb brauchen wir auch ein europäisches Gegengewicht zu den amerikanischen Marktführern in diesem Bereich.

Wie sollte bzw. muss es denn nach den Offenbarungen der Datenspionage durch die Amerikaner weitergehen und wie lässt sich Vertrauen auf allen Seiten zurückgewinnen?

Der Besuch von Bundesminister Dr. Friedrich war nur der Beginn von langen, sicherlich auch schwierigen Gesprächen mit den USA. Aber gerade unter befreundeten Nationen und engen transatlantischen Partnern muss man offen reden können. Wir sollten uns deshalb nicht scheuen, klar deutlich zu machen, was aus unserer Sicht akzeptabel ist – und was nicht. Wenn deutsches Recht verletzt wird, können wir nicht achselzuckend zur Tagesordnung übergehen. Der Staat hat gegenüber seinen Bürgern eine Schutzpflicht. Dies gilt aber nicht nur im Hinblick auf Schutz vor Terror oder anderen Gefahren, dies gilt auch für die Verteidigung von Bürger- und Freiheitsrechten dort, wo sie in Gefahr sind.

Alle Fotos: wobo.de

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“Die meisten können mehr aus sich herausholen”

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Carsten Maschmeier
(Fotograf: Nicolay Georgiev; cc by C. Maschmeyer)

Herr Maschmeyer, wer an Erfolg denkt, dem fällt durchaus auch schnell einmal Ihr Name ein. Gibt es eine Formel für Erfolg?

Erfolg gibt es nicht im absoluten Sinne. Jeder Mensch definiert Erfolg für sich selbst. Für einen Sportler heißt Erfolg auf dem Treppchen zu stehen, ein Arzt spricht vom Heilungserfolg bei seinen Patienten, für Studenten ist Erfolg eine erfolgreich bestandene Prüfung, Erfolg kann auch sein, 10 Kilo abzunehmen, wenn man sich dies vorgenommen hat.

Fest steht, Erfolg definiert sich nicht automatisch nach materiellen Werten, deshalb ist das Streben nach Reichtum nicht gleichbedeutend mit dem Weg zu Glück und Erfolg. Jedoch bin ich davon überzeugt, dass man Erfolg erlernen kann und ich bin davon überzeugt, dass die meisten mehr aus sich herausholen können.

Und gibt es auch eine Formel für den praktisch garantierten Misserfolg?

Meine Devise hier lautet: Es gibt keine Erfolgs-Garantie! Aber wenn Sie nicht den Mut haben, es zu probieren, haben Sie eine Misserfolgs-Garantie! Mut ist für mich als Unternehmer einer der zentralen Faktoren, der oft fehlt und weshalb Ideen scheitern.

Den meisten Menschen sind Sie als Gründer der AWD Holding AG bekannt. Neben unglaublichen Erfolgen kam es hier allerdings auch zu Vorwürfen und Kritik. Welches Resümee ziehen Sie persönlich aus den AWD-Zeiten?

Ich bin mit Haut und Haaren Unternehmer und Investor und hatte damals die unabhängige Finanzberatung erfunden. Mein erstes Unternehmen, den AWD -immerhin ein M-DAX Unternehmen- habe ich vor sechs Jahren verkauft, als es in Bezug auf Umsatz, Gewinn und Image hervorragend da stand. Wenn ich gefragt werde, werde ich nicht müde zu erklären, was die Gründe für die heutigen negativen Schlagzeilen sind. Ansonsten schaue ich grundsätzlich nach vorn und konzentriere mich auf meine bestehenden 40 Firmen und Beteiligungen an Unternehmen innerhalb der Maschmeyer Group.

Lassen sich Rückschläge aus Ihrer Sicht so verarbeiten, dass sie am Ende nicht nur bewältigt sondern auch von Nutzen sind?

Absolut, das ist sogar entscheidend, um erfolgreich zu sein. Rückschläge bezeichne ich auch in meinem Buch als „Vorschläge für die Zukunft“. Entscheidend ist hierbei aus Fehlern zu lernen: Die, die selbst erkannt und eingestanden werden: Das steht für Selbstreflektion und Aufrichtigkeit.

Sie investieren gerne in aussichtsreiche Start-Up-Unternehmen. Woran erkennen Sie echtes Potenzial, um nicht auf das falsche Pferd zu setzen?

Ich setze auf mein Gespür für Märkte, Themen und Trends. Außerdem macht es mir Spaß den jungen Unternehmern nicht nur mit Wagniskapital beim Wachsen, sondern auch mit meiner unternehmerischen Erfahrung und meinem Netzwerk zu helfen. Und ich schaue mir die Personen hinter dem Unternehmen genau an. Was sind das für Menschen? Ich sehe schnell, was ich ihnen zutrauen kann oder ob das Team harmoniert. Es gibt kein Investment, bei dem ich mir die handelnden Akteure nicht in mindestens zwei persönlichen Treffen genau anschaue.

Welche Kriterien sollten bei Gründern denn aus Ihrer Sicht unbedingt erfüllt sein, damit eine Unternehmung Aussicht auf Erfolg hat?

Es gibt einen Spruch, der dazu passt: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich meine damit, dass man im Rahmen eines vertretbaren Risikos mutig sein muss, Neues auszuprobieren, alte Wege zu verlassen. Wenn ich das Gefühl habe, dass die Idee zündend ist, der Unternehmer etwas wagt und eine gute Umsetzungskompetenz hat, kommt der Erfolg meist automatisch.

Und wann sollte man die Finger auf jeden Fall von der Sache lassen?

Ich selbst investiere nur in Branchen bzw. Unternehmen, von denen ich mir selbst ein Bild gemacht habe bzw. weiß, wie deren Marktumfeld und Wettbewerb aussehen und welches Potenzial dort liegt. Es müssen die Leute stimmen und das Marktkonzept.

Sie haben jüngst in einen Limousinen-Service investiert. Was hat sie gereizt, um sich gerade hier einzukaufen?

Eine interessante Marktentwicklung: Vor eineinhalb Jahren ist der Limousinen Service Blacklane mit fünf Limousinen in Berlin gestartet. Heute ist der Service in 15 deutschen Städten sowie zehn weiteren europäischen Metropolen verfügbar. Mehr als 1000 Fahrzeuge fahren für Blacklane und im Mai expandierte das Unternehmen sogar in die USA. Diese Entwicklung hat mir gefallen und deshalb habe ich meinen Anteil von 11% auf über 25% erhöht, um diese Expansion weiter voran zu treiben.

Gibt es schon weitere Ideen für Investments in der nahen Zukunft?

Bei unserer Anlageentscheidung gehen wir sehr strategisch und langfristig denkend vor. Wir überlegen: Was wird immer gebraucht? Zum Beispiel die weltweit wertgeschätzte Qualität des deutschen industriellen Mittelstands. Oder: Was ist der Bedarf der Zukunft bzw. welche Trends gibt es? Wir sehen zum Beispiel einen wachsenden Markt für E-Learning, für Medizintechnik und eine ganze Reihe von Internetthemen, die Branchen verändern können.

Wenn Sie drei Wünsche für die Zukunft frei hätten, welche wären es?

Da sehe ich unternehmerische und persönliche Wünsche:

  • Noch mehr Unternehmern mit meiner Erfahrung zur Seite stehen
  • Erfindungen vorantreiben, die vielen Menschen das Leben erleichtern
  • Und über allem stehen natürlich Gesundheit und Wohlergehen meiner Familie

 

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Bernd Schlömer (Piraten): “Am Sonntag hoffe ich auf sechs Prozent”

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Die Piraten auf dem Weg in den Bundestag? (Foto: Piratenpartei Mittelfranken)

Die Piraten auf dem Weg in den Bundestag? (Foto: Piratenpartei Mittelfranken)

Gründe, um Parteien im Parlament zu integrieren, die verkrusteten Strukturen den Rücken zukehren und einem neuen Politikverständnis Raum bieten, gibt es im Prinzip genug. Die Bilanz zurückliegender Regierungsparteien ist schließlich deutlich schlechter, als es suggeriert wird. Während der Wechselwille allerdings noch auf kleiner Flamme köchelt, wächst die Piratenpartei langsam, aber stetig. Wir haben nachgefragt. Im Gespräch mit Bernd Schlömer, Vorsitzender der Piratenpartei Deutschland.

Bernd Schlömer, laut Umfragen liegt die Piratenpartei kurz vor der Bundestagswahl bei etwa 2,5 Prozent. Halten Sie die Zahl für realistisch?

Bernd Schlömer (Foto: Piratenpartei)

Bernd Schlömer (Foto: Piratenpartei)

Meinungsumfragen werden in erster Linie für die tägliche Berichterstattung zur Verfügung gestellt. Sie spiegeln nicht immer die tatsächliche Verteilung wider. Was die Bürger konkret am Sonntag auf dem Wahlzettel ankreuzen, hängt dann auch von anderen Faktoren ab. Ich glaube daran, dass die Piratenpartei jederzeit über die 5-%-Hürde hüpfen kann. Warten wir einmal ab, welches Resultat wir erzielen.

Was hat sich seit der letzten Bundestagswahl konkret für die Piratenpartei getan?

Im Jahr 2009 haben wir 2% der Wählerstimmen erreichen können. Seit dieser Zeit sind wir ganz stark gewachsen. Wir stellen vier Fraktionen in den Landtagen der Länder. Nahezu 200 Mandatsträger machen Politik auf kommunaler Ebene.

Insofern ist die Zustimmung viel größer geworden. Die Bürger vertrauen auf den Ansatz der Piraten: unvoreingenommen Politik machen, im Interesse der Betroffenen handeln und mutig handeln. Ich bin damit zufrieden.

Die SPIEGEL-Redakteure Annett Meiritz und Fabian Reinbold haben die Piratenpartei in ihrem Beitrag “Abgeschrieben, abgestiegen” analysiert und aller Welt die aus ihrer Sicht georteten Defizite kundgetan. Was ist dran, z.B. beim Stichwort innerparteiliches Gezänk und Aussagen, man würde die Piraten nicht mehr ernst nehmen?

Es wird debattiert und diskutiert. Ja. Das ist aber immer auch ein wichtiger Prozess. Die Beschlüsse und Ergebnisse werden besser, wenn man sie zuvor kontrovers behandelt. Ich finde, dass wir froh sein sollten, dass es noch Parteien gibt, die lebendige Politik machen. Wenn es aber darauf ankommt, und das sieht man in den letzten Monaten sehr deutlich, dann halten wir zusammen und gehen in eine Richtung. Im Übrigen nehme ich die Piratenpartei als einzige Partei zurzeit wahr, die ernsthafte, sachliche und seriöse Vorschläge zur Begegnung des Überwachungsskandals macht.

Daneben heißt es, es fehle an Antworten, “die neue potentielle Wähler aufhorchen lassen”. Was könnten das für Antworten sein?

Diese Auffassung teile ich nicht. Wir haben Antworten. Antworten auf die zukünftigen sozialen Herausforderungen, auf die Chancen des Internetzeitalters und wie wir die Bürger- und Grundrechte besser schützen können. Ich empfehle immer einen Besuch unserer Website. Wir stellen vieles infrage, aber wir geben auch Antworten.

Die Piraten präferieren z.B. das Bedingungslose Grundeinkommen und haben nach meiner Erkenntnis dazu ein Konzept ausgearbeitet, das “neue potentielle Wähler aufhorchen lassen” könnte. Wurde das Thema nicht ausreichend kommuniziert?

Wir werden die Debatte um die Einführung eines Grundeinkommens für alle Menschen noch intensiver bewerben müssen. Es ist auf jeden Fall ein Thema, dass große Aufmerksamkeit verdient. Wenn die Piraten es in den Bundestag schaffen, dann wollen wir für eine besondere Behandlung des Themas werben.

Schließlich bemäkeln Kritiker eine gewisse “Lässigkeit” der Piraten und orten dies als Manko. Wie lässig geht es bei den Piraten tatsächlich zu?

In Zeiten der Informationsflut oder vieler vermeintlicher Unsicherheiten ist es wichtig, Ruhe zu bewahren; das sollte nicht mit Lässigkeit verwechselt werden. Gelassenheit durch Kompetenz, so fasst es ein Vorstandskollege von mir auf sehr treffende Weise zusammen. Das ist eine treffende Beschreibung für die Piraten. Wer hektisch von Talkshow zu Talkshow wandert, wie wir es in dieser Woche oft im Fernsehen sehen, wird keine Herzen gewinnen können. Cool bleiben. Die Piraten geben auf alles eine vernünftige Antwort.

Was wünschen Sie sich für in den kommenden Jahren und wo sehen Sie die Piraten prozentual bei der nächsten Bundestagswahl?

Wir werden die Politik für viele viele Jahre durch innovative Beiträge bereichern. Wir werden nerven und ernst genommen werden. Darauf freue ich mich. Am Sonntag hoffe ich auf sechs Prozent.

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“Darum geht es ja: Menschen einschüchtern, Menschen abschrecken.”

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Herr Ramelow, Sie wurden jahrzehntelang vom Bundesverfassungsschutz beobachtet. Wissen Sie, wann genau die Observationen begonnen haben und mit welcher Begründung das veranlasst wurde?

Bodo Ramelow

Bodo Ramelow (Linke)
(Foto: Linksfraktion Thüringen)

In meiner Personenakte sind Ereignisse vom Anfang der 1980er Jahre verzeichnet. Die Bespitzelung umfasst also einen Umfang von über 30 Jahren. Die Begründung für diesen tiefen Eingriff in meine Rechte ist im Laufe der inzwischen 15 Prozesse, die ich gegen den Verfassungsschutz geführt habe, von der Gegenseite immer wieder sozusagen freihändig und offensichtlich willkürlich verändert worden.

Wer hat ein solches Ausspionieren denn veranlasst?

Welche konkrete Person das jeweils angeordnet hat, weiß ich nicht. Die politische Verantwortung tragen die jeweiligen Regierungen, vor allem die Innenminister. Der Verfassungsschutz glaubt, sich selbst zu einer solchen Beobachtung ermächtigen zu können. Dabei ist die vom Geheimdienst angesetzte Eingriffsschwelle selbst gegenüber Abgeordneten erschreckend niedrig. Begonnen hat es allerdings mit meiner Solidarität zu einem Berufsverbote-Opfer an meinem damaligen Wohnort Marburg. Solidarität mit Linken steht in Deutschland wohl unter Generalverdacht.

Gibt oder gab es ähnliche Fälle einer solchen Observation auch von Personen anderer Parteien oder ist (bzw. war) das allein den Linken vorbehalten?

In Köln in meinem Verwaltungsgerichtsstreit wurde ausgeführt, dass vor mir wohl Grüne auch unter Beobachtung gestanden haben. Das sei aber sofort beendet worden als die erste rot-grüne Bundesregierung gebildet wurde, antwortete der Prozessvertreter der von mir verklagten Bundesregierung. Bekannt geworden sind seitdem aber vor allem Fälle aus der Linken – zeitweise war die halbe Bundestagsfraktion persönlich mit Personenakten betroffen und alle Abgeordneten waren mit Erfassungsnummer und den Daten aus dem Bundestagshandbuch registriert, übrigens bis hin zur Vizepräsidentin des Bundestages, Petra Pau.

Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass Sie unter einer derartigen Beobachtung stehen und was haben Sie damals gedacht?

Ich habe 1999 als einer der Spitzenkandidaten der PDS zur Landtagswahl kandidiert. Ein Jahr vorher und während des Wahlkampfes kursierten CDU-Propagandapamphlete, in denen ich auf merkwürdige Art und Weise angegriffen wurde. Schon bei diesen Attacken habe ich mich an Geheimdienstaktivitäten erinnert gefühlt. Ende 2002 habe ich dann erfahren, dass das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz eine Personenakte über mich führt – in der die Vorwürfe wieder auftauchten, die mir in den CDU-Broschüren gemacht worden waren –, später auch, dass es eine solche Akte beim Bundesamt für Verfassungsschutz gibt.

Wie geht eine solche bundesdeutsche Bespitzelung vonstatten? Dringt sie in alle Bereiche des Lebens ein, oder betrifft sie insbesondere das berufliche Umfeld innerhalb der politischen Tätigkeit?

Sie dringt in alle Bereiche ein. Die frühen Einträge betrafen sehr persönliche Dinge wie beispielsweise meine Hochzeitanzeige und Geburtsanzeigen unserer Kinder. Dann ging es um Veranstaltungen, die ich als Gewerkschaftssekretär organisiert habe – beispielsweise die Menschenrechte in Südafrika betreffend –, um Solidaritätserklärungen, die ich unterschrieben habe, um die Tatsache, dass und in welcher Form ich mich zur Frage der Lohnangleichung in Ostdeutschland geäußert habe, um die Frage, neben wem ich bei einer Podiumsdiskussion gesessen habe, um einen Zeitungsbericht, dass ich den Kampf gegen Neonazis fortsetzen werde…

Verzeichnet war auch, dass ich vor der Gründung der Partei DIE LINKE ein offizielles Gespräch mit einer Professorin aus dem Apparat der chinesischen kommunistischen Partei geführt habe. In diesem Jahr war ich als Mitglied einer Delegation in China. Angeführt wurde sie von Ministerpräsidentin Lieberknecht, die dort auch offizielle Kontakte mit Vertretern der kommunistischen Partei hatte – ohne dass sich der Verfassungsschutz darum kümmert.

Inwieweit werden durch eine solche, massiv in die Persönlichkeitsrechte eingreifende Maßnahme, auch Menschen in Ihrem Umfeld wie etwa Familie und Freunde tangiert?

Sehr stark, und das hat mich immer sehr bedrückt. Nach dem Skandalurteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, das meine Beobachtung aus offenen Quellen für rechtens erklärt hat, reagierte meine Frau sehr sarkastisch; sie hat gesagt, sie hängt jetzt erst einmal alle Gardinen ab, damit auch unsere Wohnung eine öffentliche Quelle ist! Und natürlich haben Wählerinnen und Wähler gefragt, ob sie jetzt überhaupt mit mir kommunizieren können, mir Dinge anvertrauen können, um die ich mich parlamentarisch kümmern soll. Und genau darum geht es ja: Menschen einschüchtern, Menschen abschrecken. Als sich ein V-Mann bei mir selbst enttarnte, da merkte ich, wie nah diese Dienste mir gekommen sind, denn diese Person bewegte sich häufiger innerhalb meines Wahlkreisbüros.

Wie immens waren die Belastungen für Sie, ständig beobachtet zu werden?

Sie war riesig, auch wenn ich das nicht zugegeben habe. Ich habe mich immer gezwungen, zu lächeln, niemals eine Schwäche zu zeigen, um den Bürgern und Wählern deutlich zu machen, dass ich mich nicht einschüchtern lasse. Als die Nachricht vom Sieg in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht kam, fiel dann die Anspannung der ganzen Jahre von mir ab. Da habe ich geweint, das gebe ich zu.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat nunmehr entschieden hat, dass die jahrzehntelange Observation unzulässig war. Müssen jene, die Ihre Überwachungen angeordnet haben, Konsequenzen tragen und können Sie mit Schadenersatz rechnen?

Sie können nicht so weitermachen, wie bisher. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass mein parteipolitisches Engagement, welches – das sagt es ausdrücklich – auf dem Boden unserer demokratischen Ordnung steht, diese Ordnung stärkt. Konsequenzen hat das Urteil auch für das Bundesverwaltungsgericht, denn zunächst geht mein Fall dorthin zurück. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist eine schallende juristische Ohrfeige für die Leipziger Richter. Sie müssen jetzt nachsitzen. Interessant ist, dass in einem ähnlichen Fall schwedischen Abgeordneten vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof Schadenersatz zugesprochen worden ist.

Welche Konsequenzen hat das Urteil denn ganz generell in Hinblick auf Überwachungen von Personen im Abgeordneten-Status?

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hatte sich völlig über die Statusrechte von Abgeordneten hinweg gemogelt, darüber, dass ich – und die anderen Abgeordneten natürlich auch – die Regierung und die Exekutive kontrollieren soll, nicht umgekehrt. Sehr wichtig ist, dass dieses Urteil große Bedeutung weit über meinen Fall hinaus hat. Das Bundesverfassungsgericht hat klare Kriterien benannt, hinter die Geheimdienste und andere Gerichte nicht wieder zurück können. Für eine Beobachtung von Abgeordneten gelten ab jetzt sehr strenge Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit. Aber es ist eine ganze Reihe von vergleichbaren Klagen entscheidungsreif. Pau, Enkelmann, Bartsch und viele weitere. Da werden die unteren Gerichte in Zukunft genau darauf achten müssen, was in meinem Fall als Leitsätze ausgeurteilt wurde.

Aber politisch muss nun daran gearbeitet werden, dass die gesamte Observation der Linken eingestellt wird. Auch die Bayerische Landesregierung muss endlich akzeptieren, dass wir eine politische Partei im demokratischen Spektrum sind und dass die Vision vom Sozialismus eine zulässige und ich meine sogar notwendige Hoffnung auf friedliche Veränderung ist.

Alle Fotos: Linksfraktion Thüringen

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NSA-Skandal: “Täuschen Teile der politischen Ebene Naivität nur vor?”

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Die derzeitigen Erkenntnisse zu umfassenden Bespitzelungen durch US-amerikanische Dienste schreckt die Republik auf. Auch auf politisch höchster Ebene läuten die Alarmglocken, nachdem feststeht, dass auch das Handy der Kanzlerin abgehört wurde. Die Politik zeigt sich angesichts der umfassenden Bespitzelungen überrascht. Doch weiß sie tatsächlich so wenig wie sie vorgibt? Im Gespräch mit Prof. Dr. Heinz-Michael Winkels, Wirtschaftsprofessor an der FH-Dortmund.

Herr Prof. Winkels, was halten Sie von der derzeitigen Aufregung rund um die Aufdeckung der Späh-Aktionen US-amerikanischer Geheimdienste? Ist das aus Ihrer Sicht alles wirklich so neu?

Prof. Dr. Heinz-Michael Winkels (Foto: FH-Dortmund)

Prof. Dr. Heinz-Michael Winkels
(Foto: FH-Dortmund)

Das ist überhaupt nichts Neues. Udo Ulfkotte, der in anderem Zusammenhang ja nicht ganz unumstritten ist, hatte bereits 1999 ein absolut bemerkenswertes Buch über Wirtschaftsspionage veröffentlicht, in dem er alle diese Missstände überaus deutlich beschrieb. Darüber hinaus gibt es eine Unmenge an Berichten in den gängigen Nachrichtenmedien, insbesondere damals zu Echelon und Bad Aibling. Es ist unglaubwürdig, wenn hier jemand behauptet, nie davon gehört zu haben.

Welche Defizite gibt es hierzulande bzw. auf europäischer Ebene in Hinblick Datenschutz und dem Ausbau der Informationstechnologie ganz generell?

Ich bin mir nicht sicher, ob man hier die Bundesrepublik mit dem Rest der europäischen Gemeinschaft, insbesondere Frankreich und Großbritannien gleich setzen sollte. Wir haben mit Sicherheit hervorragende IT-Experten und entsprechende Firmen der IT-Branche, was mir aber zu fehlen scheint, das ist das politische Verständnis und/oder der politische Wille.

Wenn unsere Bundeskanzlerin in diesem Jahr feststellt, dass das Internet für „sie alle … Neuland“ sei, dann kann ich mir nur verwundert an die Stirn schlagen, mich fragen, ob ich das auch wirklich so verstanden habe, und dann diese Tatsache nur noch der Einschläferungstaktik des vergangenen Wahlkampfes zuschreiben. Wir reden hier über Dinge, die seit mehr als 15 Jahren bekannt sind und unser Land erheblich schädigen. Sind Teile der politischen Ebene in unserem Land so dumm und naiv oder gibt man das nur vor? Richtig Angst macht mir, wenn das nur Vortäuschung ist, denn dann muss ich mich nach dem „Warum“ fragen und wer davon profitiert.

Die Bundesregierung jedenfalls zeigt sich überrascht angesichts immer weiterer Enthüllungen, die an die Öffentlichkeit geraten. Erscheint Ihnen diese Ahnungslosigkeit ebenso wenig glaubwürdig?

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Umstände an sich bekannt sind, man wegen der politischen Verwicklungen aber nicht darüber reden wollte. Nach den massiven Snowden-Enthüllungen konnte man nicht länger darüber schweigen, weil zu viel an die Presse gelangte und sich der Skandal nicht per Dekret des Kanzleramtes als beendet erklären ließ. Darüber hinaus glaube ich auch, dass die Spionageaffäre der USA nur die kleine Spitze des Eisberges ist. Die Angriffe chinesischer Hacker beispielsweise auf die Rechner der Bundesregierung sind seit langem bekannt, haben aber zu keiner großen Aufregung in unserem Lande geführt.

Industriespionage zählte hierzulande bisher auch nicht unbedingt zum zentralen Kernpunkt wichtiger Diskussionen?

Die Industriespionage sogar unserer Verbündeten in diesem Lande wird zumindest nach außen ignoriert. Ob Frau Merkel nicht auch von dieser Seite abgehört wurde, lassen einige Verhandlungsrunden bei der Bewältigung der Finanzkrise als durchaus möglich erscheinen. Heute lese ich einen Artikel in der FAZ, nach dem die Griechen die Amerikaner abgehört haben sollen. Warum sollten sie es nur bei denen bewenden lassen? Die Briten betreiben Spionage in Italien, usw. Bei wirtschaftlichen Interessen hört bekanntlich die Freundschaft auf. Meiner Meinung nach fehlt es in unserem Lande nicht an dem Können, jedoch an dem politischen Willen zum Datenschutz, zum Datenschutz auf politischer, industrieller und individueller Ebene.

Wenn Europa derart hinterherhinkt, waren solche Exzesse ausländischer Geheimdienste im Prinzip zu erwarten?

Diese Exzesse gibt es ja seit mehr als 15 Jahren, schauen Sie sich mal die Beispiele in dem Buch von Udo Ulfkotte an, ob es sich um neue Erfindungen, Pläne für U-Boote oder um Verkaufsangebote beispielsweise für Schnellzüge in Südkorea handelt. Die Bundesrepublik ist ein sehr lohnendes Angriffsziel, weil wir uns hier mit Verstößen durch Verbündete besonders schwer tun.

Wähnte sich Deutschland diesbezüglich eventuell sogar im Schulterschluss mit den amerikanischen Diensten und sah sich irrtümlich als Profiteur des Wissensvorsprungs der amerikanischen “Freunde”?

Wie die New York Times jetzt berichtete, war der BND wohl an den Vorarbeiten von „Stuxnet“ beteiligt. Ganz so blauäugig scheint man auf deutscher Geheimdienstseite also nicht zu sein. Vielleicht gelangt man über diesen Skandal jetzt sogar in den Genuss einer Beteiligung an einem „No-Spy“-Abkommen, wie es etwa bei Five Eyes (USA, UK, Australien, Kanada, Neuseeland) besteht. Das wäre dann allerdings ein geschicktes Ausnutzen des Snowden-Effektes.

Sie haben diesen Wissensvorsprung im Bereich „Cyberwar“ und „Netwar“ schon lange vorausgesehen und mögliche Konsequenzen auch maßgeblichen Stellen zu Kenntnis gebracht?

Ich selbst kam zu dem Thema, als mein eigener Hochschulserver zur Logistik von palästinensischen Hackern kompromittiert und meine Webseite mit antiamerikanischen-Parolen überschrieben wurde. Ich hatte mich daraufhin mit möglichen einfachen Abwehrmaßnahmen und ganz allgemein mit dem Thema „Information Warfare“, also den „Militärischen Operationen mit und in Informationsnetzen“ beschäftigt. Diese Erkenntnisse und zugehörige Handlungsempfehlungen konnte ich dann im Jahr 2000 als Experte für Informationslogistik in dem Bericht der Logistik-Arbeitsgruppe für die Weizsäcker-Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ zusammenfassen.

Wie wir heute erkennen, wurden Ihre Warnungen nicht ernst genommen?

Die Ergebnisse sind einigen Kommissionsmitgliedern damals auch mündlich vorgetragen worden, in dem Abschlussbericht der Kommission dann aber überhaupt nicht mehr erwähnt. Einige Zuhörer waren hier offenbar absolut überfordert. Ich versuchte darauf hin nach Kontakten mit der Bundeswehr, das Thema bei einer IT-Sicherheitskonferenz in Düsseldorf vorzutragen, meine Präsentation wurde aber als „nicht relevant“ abgelehnt.

Um welche Vorschläge ging es denn in Ihrer Präsentation?

Die wesentliche Idee bestand in der Bildung einer IT-Kampftruppe („Hackerkompanie“), die ihre Ergebnisse eng mit der deutschen Industrie koordinieren sollte. Man hatte wohl 2005 im BSI eine solche Gruppe gebildet, heute soll ein NCAZ (Nationales Cyber Abwehr Zentrum) aus 10 Personen in Mehlem/Bad Godesberg bestehen. Das ist für ein Land wie die Bundesrepublik einfach lächerlich. In China, Nordkorea, Iran und weiteren Schwellenländern gibt es ganze Kompanien, von den führenden USA, Israel, Rußland, Japan, Frankreich, Großbritannien ganz zu schweigen.

Sie haben allerdings nicht locker gelassen und im Jahr 2003 in Berlin einen eindringlichen Vortrag auch vor maßgeblichen Politikern gehalten?

Über einen ehemaligen Staatssekretär gelang es mir dann, 2003 einen Vortrag beim Parlamentarischen Stammtisch „Mars & Minerva“ in Berlin direkt neben dem Reichstag vor Politikern aller Parteien sowie Vertretern der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie zu halten, das allgemeine Bedrohungspotential zu beschreiben sowie Handlungsempfehlungen auszusprechen. Die Präsentation ist übrigens auf meiner Webseite zu finden und wurde auch relativ häufig im Internet erwähnt. Die damaligen Teilnehmer hatten wie zuvor auch die Kommissionsmitglieder die Brisanz des Themas in keiner Weise erkannt. Man konzentrierte sich damals vornehmlich auf das „Herkules-Projekt“, SAP bei der Bundeswehr einzuführen.

Ich war von der Dummheit und Ignoranz einiger Politiker damals dann so demotiviert, dass ich keine Lust mehr hatte, weiter als „Don Quijote“ gegen Windmühlen zu kämpfen, die offensichtlich an maßgeblicher Stelle niemanden interessierten. An einer vertiefenden Studie bestand kein Interesse. Ich weiß aber aus Gesprächen mit einem Generalmajor a.D., dass auch seitens der Bundeswehr das Thema diskutiert wurde und ähnliche Ideen wie meine kursierten. Ich habe mich danach nur noch um klassische Transportoptimierung gekümmert und „Information Warfare“ nur noch aus der Ferne durch die Medien verfolgt.

Auf politischer Ebene führten derartige Vorträge, Hinweise und Aufklärungen dann auch nicht zur gebotenen Sensibilisierung für die Themen „Cyberwar“ und Wirtschaftsspionage? Nicht einmal bei den sehr wirtschaftsnahen Parteien?

Es gibt dieses NCAZ und auf Länderebene ein Lippenbekenntnis zur Abwehr von Industriespionage. Einige mir bekannte Firmen sind dazu übergegangen, bei wichtigen Konferenzen, die Handys nicht nur auszuschalten, sondern sie auch außerhalb des Konferenzraumes zu lassen, weil selbst ausgeschaltete Handys ferngesteuert werden könnten. Ob man das nicht auch bei und vor EU-Konferenzen so machen sollte? Ich kenne da einige Bilder mit telefonierenden oder SMS-lesenden Politikern.

Was blüht denn unserer Wirtschaft mittel- und langfristig angesichts der akribischen Überwachungspraktiken der amerikanischen Bündnispartner?

Die Techniken werden ja nicht nur von den Amerikanern angewandt. Um nicht alle oben genannten Länder zu wiederholen, dürften zumindest China und Russland inzwischen genauso operieren. Schätzungen (Innenministerium) gehen bei der Industriespionage heute von ca. 50 Mrd. Euro Schaden pro Jahr für die Bundesrepublik aus. Das Ausspionieren von Regierungsstrategien (Finanzkrise) kann für eine Volkswirtschaft im Endeffekt noch zu erheblich höheren Schäden führen.

Sie gehen insgesamt davon aus, dass für Deutschland die wahren Gefahren nicht von Ostblockstaaten sondern von westlichen Wirtschaftsspionen ausgehen. Wie erklärt sich das?

Das bezog sich auf das Jahr 2000, in der globalisierten Situation sehe ich heute gleichermaßen Gefahren von überall her. Es sind eben die wirtschaftlichen Interessen, die zählen.

Wie viel informationstechnologisches Nichtwissen können wir uns auf politisch höchster Ebene in diesen Zeiten überhaupt noch leisten?

Eigentlich keines. Unsere Politiker sollten sich permanent von Experten über die derzeitigen Möglichkeiten unterrichten und Stresstests durchführen lassen. Wenn sie es nicht schon längst geschehen lassen.

Welchen Rat würden Sie in der augenblicklichen Situation erteilen, wenn Ihr Rat eingeholt würde?

Ich beobachte das ganze derzeit in sehr weitem Abstand aus meinem Elfenbeinturm. Zunächst wäre eine vollständige Situationsanalyse angebracht, wirklich ALLE Gefahrenpotentiale zu identifizieren und dann festzustellen, wo die wesentlichen Stärken in der Sicherheits-Technologie im eigenen Land liegen. Diese gilt es dann zu bündeln und auszubauen, um eigene Kernkompetenzen zu entwickeln. Das kann eigentlich nur funktionieren, wenn die besten IT-Experten des Landes mit der Industrie zusammenarbeiten und Rückendeckung durch die Politik bekommen. Die Japaner haben etwas derartiges schon einmal mit ihrem MITI für Wirtschaftsinnovationen vorgeführt.

Alle Fotos: FH-Dortmund

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“Die Logik der Waffen”– Interview mit Ulrich Tilgner

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Der TV-Journalist Ulrich Tilgner berichtet seit mehr als 30 Jahren aus den Ländern Jordanien, Iran, Irak und Afghanistan. Der Experte, der zunächst viele Jahre als Korrespondent für das ZDF arbeitete, publiziert heute unter anderem für das Schweizer Fernsehen (SRF). Ende 2012 erschien im Orell Füssli Verlag sein neues Buch “Die Logik der Waffen”. Tilgner analysiert dort die Auswirkungen westlicher Politik in den Krisenherden im Nahen und Mittleren Osten. Seine Bilanz fällt düster aus. Wir haben nachgefragt.

Ulrich Tilgner, der Titel Ihrer Publikation „Die Logik der Waffen“ weist in Hinblick auf den Umgang der westlichen Welt mit dem Krisenproblematiken im Orient bereits auf das Kernproblem hin. Welches Resümee ziehen Sie nach elf Jahren Krieg gegen den Terror?

TV-Journalist Ulrich Tilgner

TV-Journalist Ulrich Tilgner (Foto: Elisabeth Stimming)

Dieser Krieg ist gescheitert. Dies hat verschiedenste Ursachen. Militärisch kann man Terror gar nicht begegnen. Entwicklungspolitisch gibt es ebenfalls nur sehr begrenzte Erfolge. Nach weiteren Rückschlägen in Libyen und Syrien wird der Krieg heute geheim und indirekt fortgesetzt.

Um die ungeheuerlichen Ausgaben für Kriege zu sparen, setzen die USA und andere Staaten im Westen auf Professionalisierung und Automatisierung. Zudem verschieben sich im Rahmen der Globalisierung und der anstehenden Veränderungen bei der Gewinnung von Rohstoffen für die Energieerzeugung weltweit die Interessengebiete und Konfliktzonen.

Barack Obama gilt seit langem als Schlüsselfigur für Friedensbemühungen in den Krisenherden des Nahen und Mittleren Osten und wird diesbezüglich sogar als “Friedenspräsident” gehandelt. Ihre Hoffnungen sehen Sie allerdings enttäuscht?

Der US-Präsident ist kein Präsident des Friedens: Guantanamo, geheime Drohneneinsätze und Cyberkrieg oder auch die Massierung der US-Streitkräfte im pazifischen Raum sprechen eine andere Sprache. Obama modernisiert die US-Politik, aber seine Priorität bildet nicht Frieden, sondern eine andere Nutzung der Ressourcen der Vereinigten Staaten. Leider erfolgt diese Politik indirekt und wird von außen zu oft fehlinterpretiert. In den USA selbst wird die Kritik an dieser Politik immer lauter.

Worin liegen in Ihrer Sicht die Ursachen für ein derartiges Versagen?

Versagen würde ich es nicht nennen, dieser Begriff wurde im Zusammenhang mit Obamas Amtsvorgänger zu Recht überstrapaziert. Der derzeitige Präsident hat ein Gefühl für das Machbare und dies leitet ihn. Dabei scheint er getrieben von der Idee, den zunehmenden Machtverlust der USA noch aufhalten zu können. Praktisch versucht er, die globale Dominanz der USA mit seiner Politik der „smart power“ aufrechtzuerhalten. Oft wird die Politik indirekt durchgesetzt, indem er andere Staaten für seine Zwecke einsetzt und benutzt.

Sie gehen noch weiter und erläutern, dass unter Obamas Regierung verdeckte Kriege im Vergleich zur Bush-Regierung noch ausgeweitet wurden. Welche Gründe stehen dahinter und zu welchen Konsequenzen kommt es dadurch?

Verdeckte Kriege führen die USA in Pakistan, Jemen und einigen Ländern Afrikas. Die Lehren aus den militärischen Einsätzen in Afghanistans und Irak ist ja, dass derartige Kriege nicht zu bezahlen sind. Nach einer Studie an der Harvard-Universität, die jetzt im März veröffentlicht wurde, belaufen sich die direkten, indirekten und die Folgekosten für diese Kriege auf sechs Trillionen US Dollar (eine US-Trillion ist eine deutsche Billion, also 1000 Milliarden), das sind knapp 5.000 Milliarden Euro. Obama weiß, dass weitere Kriege die USA nicht stärken sondern nur schwächen können und das Land damit um die Fähigkeit bringen würden, machtpolitisch und militärisch mit China zu konkurrieren.

Sie sprechen auch davon, dass die USA „Schattenkriege“ in Drittstaaten führt. Was meine Sie damit und mit welchen (auch unlauteren?) Mitteln wird gekämpft?

Die USA führen einen Schattenkrieg gegen den Iran. Neben der permanenten Verletzung des Luftraumes wird seit 2008 ein Cyberkrieg geführt, indem Teile der iranischen Industrie durch Computerviren lahmgelegt werden. Zudem gehören gezielte Attentate auf Personen, die Unterstützung von nationalen Minoritäten und die Unterwanderung der innenpolitischen Opposition zur Politik der Ausübung von „smart power“, deren Ziel es ist, die islamische Herrschaft im Iran zu stürzen.

Nicht nur Obama setzt weiterhin auf die Macht (bzw. Logik) der Waffen, sondern praktisch der gesamte Westen? Immerhin bleiben Abrüstungskonferenzen bislang ohne nennenswerte Resultate.

Die meisten Politiker in den Staaten des Westens agieren im Kielwasser der US-Politik. Genau dies versucht Obama zu ändern, in dem die Staaten Europas international größere Verantwortung übernehmen sollen. Im Krieg in Libyen wurde dies deutlich. Den schoben die USA an und die England und Frankreich durften und mussten ihn zu Ende führen. Auch bei den Verhandlungen mit Iran über die Nutzung der Atomtechnologie entscheiden die USA. Diese Verhandlungen werden geführt, um den anderen Staaten des Westens im Falle ihres völligen Scheiterns ein militärisches Bündnis aufzwingen zu können.

Warum setzt der Westen noch immer so vehement auf Waffen, anstatt kluge Verhandlungsstrategien zu präferieren?

Weil Krieg als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele immer noch nicht geächtet ist.

In Hinblick auf sogenannte „Cyberkriege“ kommen nun auch Kriegsführungen auf uns zu, die sich vor wenigen Jahren noch niemand so recht vorstellen konnte?

Mit Iran habe ich das Beispiel bereits beschrieben. Cyberkrieg und die Automatisierung des Militärischen mit Robotern und Drohnen werden die Zukunft prägen. Die USA arbeiten daran bis 2035 große Teile der traditionellen Kriegsführung automatisieren zu können. Der Einsatz von Drohnen und Robotern bildet heute erst den Anfang.

Staaten erlauben sich demnach, zu Mitteln zu greifen, die ansonsten in die Abteilung Strafrecht gehören? Lassen sich solche Vorgehensweisen überhaupt legitimieren?

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat möglicherweise bereits den Zeitpunkt verpasst, Regelwerke für die Modernisierung der Kriegsführung zu schaffen. Die Internationale Gemeinschaft besitzt nicht die Kraft, die Schaffung von juristischen Rahmenbedingungen für die Kriege von heute, vor allem die die asymmetrischen, anzumahnen oder sie zu schaffen, weil die USA sich mit ihrer diplomatischen Stärke entsprechenden Bemühungen widersetzen. Die UN-Berichte zum Drohnenkrieg sind ein Beispiel für das Versagen der internationalen Gemeinschaft.

Warum ist es für führende Staaten derart schwierig, glasklare und verbindliche Richtlinien aufzustellen? Immerhin geht es um Kriege, die mit unvorstellbar grausamen Mitteln wie etwa Minen und biologischen Waffen geführt werden können?

Genau diese Staaten verfügen über derartige Waffen.

Deutschland hatte sich nach dem Desaster des Zweiten Weltkriegs über viele Jahrzehnte aus aktiven Kriegsbeteiligungen herausgehalten. Trügt der Anschein, dass diese eiserne Regel nicht nur Risse bekommt sondern bewusst gebrochen wird?

Die Bundeswehr wird zu einer weltweit einsetzbaren Freiwilligenarmee ausgebaut.

Woraus resultiert Ihrer Meinung nach diese eklatante Richtungsänderung in Deutschland?

Bundespräsident Horst Köhler nannte die Gründe. Damals trat er zurück.

Der Einsatz von Drohnen zählt auch in Deutschland zu den Top-Diskussionsthemen. Wenn Kriegsführung vom Menschen auf Technik übertragen wird, besteht dann nicht u.a. auch die Gefahr einer Relativierung der Schrecken?

Drohnen verbilligen die Militärausgaben und erhöhen die Effektivität von Waffensystemen. Die Geschichte der Militärtechnik geht einher mit der Relativierung des Schreckens.

Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass sich Deutschland doch noch rückbesinnt und eine Kehrtwende hinsichtlich der aktuellen Entwicklungen einleitet – auch, um ggf. als Vorbild zu dienen?

Für eine Rückbesinnung fehlen das Bewusstsein und die politischen Kräfte. Leider sind Kriege für die meisten Deutschen ein Phänomen der Geschichte. Die Greuel und das Leid der Kriege geraten immer weiter in Vergessenheit. Und jetzt wird die Kriegführung auch noch Spezialisten übertragen und damit immer weiter aus dem Bewusstsein der Bürger gerückt. Der Staatsbürger in Uniform droht auszusterben und diese Entwicklung wird nicht einmal bedauert.

Das Interview führte Ursula Pidun

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*Horst Köhler-Zitat: „Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“

Ulrich Tilgner: Frauen in Afghanistan

 

Foto: Elisabeth Stimming
YouTube-Video: Ulrich Tigner

Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel: “Die Wirtschaft ist für den Menschen da”

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*Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel ist Theologe, Philosoph, Unternehmensberater und Wirtschaftspraktiker und analysiert in seiner Publikation: “Die Wirtschaft ist für den Menschen da” sowohl positive als auch wenig erhellende Seiten des Kapitalismus.

“Gesucht wird nach einer Verbindung des Kapitals mit der sozialen und institutionellen Sphäre, die das Leben des modernen Menschen ausmacht. Anders gesagt: Das Verstehen der Erscheinungsformen, der spannungsreichen Verknüpfungen, aber auch der Widersprüche des Kapitals ist Ausgangspunkt, Ziel und Motiv dieses Buches.”

Herr Prof. Hemel, Ihre Publikation trägt den Titel: “Die Wirtschaft ist für den Menschen da.” Ist das nicht im Prinzip eine Selbstverständlichkeit?

Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel, Foto: IfS)

Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel, Foto: IfS)

Ja, das ist es, aber diese Selbstverständlichkeit kann wie eine Provokation wirken. Im Alltag erfahren wir oft das Gegenteil: Menschen fühlen sich hilflos und ausgeliefert, sie werden zum austauschbaren Produktionsmittel und nicht in ihrer Würde und Eigenart wahrgenommen. Und dann sieht es so aus, als sei eben der Mensch für die Wirtschaft da und nicht umgekehrt!

Was ist geschehen, dass sich viele ganz normale Bürger bzw. Arbeitnehmer in diesen Zeiten so übervorteilt und in Teilen ausgenutzt fühlen und sich die Distanz zum Kapital und zur Wirtschaft deutlich ausweitet?

Überall wo Menschen sich begegnen, gibt es auch Elemente des Marktes. Der Markt ist aber nicht alles, er braucht eine politische und gesellschaftliche Ordnung; er braucht Spielregeln. Ohne solche Spielregeln verkommt die Gesellschaft zur Anstalt für sozialdarwinistische Übungen. Umgekehrt bewirkt die Lähmung von Marktkräften einen riesigen Innovationsstau und allgemein sinkenden Wohlstand. Es geht also um ein Gleichgewicht – und dieses Gleichgewicht haben wir teilweise verloren.

Wer hat versagt? Die Politik, indem sie in den vergangenen Legislaturperioden Maß und Mitte verloren und Lobbyisten aus der Wirtschaft bevorzugt hat?

Es ist zu leicht, hier allein die Politik verantwortlich zu machen. In einer Demokratie kommt diese ja aus der Mitte der Gesellschaft. Und dazu gehört jeder von uns – auch wenn er ökologisch verantwortliche Tierhaltung will und dennoch das billigste Fleisch aus dem Supermarkt kauft. Gerade weil bei jedem einzelnen eine Menge Verantwortung liegt, sehe ich hier auch die Familien und das Bildungssystem in der Pflicht: Denn diese familiären und auch schulischen Prägungen wirken sich letztlich auf jeden Politiker aus!

Der Untertitel Ihrer Publikation lautet: “Vom Sinn und der Seele des Kapitals”. Wie müssen wir uns die Seele des Kapitals vorstellen?

Geld ist eine phantastische Erfindung, um den Tausch von Dienstleistungen und Gütern zu vereinfachen. Kapital ist die geronnene Form von Geld und Vermögen. Weil Geld und Kapital Ausdruck der Symbolfähigkeit des Menschen sind, drücken sie immer auch Beziehungsgeschichten aus: Währungen haben einen Namen, Geld hat eine Geschichte. Kapital gibt es nicht ohne Menschen, die mit ihm umgehen – nach ihren eigenen Bedürfnissen, Ängsten, Zwängen, Lebensgeschichten. Daher gibt es kein “herrenloses“ Kapital – es geht immer auf Beziehungen zurück und ist in sie verstrickt. Diesen Beziehungscharakter des Kapitals meine ich mit dem bildlichen Ausdruck “Seele des Kapitals”.

Sie äußern in Ihrem Buch: “Wertrationale und nutzenrationale Interessen fallen trotz aller Widersprüche langfristig zusammen. Denn Sinn, Bedeutung und soziale Anerkennung sind wesentliche Treiber wirtschaftlicher Tätigkeit, die damit eben immer auch sozial determiniert ist!”

Wertrational geprägt sind Handlungen dann, wenn sie sich vorrangig an unseren Werten ausrichten. Nutzenrational dann, wenn der Nutzen im Vordergrund steht. Menschen wollen aber häufig beides: in Übereinstimmung mit ihren Wertvorstellungen handeln, aber auch den bestmöglichen Nutzen herausschlagen. Kurzfristig kann ich einem Mieter, der mit seinen Zahlungen in Verzug ist, „nutzenrational“ kündigen. Wenn dieser aber selbst nur in einer vorübergehenden Notlage ist, kann es viel besser sein, eine schwere Zeit gemeinsam zu überbrücken und “wertrationa” Solidarität zu üben. Zahlt der Mieter nach ein paar Monaten seine Mietschulden ab, dann konvergieren “nutzenrationale” und „wertrationale“ Gründe: Es entsteht kein finanzieller Verlust, und das Mietverhältnis entwickelt sich langfristig. Auch hier kommt die Beziehungsseite von Geld und Kapital zum Ausdruck: Wir wollen mit finanziell geprägten Transaktionen eben sehr häufig auch die soziale Anerkennung durch andere erreichen – sonst gäbe es beispielsweise bestimmte teure Luxusgüter wohl gar nicht.

Ist es in diesen Zeiten nicht eher umgekehrt, indem Wirtschaft sich immer mehr in die Lebensverhältnisse der Menschen drängt, vorschreiben will und das ist alles andere als sozial determiniert?

Das Wort “sozial” hat hier zwei Bedeutungen. Denn jemand, der reich werden will ohne Rücksicht auf Verluste, sucht nicht zuletzt die “soziale” Anerkennung durch andere, will dazugehören zum Club der Reichen und Erfolgreichen. Die zweite Wortbedeutung geht in die Richtung guter Lebensverhältnisse für alle. Sie zielt auf politische Gestaltung. Und diese Gestaltung ist häufig nur so gut, wie in der Politik eben auch wirtschaftlicher Sachverstand da ist. Denn nicht jede gut gemeinte Politik führt zu sinnvollen Lösungen: Genau solche Lösungen aber sind einzufordern und im politischen Ringen zu suchen!

Über Jahrzehnte haben wir in Deutschland die soziale Marktwirtschaft präferiert. Praktisch alle Gesellschaftsschichten konnten damit Chancengleichheit genießen und persönlichen Wohlstand erarbeiten. Bricht uns das bewährte Modell zunehmend weg und falls ja, lässt sich das wirklich immer mit zunehmenden Globalisierungsfaktoren begründen?

Die soziale Marktwirtschaft bietet grundsätzlich ein gutes Gleichgewicht zwischen der nötigen Gestaltungsfreiheit in Märkten und dem ebenso nötigen sozialen Ausgleich durch politisch vorgegebene Spielregeln. Die Erschütterung der Glaubwürdigkeit der sozialen Marktwirtschaft ist ein Anzeichen für einen Pendelschlag: Ja, da spielt die Globalisierung sehr wohl eine Rolle.

Mindestens genau so wichtig ist aber eine Besinnung auf die neuen Herausforderungen des 21.Jahrhunderts. Denn im 20.Jahrhundert haben wir letztlich einseitig auf Arbeitseffizienz gesetzt. Nun müssen wir verstärkt auf Ressourceneffizienz achten, also beispielsweise energiesparende Autos, Gebäudedämmung, kreislaufwirtschaftstaugliche Produkte. Gleichzeitig müssen wir die neue soziale Frage auch so nennen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Denn ein Übermaß an Ungleichheit schafft gesellschaftlichen Stress für alle Beteiligten! Gemeint ist letzten Endes die Neugestaltung einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft!

Wirtschaft soll die von einer Gesellschaft gewünschten Bedarfe decken. Stimmen die zur Aktualisierung dieses Anspruchs erforderlichen Rahmenbedingungen noch, wenn Ausgrenzungsprojekte wie etwa “Hartz IV”, Dumpinglöhne, Werkverträge und einiges mehr einen Teil der Bürger in die wirtschaftliche Aussichtslosigkeit drängen?

Ob es richtig ist, hier von Ausgrenzungsprojekten zu sprechen, das sehe ich kritisch. Ich bin viel gereist, auch in Afrika, Lateinamerika und den ärmeren Ländern Asiens. Aus diesem Blickwinkel ist unsere Sozialgesetzgebung sehr wohl und immer noch eine soziale Errungenschaft. Problematisch ist aber die bürokratische Ausgestaltung, die häufig ganz zu recht als menschenunwürdig empfunden wird. Wäre es da nicht sinnvoll, den Kommunen wieder stärkere Rechte zu geben? Denn dort sind die Verhältnisse vor Ort bekannt! Es gibt auch Länder, bei denen soziale Hilfen an die Erfüllung der Schulpflicht betroffener Kinder gebunden sind. – All dies rechtfertigt freilich keine Dumpinglöhne; hier sind gesetzgeberische Maßnahmen ja auf dem Weg.

In Ihrer Publikation präferieren Sie den Weg zu einem ganzheitlichen Kapitalbegriff „in Kombination mit der Anerkennung der Herausbildung einer globalen Zivilgesellschaft die Grundlage bieten für eine wahrhaft soziale Marktwirtschaft – auch im moralischen Sinne“. Mit welchen Weichenstellungen und Maßnahmen könnte dies gelingen?

Die Bedeutung der Zivilgesellschaft wird unterschätzt. Wir leben in einer Zeit mit Internet und zugänglicher Telekommunikation praktisch für alle. In den Slums von Kenia ist heute eine Ladestation für das Mobiltelefon wichtiger als Strom für die Beleuchtung der eigenen Hütte. Um dieses Beispiel aufzugreifen: Wenn wir als Verbraucher in Deutschland darauf achten, dass unser Mobiltelefon einen herausnehmbaren Akku hat, dann wirkt sich das unmittelbar auf die Wiederverwendung von Rohstoffen, auf die Gewinnung bestimmter Rohstoffe und damit auf die Lebenswirklichkeit von Menschen in weit entfernten Ländern aus.

Wir brauchen also mit anderen Worten Spielregeln für die globale Zivilgesellschaft, angefangen vom Verbraucherverhalten bis hin zu Vorgaben für das Verhalten von Unternehmen und Regierungen. Solche Vorgaben werden unter dem Begriff der Governance zusammengefasst. Transparenz und soziale Balance spielen hier eine besonders wichtige Rolle. Aufgabe des 21.Jahrhunderts wird es sein, eine solche Global Governance für die Zivilgesellschaft und die Unternehmen als ein Teil der globalen Zivilgesellschaft, aber speziell auch für die Regierungen durchzusetzen.

Sie schreiben auch “Die ursprüngliche kapitalistische Transformation ist der Tausch von Geld gegen Träume”. Träume rund um “die gelingende Gestaltung des sozialen Lebens” sollten nicht vorschnell aufgegeben werden. Wie lässt sich das realisieren, wenn jene, die aufgrund ihrer Position in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik an einer Umsetzung eines solche Anspruchs gar kein Interesse zeigen?

Wenn wir etwas kaufen, haben wir Erwartungen, die mit uns als Person zu tun haben. Letztlich geht es immer wieder um den Traum vom gelingenden Leben. Und Träume haben einen sozialen Kontext. Wer von 44 Ferraris träumt, darf sich fragen lassen, ob es nicht sinnvollere Träume geben mag. Das wirtschaftliche Geschehen kommt durch diesen Zusammenhang in das Feld der sozialen Gestaltung zurück. Und dies fängt an, Wirkung zu zeigen: Unternehmen sprechen – unterschiedlich glaubwürdig – wieder von “sozialer Verantwortung”.

Fragen der Nachhaltigkeit werden teilweise sogar stärker im Wirtschaftsleben als in der Politik aufgegriffen, auch weil die Politik immer wieder schnell auf das Stimmungsbarometer in der Bevölkerung schielt. Insoweit liegt es schon auch an uns, was in der Politik geschieht. Letztlich ist Politik ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn also die Gesellschaft den Anspruch auf eine menschlich gestaltete ökologische und soziale Marktwirtschaft formuliert, wird das mit einer gewissen Verzögerung auch zum Gegenstand politischen Handelns.

Wo sehen Sie unser Land wirtschaftsethisch in zwei- bis drei Jahrzehnten und woraus schöpfen Sie Ihre diesbezüglich positiven (oder ggf. auch negativen) Ausblicke?

Die Widersprüche werden uns nicht ausgehen, auch im Blick auf globale Herausforderungen etwa in China oder im Mittleren Osten. Ich erlebe aber in so vielen Bereichen eine ernsthafte Suche nach einem neuen Gleichgewicht, dass ich eher optimistisch bin. Rein wirtschaftlich wird sich in Deutschland der Fachkraftmangel als Treiber für eine Humanisierung der Arbeitswelt, aber auch für neue Zuwanderung auswirken. Die demographische Wende wird dadurch abgemildert. Der bevorstehende Klimawandel verstärkt die Nachfrage nach umweltfreundlichen technischen und sozialen Lösungen. Dass beide Hand in Hand gehen, das verstehen wir in Europa und in Deutschland besonders gut.

Cover: Patmos Verlag

Cover: Patmos Verlag

Die Wirtschaft ist für den Menschen da

Autor: Ulrich Hermel

Gebundene Ausgabe:192 Seiten
Verlag: Patmos Verlag; Auflage: 1 (27. August 2013)

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3843603448
ISBN-13: 978-3843603447

Preis: 19,99 Euro
 
*Vita Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel
Geboren 1956 in Bensheim, Abitur 1974 in Worms, Studium der Kath.Theologie, Philosophie, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Mainz und an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom (lic.rer.soc.), Promotion (1983, “summa cum laude”) und Habilitation (1988) in Regensburg, dort bis heute apl.Prof. für Religionspädagogik; anschließend Tätigkeiten als Unternehmensberater (The Boston Consulting Group), Manager (u.a. Vorstandsvorsitzender Paul Hartmann AG) und Unternehmer (Strategie und Wert GmbH, Rogg Verbandstoffe, Tacon Decor SL).
Seit 2001 Vorstandsvorsitzender “Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover”; 2009 Gründung Institut für Sozialstrategie (Berlin-Jena-Laichingen) mit dem Ziel “Impulse für die globale Zivilgesellschaft mit den Schwerpunkten Bildung, Ernergetische Nachhaltigkeit, Globale Ethik, Migration und Rechte von Minderheiten”. 2003/2004 “Manager des Jahres” BDU, 2005 “Wirtschaftsbuch des Jahres” der Financial Times Deutschland für “Wert und Werte- Ethik für Manager” (München 2005, 2.Aufl.2007).

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